Tages Anzeiger Magazin
Larry und Sergey …
...wollen mit Google nur das beste für uns. Und das wird zum Problem.
15.01.2010 von Peter Haffner
Als Bill Gates 1998 gefragt wurde, was er am meisten fürchte, antwortete er nicht sogleich. Microsoft war auf dem Höhepunkt seiner Macht. Konkurrenten gab es, aber von ihnen drohte kaum Gefahr. «Ich fürchte jemanden, der in einer Garage etwas vollkommen Neues austüftelt», meinte er schliesslich.
Die Garage war in Menlo Park, im Silicon Valley. Drei Tische, drei Stühle, ein Kühlschrank, ein zusammengeklappter Pingpong-Tisch. Und ein Firmenschild: «Google Worldwide Headquarters».
Ken Auletta, der dem reichsten Mann der Welt die Frage stellte, legt mit «Googled» die umfassendste Geschichte des erstaunlichsten Unternehmens der IT-Industrie vor. Mit mehr als zwanzig Milliarden Dollar jährlich kassiert Google heute vierzig Prozent aller Online-Werbeeinnahmen. Das Geld erlaubt der Firma, eine Branche nach der anderen umzukrempeln — von Medien über Software bis zur Mobiltelefonie. Die «digitale Schweiz», wie Google sich selbst bezeichnet hat, ist längst eine Hypermacht und weit mehr als die neutrale Suchmaschine, als die sie begann.
Bereits wächst eine Generation heran, die nicht mehr weiss, wie man früher im Internet etwas suchte. «Googeln» ist synonym für suchen geworden, und man nimmt es als selbstverständlich, dass die Antwort in einer halben Sekunde da ist. Tippte man bei Yahoo oder Altavista etwa «Universität» ein, kam jedes Dokument, in dem das Stichwort vorkommt. Google dagegen....
Tages Anzeiger Magazin
Larry und Sergey …
...wollen mit Google nur das beste für uns. Und das wird zum Problem.
15.01.2010 von Peter Haffner
Als Bill Gates 1998 gefragt wurde, was er am meisten fürchte, antwortete er nicht sogleich. Microsoft war auf dem Höhepunkt seiner Macht. Konkurrenten gab es, aber von ihnen drohte kaum Gefahr. «Ich fürchte jemanden, der in einer Garage etwas vollkommen Neues austüftelt», meinte er schliesslich.
Die Garage war in Menlo Park, im Silicon Valley. Drei Tische, drei Stühle, ein Kühlschrank, ein zusammengeklappter Pingpong-Tisch. Und ein Firmenschild: «Google Worldwide Headquarters».
Ken Auletta, der dem reichsten Mann der Welt die Frage stellte, legt mit «Googled» die umfassendste Geschichte des erstaunlichsten Unternehmens der IT-Industrie vor. Mit mehr als zwanzig Milliarden Dollar jährlich kassiert Google heute vierzig Prozent aller Online-Werbeeinnahmen. Das Geld erlaubt der Firma, eine Branche nach der anderen umzukrempeln — von Medien über Software bis zur Mobiltelefonie. Die «digitale Schweiz», wie Google sich selbst bezeichnet hat, ist längst eine Hypermacht und weit mehr als die neutrale Suchmaschine, als die sie begann.
Bereits wächst eine Generation heran, die nicht mehr weiss, wie man früher im Internet etwas suchte. «Googeln» ist synonym für suchen geworden, und man nimmt es als selbstverständlich, dass die Antwort in einer halben Sekunde da ist. Tippte man bei Yahoo oder Altavista etwa «Universität» ein, kam jedes Dokument, in dem das Stichwort vorkommt. Google dagegen gewichtet und bringt als Erstes die Webseiten von Universitäten. Die Idee, die Relevanz von Links nach ihrer Beliebtheit und Verlässlichkeit zu bestimmen, revolutionierte die Benutzung des Internets. Googles Algorithmus ist ein Renner wie das Geheimrezept von Coca-Cola; wie das Getränk auf deren Geschmack, gründet sein Erfolg auf der «Weisheit» der Massen.
Google war das Produkt idealistischer Perfektionisten. Während herkömmliche Suchmaschinen daran interessiert waren, die Benutzer auf ihrer Webseite zu halten, um teure Anzeigen verkaufen zu können, wollten Larry Page und Sergey Brin sie möglichst rasch ans Ziel ihrer Suche bringen: Kundendienst statt Konsumentenfalle.
Es sah nicht aus, als ob man mit solcher Gratisleistung Geld verdienen könnte. Die Google-Gründer waren keine Business-School-Absolventen. Beide hatten sie als Kinder eine Montessori-Schule besucht, die ihre Art zu denken mehr geprägt hat als die Eliteuniversität Stanford, an der sie sich kennenlernten. Die Reformpädagogik der im 19. Jahrhundert geborenen italienischen Ärztin Maria Montessori gründet auf dem Gedanken, dass Kinder Individuen sind, die nicht von der Schule geformt, sondern sich in der Auseinandersetzung mit einer anregenden Umwelt ungehemmt entfalten können sollten. Statt sturer Paukerei selbstständiges Denken und Handeln.
Ein unzertrennliches Duo
Worin Brin und Page sich denn auch hervortaten, wie sich einer ihrer Professoren in Stanford erinnert. Sie hätten, sagt er, «nicht diesen falschen Respekt vor Autorität gehabt» und ihn so weit herausgefordert, dass sie ihm auch schon beschieden, «er sei voll von Scheisse». Die beiden huldigen einem reflexartigen Glauben, dass der Status quo, wie immer er auch ist, falsch ist, und dass es eine bessere Lösung geben muss. Bescheidenheit ist nicht ihre Tugend. «Wenn wir uns über etwas einig und alle anderen mit uns uneins sind», sagt Larry Page, «nehmen wir an, dass wir recht haben.»
