Tages Anzeiger Online 22.10.2010
Ein «Grüzzi, grüzzi» verbitten wir uns
Von Sandro Benini
Denkt eigentlich bei der Mundartdebatte, die Peter von Matt kürzlich mit seinem im «Tages-Anzeiger» erschienenen Artikel provoziert hat, auch jemand an die tragische Situation der hierzulande lebenden Deutschen? Wie immer sie sich nämlich durch das Minenfeld von Dialekt und Hochsprache bewegen: Es ist fast unvermeidlich, dass es irgendwann knallt.
Schrotflinte mit Ladehemmung
Die erste und naheliegendste Strategie besteht für Deutsche darin, Schriftdeutsch zu verwenden und dies auch vom Schweizer Gesprächspartner zu erwarten. Das ist insofern schlecht, als sie ihn sprachlich in die Defensive drängen – ohne böse Absicht zwar, aber sie tun es. Denn was Schnelligkeit, Geschliffenheit und Wortgewandtheit betrifft, steht den Deutschen in einer Hochdeutsch geführten Diskussion eine Artillerie zur Verfügung, während die Mehrheit der Schweizer an einer Schrotflinte mit Ladehemmung hantiert.
Trotzdem behauptet von Matt, des Schweizers Muttersprache sei «Deutsch in zwei Gestalten», nämlich Dialekt und Hochdeutsch. Falls er recht hat, umso schlimmer. Wer mit einer Französin Französisch oder einem Italiener Italienisch redet, muss sich nicht dafür schämen, sprachlich am kürzeren Hebel zu sitzen. Aber eine Gestalt der eigenen Muttersprache zu sprechen und dann – wie einem in Deutschland tätigen Schweizer Journalisten einst geschehen – ausgelacht zu werden, weil man sagt: «Ich mache noch schnell ein Telefon» – das ist bitter. Kommt hinzu, dass die Deutschen den Akzent eines Hochdeutsch sprechenden Schweizers...
fast einhellig als gemütlich und putzig bezeichnen, also Adjektive verwenden, die eher zum Gebrabbel eines 3-jährigen Kindes passen.
«Sie dürfen Dialekt sprechen»
Als zweite Strategie können Deutsche darauf hinweisen, dass sie Dialekt zumindest verstehen und nichts dagegen haben, wenn ihn Einheimische im bilateralen Gespräch auch benutzen. Das ist etwas besser als Variante eins, aber immer noch schlecht. Denn zum einen verleiten sie damit die Schweizer, Mühen und Gefahren der Hochsprache zu umgehen und auch gegenüber jenen Deutschen Dialekt zu sprechen, die lieber Strategie eins anwenden – oder mangels passiver Schweizerdeutsch-Kenntnisse dazu gezwungen sind.
Jeden Deutschen oder Österreicher sofort und ausschliesslich mit Mundart zu behelligen, ist jedoch, wie von Matt richtigerweise schreibt, ungehobelt, bäurisch und stillos. Zum andern kann der Satz «Sie dürfen gerne Dialekt mit mir sprechen» herablassend wirken, besonders Schweizern gegenüber, die sich – in Einzelfällen gar zu Recht – etwas auf ihr gutes Hochdeutsch einbilden. Wie würde zum Beispiel von Matt auf ein solches Angebot reagieren? Allein schon die Germanistenehre geböte es ihm wohl, unbeirrt weiter das Schriftdeutsche zu verwenden, und vielleicht überkäme ihn sogar der Ehrgeiz, dem arroganten Preussen zu beweisen, dass man trotz krachender Gutturallaute und dunkler Vokale durchaus komplex formulierte, kluge Dinge von sich geben kann. Dabei hatte es der Deutsche doch nur gut gemeint.
Was für ein Akzent!
Die dritte den Deutschen zur Verfügung stehende Strategie besteht darin, es mit Mundart zu versuchen. Das ist ganz schlecht. Den Akzent eines Schweizerdeutsch sprechenden Italieners, Franzosen oder Engländers finden wir unsererseits putzig, und die von Secondos aus Ex-Jugoslawien geschaffene Schweizerdeutsch-Variante – das sogenannte Balkanesisch – geniesst sogar Kultstatus. Aber wehe, es kommt uns jemand mit «Grüzzi, grüzzi». Wie aufgesetzt, anbiedernd, doof! Dabei hat diese Wahrnehmung nichts mit dem Akzent als solchem zu tun, sondern einzig mit unserem . . . sagen wir mal: speziellen Verhältnis zum nördlichen Nachbarn.
So gelangen wir denn zum vernichtenden Fazit: Will es ein Deutscher den Schweizern zu hundert Prozent recht machen, kann er nur eines tun: konsequent den Mund halten. Ich würde mich an seiner Stelle hüten, weiter in einem solchen Land zu leben. (Tages-Anzeiger)
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