Ist Apple die Geschichte eines aussergewöhnlichen Unternehmers, wie es ihn nicht in jeder Generation gibt, so ist Google die Geschichte eines vom Zufall zusammengeführten Duos, das sich gegenseitig bestätigt und zu aussergewöhnlichen Leistungen antreibt. Was Lennon/McCartney und Jagger/Richards in der Rockmusik, sind Brin/Page in ihrer Branche. Die Parallelen der Biografien sind verblüffend. Beide sind im selben Jahr, 1973, geboren; Söhne von Akademikerpaaren, die in Mathematik, Computerwissenschaft und Künstlicher Intelligenz glänzten. Die Atmosphäre der Elternhäuser, dem amerikanischen von Larry Page und dem russischen von Sergey Brin, war geprägt von Diskussionen wissenschaftlicher Probleme und dem Drang nach der Entdeckung intellektuellen Neulandes. Im Fall von Brin galt dies auch politisch; seinem Vater war als Jude in der Sowjetunion das Studium der Astrophysik verwehrt, sodass er mit der Familie in die USA emigrierte, als Sergey sechs Jahre alt war.
In Stanford, wo sie Computerwissenschaft studierten, wurden sie rasch so unzertrennlich, dass man sie in einem Atemzug nannte. Ihre Weltsicht, nichts für gegeben zu nehmen, einte sie, während die Unterschiedlichkeit ihrer Charaktere es verhinderte, dass sie sich gegenseitig den Rang streitig machten. Dem extrovertierten, lauten und witzigen Sergey suchte der in sich gekehrte, wortkarge und oft zu Boden blickende Larry gar nicht erst die Schau zu stehlen. Eric Schmidt, den sie nach langem Zögern, ob ihre Firma überhaupt einen Manager benötige, als CEO wählten, sah sich in der Rolle des «erwachsenen Aufsehers», der dafür sorgen musste, dass Google nicht nur kühne Ideen verwirklicht, sondern auch Umsatz macht.
Der Geist von Google
Hätte Schmidt nicht selber in Computerwissenschaft doktoriert, hätten die beiden ihn nicht akzeptiert. Ingenieure sind es, die den Geist von Google prägen, und will man die Firma verstehen, muss man die Welt sehen, wie sie ein Ingenieur sieht. In der Verfolgung seines Zieles einer digitalen Utopie ist Google so leidenschaftlich wie es naiv ist in der Ignorierung aller Hindernisse nicht technischer Natur. Nicht der Profit, sondern der Nutzen steht im Vordergrund, und dass dieser Nutzen anderen — den klassischen Medien beispielsweise — Profite abgräbt, ist ein zu vernachlässigender Kollateralschaden. Sämtliche Zeitungen, Zeitschriften, Bücher, Filme und Fernsehprogramme auf dem Computerbildschirm zu haben und kostenlos konsumieren zu können, ist doch gut für die Konsumenten. Und Google will noch mehr: Nicht nur die Medien der Welt, sondern die Welt überhaupt soll gespiegelt werden — ein Schritt von der Vermessung der Erde, wie sie mit der Kartografie begann, zu ihrer Abbildung im Cyberspace. «Ist das Problem der Suche gelöst, kann man jede Frage stellen», sagte Page einmal. «Was bedeutet, dass man grundsätzlich alles machen kann.»
Innovation ist der Feind etablierter Branchen. Neu ist die Geschwindigkeit, mit der die Umwälzungen vonstatten gehen. Das Telefon brauchte siebzig Jahre, bis es in der Hälfte der Haushalte der USA seinen Platz hatte. Das Internet benötigte dazu nur zehn Jahre. Und Facebook schuf gar in fünf Jahren ein globales Netzwerk von zweihundert Millionen Mitgliedern.
Die Firmenkultur von Google, wie sie etwa David Vise und Mark Malseed in ihrem Buch «The Google Story» beschrieben haben, täuscht darüber hinweg, dass auch hier Ingenieure den Ton angeben, die nicht aus dem Bauch handeln, sondern kühl kalkulieren. Die Cafeterias und Lounges, die Pool-Tische, Fitnessstudios und Massagezimmer dienen der Effizienz wie der Kinder- und Hundehütedienst, die Coiffeure, Ärzte und Zahnärzte, deren Leistungen gratis sind. Selbst für die chemische Reinigung, die Autowäsche oder einen Ölwechsel muss ein Angestellter den Googleplex im kalifornischen Mountain View nicht verlassen. Larry Page und Sergey Brin haben ein De-luxe-Modell des Stanford Campus geschaffen: Wer bei Google arbeitet, soll sich in die Sache vergraben können wie ein Student in sein Forschungsprojekt, ohne lästigen Zeitverlust.
Page und Brin sind bekannt dafür, rasch zur Sache zu kommen, in Gesprächen wie in Verhandlungen. Die Schnelligkeit, mit der man ans Ziel gelangt, war das oberste Kriterium ihrer Suchmaschine, und in ihrem Leben bleibt denn auch keine Musse für die Lektüre von Romanen, für Kino- und Konzertbesuche oder langwierige Sportarten wie Golf. Larry Page hat der 130-köpfigen PR-Abteilung seiner Firma im Jahr 2008 ganze acht Stunden zugestanden für Pressekonferenzen, Interviews und Reden.
Im Modell Google paart sich der Taylorismus — die wissenschaftliche Arbeitsorganisation zwecks Erzielung maximaler Leistung — mit den Erkenntnissen der Kreativitätsforschung. Jeder Angestellte darf einen Tag in der Woche in ein Projekt investieren, das ihn persönlich reizt. Auch dies ist ein Privileg, das die Produktivität und damit den Profit maximiert — so sind beispielsweise die «Google News» entstanden, eine Schöpfung des Inders Krishna Bharat, der den auf eine Binnenperspektive beschränkten Amerikanern den Horizont erweitern wollte mit Berichten über Völker, Kulturen und Religionen aus allen Ecken des Planeten. Bei den Printmedien ist dieser Pressedienst so beliebt wie Robin Hood es bei den Reichen war.
Wer bei Google arbeitet, ist auserwählt. Es ist leichter, nach Harvard zu kommen; von einer Million Bewerbern jährlich schaffen es nur ein Prozent in die Firma, während es bei Harvard sieben Prozent sind. Das Anstellungsritual täuscht darüber hinweg, dass Messbares wie Noten und Abschlüsse von Elitebildungsstätten mehr zählen als der legendäre «Flugzeug-Test» — die Frage, wie man sich mit dem Neuling fühlen würde, müsste man über Stunden neben ihm im Flugzeug sitzen. Erfahrung dagegen gilt wenig; die beiden Montessori-Schüler sind überzeugt, dass sie kreatives Denken hemmt. Die erste Rechtsanwältin, die von den Firmengründern widerwillig angestellt wurde, erhielt von Brin die Testaufgabe, für ihn einen Vertrag mit dem Teufel zum Verkauf seiner Seele aufzusetzen. Er wusste, dass sie so etwas noch nie gemacht hatte.
Von der Opposition zur Macht
Google gleicht denn auch mehr einer revolutionären Bewegung als einer Firma. Geführt von technologischen Missionaren, ist sie auf Weltverbesserung aus; ein Informationsparadies, das den Planeten zum gläsernen Globus macht. Mit Mitteln wie «Google Street View», das eigentlich nur ein detaillierterer, dreidimensionaler Stadtplan und damit ein Fortschritt in der fortlaufenden Vermessung der Welt ist. Noch ist dieser Blick auf oder ins Wohnzimmerfenster ungewohnt, wenn nicht unerwünscht. Was sie antreibe, sagt Sergey Brin, sei eine «Mischung aus gesundem Menschenverstand und der Infragestellung althergebrachter Sitten».
Das Internet umfasst heute über 25 Milliarden Webseiten. Alle vier Stunden indexiert Google das Äquivalent der Library of Congress, der mit sieben Millionen Büchern grössten Bibliothek der Welt. 2004 ging die Firma an die Börse, mit Einkünften von 3,2 Milliarden Dollar und einem Gewinn von 399 Millionen. Larry Page und Sergey Brin waren 31 Jahre alt. Als der Aktienkurs an jenem Tag auf ungeahnte Höhen kletterte und über neunhundert frühe Google-Angestellte auf einen Schlag Millionäre wurden, war Larry nicht der Einzige, der als Erstes seine Mutter anrief, ihr das freudige Ereignis mitzuteilen.
Selbst im Rezessionsjahr 2008 machte die Firma 4,2 Milliarden Dollar Gewinn. Es liegt in der Natur des Reichtums, dass er die Kauflust weckt. Als Google 2006 für 1,65 Milliarden Dollar Youtube kaufte, war der letzte Beweis erbracht, dass die Firma sich aneignen konnte, was sie wollte — sie war dreimal so viel wert wie das grösste Medienunternehmen.
Und sie war, obschon sie es leugnete, nun selber im Mediengeschäft. Zu «Goodies» wie Google Earth, Google Maps und Gmail kamen Dienste wie Google News und Google Books — Domänen traditioneller Branchen, die in eine Krise schlitterten, deren Ende nicht absehbar ist. Während Google profitiert, ist es der Presse nicht gelungen, die Konsumenten zur Kasse zu bitten, wie das Steve Jobs mit iTunes glückte, das der Musikpiraterie die Luft nahm.
«Don’t be evil»
Es war Larry Page, der an seinen «freien» Google-Tagen einen Prototyp des Buchscanners bastelte, dank dem Google zur Alexandrinischen Bibliothek des 21. Jahrhunderts werden sollte. Nach der Library of Congress machten weitere Bibliotheken ihre Bücher online zugänglich. Fragen des Copyrights interessierten nicht. «Wenn wir uns darum gekümmert hätten», sagt Sergey Brin, «hätten wir dieses Projekt wohl nicht gestartet.» Klagen von Verlegern und Autoren folgten; zwei Drittel der weltweit insgesamt zwanzig Millionen Bücher stehen unter Copyright-Schutz.
Was Technik zuwege bringt, ist nicht rückgängig zu machen. Wie die Möglichkeiten der modernen Medizin die Ethik vor neue Fragen stellen, so der Cyberspace das Recht. Derzeit verdient Google Geld mit dem, wofür andere Geld ausgeben. Die Debatte ist im Gang, die Gerichtsverfahren sind es auch.
Die vielleicht folgenreichste Revolution, die Google eingeleitet hat, ist die für den Konsumenten am wenigsten sichtbare, die Online-Werbung. Page und Brin, die Anzeigen generell abgeneigt waren, wollten diese, wenn schon, klein und informativ. Als schlichte Textwerbung werden die Dreizeiler automatisch dem Inhalt der Suchanfrage angepasst, und der Werbekunde bezahlt nur, wenn darauf geklickt wird. So können sich auch Kleinfirmen Anzeigen leisten. Damit ist es Google gelungen, die Bedürfnisse des Benutzers mit denen der Werbung in Einklang zu bringen. Wie beim Suchsystem bestimmt ein Algorithmus die Platzierung der Anzeigen nach der Häufigkeit, mit der sie aufgerufen werden. Es ist die Geldmaschine von Google, die füttert, wer im Internet surft.
Das Google-Imperium wird nicht von irgendwelchen Dunkelmännern, sondern von uns allen errichtet. Jede Suche vergrössert die Datenbank des Unternehmens, das mit jedem Klick uns näher kennenlernt, um uns besser dienen zu können. Obzwar übermächtig wie Microsoft, ist Google, weil gratis und gut, nicht verhasst. Die Firma zu bezichtigen, sie strebe nach der Weltherrschaft, ist lächerlich. Google gibt uns mehr Mittel denn je in die Hand, jeden Erdenwinkel vom heimischen Sessel aus unter die Lupe zu nehmen. Und mit «Google Goggles» wird es gar möglich, mit dem Smartphone Fotos von unbekannten Lokalitäten zu schiessen, um via Google herauszufinden, worum es sich handelt. Was ist das anderes als ein neue Generation von Reiseführer?
Bezeichnenderweise wurden kritische Stimmen erst laut, als mit dem Börsengang zutage trat, wie viel Geld die Firma scheffelt. Ob das neue «Reich des Bösen», «Googzilla» oder bloss ein «Frenemy» — eine Mischung zwischen Freund und Feind —, beim Publikum steht Google mit seinem inoffziellen Motto «Don’t be evil» noch immer hoch im Kurs. Die Kritik am Entscheid, China zu erlauben, das Suchsystem mit einer Zensur zu verbinden, hat den Sohn eines Diktaturopfers Sergey Brin zwar gewurmt, verklang aber bald. Und die Tatsache, dass Google mit jedem Mausklick das digitale Profil unserer Person vervollkommnet, sorgt ausser in Deutschland kaum für grosse Unruhe. Fragen der Verletzung der Privatsphäre hat Google stets abgetan — bis dann, als eine Journalistin den CEO Eric Schmidt googelte und die Informationen über sein Heim, seine Adresse, sein Vermögen, seine politischen Spenden und Persönliches publizierte. Schmidt reagierte mit einer einjährigen Informationssperre für CNET News, die Webseite, für welche die Journalistin arbeitete.
«Wenn Google beschliesst, die Nutzung privater Informationen sei zu seinem Besten, kann und wird es dies tun», schrieb John Battelle in seinem Buch «The Search». Dank Larry Pages und Sergey Brins Attitüde des «Wir wissen es besser» haben wir das beste Suchsystem, das je entwickelt wurde, und einige Zutaten obendrauf. Die Unvoreingenommenheit der beiden, gepaart mit Arroganz, hat das Internet zu dem gemacht, was es heute ist. Kritik daran ist nicht immer redlich: Sie schlägt Google, und meint das Netz.
Doch wie jeder revolutionären Bewegung droht auch Google auf dem Marsch von der Opposition zur Macht die Korruption der Ideale, die an seiner Wiege standen. Der Weg zur Hölle, heisst es, sei mit guten Vorsätzen gepflastert. Google bewertet am höchsten, was am populärsten ist. Wäre das immer so gewesen, wäre die Menschheit kulturell kaum vorangekommen. Noch wissen wir nicht, ob das, was Google geschaffen hat, die Opfer wert sind, die es fordert. Gewiss ist nur, dass das beste Suchsystem der Welt obsolet wird, wenn es niemanden mehr gibt, der die Mittel hat, Inhalte zu schaffen, welche die Suche danach auch wert sind.
Literatur:
Ken Auletta, «Googled», 2009
John Battelle, «The Search: How Google and Its Rivals Rewrote the Rules of Business and Transformed Our Culture», 2006
David A. Vise, Mark Malseed, «The Google Story: Inside the Hottest Business, Media, and Technology Success of Our Time», 2005
Peter Haffner ist redaktioneller Mitarbeiter des «Magazins». Er lebt in Kalifornien.
Artikel,Gedanken, Ideen, Links und Kommentare plus etwas Musik sowie ab und an etwas zum Schmunzeln, aber mit einer politischen bzw. geo-politischen Tendenz. Deutsch und Englisch. Kommentare und Artikel von Lesern sind willkommen!
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Samstag, Januar 16, 2010
Donnerstag, Januar 14, 2010
Nackt sind wir doch schon
NZZ Online
9. Januar 2010
Nackt sind wir doch schon
Der Mensch unterm Scanner – und seine Daten vernetzt
Gefahren nicht erst bekämpfen, wenn sie akut werden, sondern vorausschauend abwenden – darin liegt ein menschliches Streben. Doch die Risikovorsorge, dieser grosse Zug der Moderne, steckt voller Ambivalenz, verspricht Schutz und verlangt Entblössung.
Joachim Güntner
Die Wahrheit ist nackt, die Unschuld ebenfalls, aber die Heimtücke muss sich verhüllen. Mit dem Dolch «im Gewande» lässt Schiller seinen auf Tyrannenmord erpichten Helden Damon zu Dionys schleichen. So dumm, die Waffe in der blanken Faust zu tragen, ist kein Attentäter. Desto schwerer lässt er sich identifizieren. Schiller behandelt diesen Umstand eher nonchalant; sein Damon geht den Wachen sogleich ins Netz, wird offenbar einer Leibesvisitation unterzogen («Was wolltest du mit dem Dolche? Sprich!») und gefesselt. In schöner Beiläufigkeit bezeichnet des Dichters Rede von der Kleidung als Waffenversteck jenes Grundproblem, dessen technologischer Bewältigung wir heute Ganzkörper-Scanner bei Sicherheitskontrollen auf Flughäfen verdanken. Seit eh und je gilt: Wie zur bösen Absicht das....
NZZ Online
9. Januar 2010
Nackt sind wir doch schon
Der Mensch unterm Scanner – und seine Daten vernetzt
Gefahren nicht erst bekämpfen, wenn sie akut werden, sondern vorausschauend abwenden – darin liegt ein menschliches Streben. Doch die Risikovorsorge, dieser grosse Zug der Moderne, steckt voller Ambivalenz, verspricht Schutz und verlangt Entblössung.
Joachim Güntner
Die Wahrheit ist nackt, die Unschuld ebenfalls, aber die Heimtücke muss sich verhüllen. Mit dem Dolch «im Gewande» lässt Schiller seinen auf Tyrannenmord erpichten Helden Damon zu Dionys schleichen. So dumm, die Waffe in der blanken Faust zu tragen, ist kein Attentäter. Desto schwerer lässt er sich identifizieren. Schiller behandelt diesen Umstand eher nonchalant; sein Damon geht den Wachen sogleich ins Netz, wird offenbar einer Leibesvisitation unterzogen («Was wolltest du mit dem Dolche? Sprich!») und gefesselt. In schöner Beiläufigkeit bezeichnet des Dichters Rede von der Kleidung als Waffenversteck jenes Grundproblem, dessen technologischer Bewältigung wir heute Ganzkörper-Scanner bei Sicherheitskontrollen auf Flughäfen verdanken. Seit eh und je gilt: Wie zur bösen Absicht das Verbergen gehört, so zur Prävention des Verbrechens das Aufdecken.
Der Zug zur Risikovorsorge
«Enthüllen» hat, über die buchstäbliche Bedeutung des Wortes hinaus, längst den Doppelsinn von Entdecken und Entblössen angenommen. Diese investigative Metaphorik erhält derzeit durch das Reizwort «Nackt-Scanner» eine drastische Kontur. Drastisch, weil damit die Vorstellung einhergeht, dass Menschen, und sei es auch nur auf dem Bildschirm, in Sicherheitskontrollen die Hüllen fallen lassen müssen. Wären alle Fluggäste nackt, so verlören auch die unter ihnen weilenden Wölfe ihre Schafspelze und liessen sich neutralisieren – das mag als Grundidee plausibel scheinen, führt aber zu einer anstössigen Praxis.
Was genau ein Ganzkörper-Scanner im Einsatz zeigen kann und darf, lassen die divergierenden Auskünfte der Behörden vorerst im Ungefähren. In Deutschland suchen die Befürworter dieser Technologie das Publikum mit der Angabe zu beruhigen, der Intimbereich der kontrollierten Person werde extra unscharf dargestellt. Körperliche Details seien nicht zu erkennen, verdächtige Dinge würden gleichwohl signalisiert. In England hingegen hat, wie der «Guardian» berichtet, die Qualität der Aufnahmen dazu geführt, dass Aktivisten der «Action for Rights of Children» das Scannen mit Kinderschändung in Verbindung bringen. Sie machten geltend: Sollten bei der Kontrolle der Reisenden indezente Bilder von Minderjährigen entstehen, so werde eines der englischen Gesetze gegen Kinderpornografie verletzt. Der Flughafen von Manchester hat es daraufhin Eltern freigestellt, ob sie es gestatten, dass man von ihren Kindern Body-Scans nimmt oder nicht.
Durch solche Nachrichten bekommt die Diskussion skurrile Züge, jedoch sollte man die ernsten Aspekte nicht leichtfertig übergehen. Die Verletzung der individuellen Freiheitsrechte durch die Scanner, der Übergriff in die Intimsphäre, ist evident. Selbst wenn die Geräte, anders als in Manchester, keinen detaillierten Blick auf Genitalien erlauben, wird die Kontrolle notwendig zum Voyeurismus. Ob Prothesen aller Art, künstliche Darmausgänge, Herzschrittmacher, Inkontinenz-Windeln, delikate Implantate oder einfach nur Intimschmuck – es bleiben der Apparatur genug Dinge zu melden übrig, die der Fluggast lieber für sich behalten möchte, und zwar mit Recht. Wenn daher der deutsche Bundesinnenminister die Zuversicht äussert, dass eine ausgereifte Scanner-Technologie sehr wohl die Persönlichkeitsrechte zu wahren vermöge, dann nährt er bloss die alte Illusion, es sei möglich, den Pelz zu waschen, ohne ihn nass zu machen.
Als Beispiel für den klassischen Konflikt zwischen Freiheits- und Sicherheitsinteressen sind die «Nackt-Scanner» in den letzten Tagen hinreichend oft Gegenstand politischer Betrachtung gewesen; wir müssen das an dieser Stelle nicht fortführen. Umfragen ebenso wie Zeitungskommentare zeigen ein Übergewicht der Ablehnung von Körper-Scannern. Doch Lippenbekenntnisse zugunsten der Freiheit fallen leicht; wofür sich hingegen der Angsthase in uns in der Praxis entscheidet, steht dahin. Man probiere einmal folgendes Gedankenspiel: Im Angebot seien zwei Fernflüge von Zürich nach New York, der eine mit laxen, der andere mit hochgerüsteten Sicherheitskontrollen. Welche Maschine wird man selber wählen? Wo wird wohl die Mehrheit der Passagiere einsteigen? Deckt sich ihre Entscheidung mit den bei Umfragen abgegebenen Voten? Zweifel sind angebracht. Und wie standhaft bleibt die liberale Ablehnung der intimen Durchleuchtung, wenn es neue Nachrichten von Anschlagsversuchen gibt?
Ilija Trojanow, emsiger Kritiker des «Sicherheitswahns», hat gegen die jüngsten Erregungen das Faktum aufgeboten, dass «es seit den Anschlägen vom 11. September 2001 weltweit keinen einzigen Anschlag auf ein Passagierflugzeug gegeben hat und nur drei Anschläge verhindert werden mussten: 2001 der Reid, 2006 in London der Versuch, Flüssigsprengstoff in mehrere Flugzeuge zu schmuggeln, sowie der jüngste Fall» vom ersten Weihnachtsfeiertag. Jedoch sieht es kaum danach aus, als könnte die nüchterne Sprache der Statistik den fortgesetzten Ausbau der Sicherheitstechnologien bremsen.
Sozialphilosophisch ist der Trend nicht schwer zu verstehen. Der Mensch als das mit Zeitbewusstsein begabte Tier, das vorausschaut, war immer schon in hohem Masse gespannt zwischen Sein und Sorge. Gibt man ihm die entsprechenden Mittel an die Hand, so wird er sie auch nutzen, um die Zukunft im Vorgriff zu bewältigen. Not und Gefahr wird er nicht erst im akuten Fall bekämpfen, sondern bereits die Möglichkeit ihres Entstehens verhindern wollen. So ist die Geschichte der technischen Zivilisation zugleich eine Geschichte der veränderten Staatsaufgaben. Die Gefahrenabwehr hat sich zur Risikovorsorge erweitert. Dass die dabei zum Einsatz kommenden Technologien Folgen und Nebenfolgen haben, die ihrerseits Risiken bergen, hat sich herumgesprochen.
Wo liegt, um beim Thema zu bleiben, das politische Risiko des «Nackt-Scanners»? Die Kränkung seiner Scham und Souveränität, die der bis auf die Haut inspizierte Reisende erfährt, ist das eine. Sie ist schwerwiegend, und sie wird auch nicht dadurch aus der Welt geschafft, dass man den Vorgang automatisiert und den Blicken Neugieriger entzieht. Als «Risiko» aber wäre der Souveränitätsverlust falsch bezeichnet; denn er ist ein Preis, den der Fluggast an Ort und Stelle entrichtet. Das Risiko liegt in dem, was anschliessend geschieht. Werden die Bilder und die beim Scannen erhobenen Daten archiviert? Erhalten so private Sicherheitsfirmen oder auch staatliche Dienste Zugriff zum Beispiel auf Informationen über körperliche Einschränkungen des Betreffenden? Rechtsstaatlich geboten wäre die umgehende Vernichtung der Daten. So hat – in einer freilich nur entfernt vergleichbaren Sachlage – das deutsche Verfassungsgericht die automatisierte Erfassung von Autokennzeichen gebilligt, diese aber an Bedingungen geknüpft, darunter auch die, dass das Kennzeichen «ohne weitere Auswertung sofort und spurenlos gelöscht wird». Leider belehrt die Erfahrung darüber, dass die in Karlsruhe gesetzten Normen nicht immer und überall konsequent umgesetzt werden.
Ambivalenz des Steckbriefs
Von einem «Denken in der Logik des Steckbriefs» sprach der konservative Kultursoziologe Hans Freyer, als er sich vor nun bald fünfzig Jahren Gedanken über bürokratische Verwaltung in der Industriegesellschaft machte: «Nur dass der Steckbrief nicht dazu dient, jemand zu fangen, sondern ihn dingfest zu machen.» Heute betreiben dieses Geschäft nicht mehr bloss die staatlichen Bürokratien, sondern desgleichen die Wirtschaftsunternehmen, wenn sie in grossem Stil Kundendaten sammeln. Was unsere Neigungen und Interessen, Leiden und Bedürfnisse angeht, sind wir längst nackt, und mit den Körper-Scannern auf den Flughäfen nimmt diese informationelle Blösse bloss noch eine Wendung ins Anschauliche.
Und sind nicht wir alle, bis in die Freizeitvergnügen hinein, daran beteiligt, die Welt in Steckbriefen zu erfassen? Man denke nur an einen der neusten Dienste des Internet-Giganten Google, der nicht allein Landkarten und Satellitenbilder sowie Fotos von Strassenzügen und Häusern im Netz präsentiert und uns erlaubt, noch die entfernteste Lokalität auf den Bildschirm vor unserer Nase zu zoomen. Sondern der es überdies – unter dem Titel «Google goggles» – möglich macht, dass wir als Reisende an unbekanntem Ort mit dem Smartphone eine Foto der Umgebung schiessen, sie Google senden und sodann erfahren, welches Objekt da zu sehen ist. Wie komfortabel. Aber das ist ja die Tücke, die Ambivalenz der umfassend gescannten Welt: Ihre und unsere Nacktheit ist ebenso sehr Bedrohung wie Verlockung.
9. Januar 2010
Nackt sind wir doch schon
Der Mensch unterm Scanner – und seine Daten vernetzt
Gefahren nicht erst bekämpfen, wenn sie akut werden, sondern vorausschauend abwenden – darin liegt ein menschliches Streben. Doch die Risikovorsorge, dieser grosse Zug der Moderne, steckt voller Ambivalenz, verspricht Schutz und verlangt Entblössung.
Joachim Güntner
Die Wahrheit ist nackt, die Unschuld ebenfalls, aber die Heimtücke muss sich verhüllen. Mit dem Dolch «im Gewande» lässt Schiller seinen auf Tyrannenmord erpichten Helden Damon zu Dionys schleichen. So dumm, die Waffe in der blanken Faust zu tragen, ist kein Attentäter. Desto schwerer lässt er sich identifizieren. Schiller behandelt diesen Umstand eher nonchalant; sein Damon geht den Wachen sogleich ins Netz, wird offenbar einer Leibesvisitation unterzogen («Was wolltest du mit dem Dolche? Sprich!») und gefesselt. In schöner Beiläufigkeit bezeichnet des Dichters Rede von der Kleidung als Waffenversteck jenes Grundproblem, dessen technologischer Bewältigung wir heute Ganzkörper-Scanner bei Sicherheitskontrollen auf Flughäfen verdanken. Seit eh und je gilt: Wie zur bösen Absicht das....
NZZ Online
9. Januar 2010
Nackt sind wir doch schon
Der Mensch unterm Scanner – und seine Daten vernetzt
Gefahren nicht erst bekämpfen, wenn sie akut werden, sondern vorausschauend abwenden – darin liegt ein menschliches Streben. Doch die Risikovorsorge, dieser grosse Zug der Moderne, steckt voller Ambivalenz, verspricht Schutz und verlangt Entblössung.
Joachim Güntner
Die Wahrheit ist nackt, die Unschuld ebenfalls, aber die Heimtücke muss sich verhüllen. Mit dem Dolch «im Gewande» lässt Schiller seinen auf Tyrannenmord erpichten Helden Damon zu Dionys schleichen. So dumm, die Waffe in der blanken Faust zu tragen, ist kein Attentäter. Desto schwerer lässt er sich identifizieren. Schiller behandelt diesen Umstand eher nonchalant; sein Damon geht den Wachen sogleich ins Netz, wird offenbar einer Leibesvisitation unterzogen («Was wolltest du mit dem Dolche? Sprich!») und gefesselt. In schöner Beiläufigkeit bezeichnet des Dichters Rede von der Kleidung als Waffenversteck jenes Grundproblem, dessen technologischer Bewältigung wir heute Ganzkörper-Scanner bei Sicherheitskontrollen auf Flughäfen verdanken. Seit eh und je gilt: Wie zur bösen Absicht das Verbergen gehört, so zur Prävention des Verbrechens das Aufdecken.
Der Zug zur Risikovorsorge
«Enthüllen» hat, über die buchstäbliche Bedeutung des Wortes hinaus, längst den Doppelsinn von Entdecken und Entblössen angenommen. Diese investigative Metaphorik erhält derzeit durch das Reizwort «Nackt-Scanner» eine drastische Kontur. Drastisch, weil damit die Vorstellung einhergeht, dass Menschen, und sei es auch nur auf dem Bildschirm, in Sicherheitskontrollen die Hüllen fallen lassen müssen. Wären alle Fluggäste nackt, so verlören auch die unter ihnen weilenden Wölfe ihre Schafspelze und liessen sich neutralisieren – das mag als Grundidee plausibel scheinen, führt aber zu einer anstössigen Praxis.
Was genau ein Ganzkörper-Scanner im Einsatz zeigen kann und darf, lassen die divergierenden Auskünfte der Behörden vorerst im Ungefähren. In Deutschland suchen die Befürworter dieser Technologie das Publikum mit der Angabe zu beruhigen, der Intimbereich der kontrollierten Person werde extra unscharf dargestellt. Körperliche Details seien nicht zu erkennen, verdächtige Dinge würden gleichwohl signalisiert. In England hingegen hat, wie der «Guardian» berichtet, die Qualität der Aufnahmen dazu geführt, dass Aktivisten der «Action for Rights of Children» das Scannen mit Kinderschändung in Verbindung bringen. Sie machten geltend: Sollten bei der Kontrolle der Reisenden indezente Bilder von Minderjährigen entstehen, so werde eines der englischen Gesetze gegen Kinderpornografie verletzt. Der Flughafen von Manchester hat es daraufhin Eltern freigestellt, ob sie es gestatten, dass man von ihren Kindern Body-Scans nimmt oder nicht.
Durch solche Nachrichten bekommt die Diskussion skurrile Züge, jedoch sollte man die ernsten Aspekte nicht leichtfertig übergehen. Die Verletzung der individuellen Freiheitsrechte durch die Scanner, der Übergriff in die Intimsphäre, ist evident. Selbst wenn die Geräte, anders als in Manchester, keinen detaillierten Blick auf Genitalien erlauben, wird die Kontrolle notwendig zum Voyeurismus. Ob Prothesen aller Art, künstliche Darmausgänge, Herzschrittmacher, Inkontinenz-Windeln, delikate Implantate oder einfach nur Intimschmuck – es bleiben der Apparatur genug Dinge zu melden übrig, die der Fluggast lieber für sich behalten möchte, und zwar mit Recht. Wenn daher der deutsche Bundesinnenminister die Zuversicht äussert, dass eine ausgereifte Scanner-Technologie sehr wohl die Persönlichkeitsrechte zu wahren vermöge, dann nährt er bloss die alte Illusion, es sei möglich, den Pelz zu waschen, ohne ihn nass zu machen.
Als Beispiel für den klassischen Konflikt zwischen Freiheits- und Sicherheitsinteressen sind die «Nackt-Scanner» in den letzten Tagen hinreichend oft Gegenstand politischer Betrachtung gewesen; wir müssen das an dieser Stelle nicht fortführen. Umfragen ebenso wie Zeitungskommentare zeigen ein Übergewicht der Ablehnung von Körper-Scannern. Doch Lippenbekenntnisse zugunsten der Freiheit fallen leicht; wofür sich hingegen der Angsthase in uns in der Praxis entscheidet, steht dahin. Man probiere einmal folgendes Gedankenspiel: Im Angebot seien zwei Fernflüge von Zürich nach New York, der eine mit laxen, der andere mit hochgerüsteten Sicherheitskontrollen. Welche Maschine wird man selber wählen? Wo wird wohl die Mehrheit der Passagiere einsteigen? Deckt sich ihre Entscheidung mit den bei Umfragen abgegebenen Voten? Zweifel sind angebracht. Und wie standhaft bleibt die liberale Ablehnung der intimen Durchleuchtung, wenn es neue Nachrichten von Anschlagsversuchen gibt?
Ilija Trojanow, emsiger Kritiker des «Sicherheitswahns», hat gegen die jüngsten Erregungen das Faktum aufgeboten, dass «es seit den Anschlägen vom 11. September 2001 weltweit keinen einzigen Anschlag auf ein Passagierflugzeug gegeben hat und nur drei Anschläge verhindert werden mussten: 2001 der
Sozialphilosophisch ist der Trend nicht schwer zu verstehen. Der Mensch als das mit Zeitbewusstsein begabte Tier, das vorausschaut, war immer schon in hohem Masse gespannt zwischen Sein und Sorge. Gibt man ihm die entsprechenden Mittel an die Hand, so wird er sie auch nutzen, um die Zukunft im Vorgriff zu bewältigen. Not und Gefahr wird er nicht erst im akuten Fall bekämpfen, sondern bereits die Möglichkeit ihres Entstehens verhindern wollen. So ist die Geschichte der technischen Zivilisation zugleich eine Geschichte der veränderten Staatsaufgaben. Die Gefahrenabwehr hat sich zur Risikovorsorge erweitert. Dass die dabei zum Einsatz kommenden Technologien Folgen und Nebenfolgen haben, die ihrerseits Risiken bergen, hat sich herumgesprochen.
Wo liegt, um beim Thema zu bleiben, das politische Risiko des «Nackt-Scanners»? Die Kränkung seiner Scham und Souveränität, die der bis auf die Haut inspizierte Reisende erfährt, ist das eine. Sie ist schwerwiegend, und sie wird auch nicht dadurch aus der Welt geschafft, dass man den Vorgang automatisiert und den Blicken Neugieriger entzieht. Als «Risiko» aber wäre der Souveränitätsverlust falsch bezeichnet; denn er ist ein Preis, den der Fluggast an Ort und Stelle entrichtet. Das Risiko liegt in dem, was anschliessend geschieht. Werden die Bilder und die beim Scannen erhobenen Daten archiviert? Erhalten so private Sicherheitsfirmen oder auch staatliche Dienste Zugriff zum Beispiel auf Informationen über körperliche Einschränkungen des Betreffenden? Rechtsstaatlich geboten wäre die umgehende Vernichtung der Daten. So hat – in einer freilich nur entfernt vergleichbaren Sachlage – das deutsche Verfassungsgericht die automatisierte Erfassung von Autokennzeichen gebilligt, diese aber an Bedingungen geknüpft, darunter auch die, dass das Kennzeichen «ohne weitere Auswertung sofort und spurenlos gelöscht wird». Leider belehrt die Erfahrung darüber, dass die in Karlsruhe gesetzten Normen nicht immer und überall konsequent umgesetzt werden.
Ambivalenz des Steckbriefs
Von einem «Denken in der Logik des Steckbriefs» sprach der konservative Kultursoziologe Hans Freyer, als er sich vor nun bald fünfzig Jahren Gedanken über bürokratische Verwaltung in der Industriegesellschaft machte: «Nur dass der Steckbrief nicht dazu dient, jemand zu fangen, sondern ihn dingfest zu machen.» Heute betreiben dieses Geschäft nicht mehr bloss die staatlichen Bürokratien, sondern desgleichen die Wirtschaftsunternehmen, wenn sie in grossem Stil Kundendaten sammeln. Was unsere Neigungen und Interessen, Leiden und Bedürfnisse angeht, sind wir längst nackt, und mit den Körper-Scannern auf den Flughäfen nimmt diese informationelle Blösse bloss noch eine Wendung ins Anschauliche.
Und sind nicht wir alle, bis in die Freizeitvergnügen hinein, daran beteiligt, die Welt in Steckbriefen zu erfassen? Man denke nur an einen der neusten Dienste des Internet-Giganten Google, der nicht allein Landkarten und Satellitenbilder sowie Fotos von Strassenzügen und Häusern im Netz präsentiert und uns erlaubt, noch die entfernteste Lokalität auf den Bildschirm vor unserer Nase zu zoomen. Sondern der es überdies – unter dem Titel «Google goggles» – möglich macht, dass wir als Reisende an unbekanntem Ort mit dem Smartphone eine Foto der Umgebung schiessen, sie Google senden und sodann erfahren, welches Objekt da zu sehen ist. Wie komfortabel. Aber das ist ja die Tücke, die Ambivalenz der umfassend gescannten Welt: Ihre und unsere Nacktheit ist ebenso sehr Bedrohung wie Verlockung.
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Dienstag, Januar 12, 2010
Shakespeare: Film - Much ado about Nothing
Funny, entertaining and educational! ;-)
Kenneth Branagh / Emma Thompson et al!
Kenneth Branagh / Emma Thompson et al!
Montag, Januar 11, 2010
«Frauen haben das falsche Beuteschema»
Tages Anzeiger Magazin
09.05.2008 von Anuschka Roshani
(Dazu auch das Stichwort Cinderella Komplex)/ursus
«Frauen haben das falsche Beuteschema»
Gross, stark und reich soll er sein: Frauen wählen Männer noch immer wie in der Steinzeit. So wird das nie was mit der Emanzipation – sagt der Paartherapeut Stefan Woinoff.
Wie leicht könnte man ihn missverstehen. Stefan Woinoff, 49, Facharzt für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie, bezichtigt Frauen, in der Steinzeit stecken geblieben zu sein, auf jeden Fall, wenn es darum geht, sich den Mann fürs Leben zu suchen. In seinem gerade erschienenen Buch «Überlisten Sie Ihr Beuteschema» (Goldmann-Verlag) wirft er ihnen vor, wie vor Tausenden von Jahren nur jenen Mann in ihre Höhle vorzulassen, der gross gewachsen, mächtig und potent ist – insbesondere finanziell. Das heisst, er will es ihnen gar nicht vorwerfen, ihnen lediglich die Augen öffnen, damit sie sich dann mit dem einen oder anderen Trick von ihrer eigenen, auf den Mann umgelenkten Statussehnsucht freimachen. Vorher, so Woinoff, würde es nämlich nichts mit der Emanzipation.
Seit er seine These formuliert hat, werde er von «Feministinnen gesteinigt», sagt Woinoff: Frauen seien längst keine Fünfzigerjahre-Muttchen mehr, die sich über das Portemonnaie und Ansehen des Gatten definieren würden. Der Paartherapeut kontert mit den Erfahrungen, die er in.....
Tages Anzeiger Magazin
09.05.2008 von Anuschka Roshani
«Frauen haben das falsche Beuteschema»
Gross, stark und reich soll er sein: Frauen wählen Männer noch immer wie in der Steinzeit. So wird das nie was mit der Emanzipation – sagt der Paartherapeut Stefan Woinoff.
Wie leicht könnte man ihn missverstehen. Stefan Woinoff, 49, Facharzt für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie, bezichtigt Frauen, in der Steinzeit stecken geblieben zu sein, auf jeden Fall, wenn es darum geht, sich den Mann fürs Leben zu suchen. In seinem gerade erschienenen Buch «Überlisten Sie Ihr Beuteschema» (Goldmann-Verlag) wirft er ihnen vor, wie vor Tausenden von Jahren nur jenen Mann in ihre Höhle vorzulassen, der gross gewachsen, mächtig und potent ist – insbesondere finanziell. Das heisst, er will es ihnen gar nicht vorwerfen, ihnen lediglich die Augen öffnen, damit sie sich dann mit dem einen oder anderen Trick von ihrer eigenen, auf den Mann umgelenkten Statussehnsucht freimachen. Vorher, so Woinoff, würde es nämlich nichts mit der Emanzipation.
Seit er seine These formuliert hat, werde er von «Feministinnen gesteinigt», sagt Woinoff: Frauen seien längst keine Fünfzigerjahre-Muttchen mehr, die sich über das Portemonnaie und Ansehen des Gatten definieren würden. Der Paartherapeut kontert mit den Erfahrungen, die er in seiner Münchner Praxis gemacht habe, wo er immer wieder verzweifelte Karrierefrauen erlebe, die alles hinkriegten, nur das eine nicht: eine glückliche Familie zu haben. Sobald viele von ihnen auf die vierzig zugehen, wünschen sie sich Kinder, genau wie die Frauengenerationen vor ihnen, und geraten in Torschlusspanik, weil der richtige Mann, der in jeder Beziehung verlässliche, dafür nicht zur Stelle ist.
Woinoff selbst übrigens scheint das gelungen zu sein; er kümmert sich an zweieinhalb Werktagen in der Woche um seine beiden kleinen Töchter, während seine Frau arbeitet. Und geniesst es, eines jener nach wie vor äusserst seltenen Exemplare eines Vaters zu sein, der seine Kinder nach einem späten Feierabend nicht bloss noch zur Nacht küsst. Seine Hoffnung allerdings ist, dass er sich bald auf dem Spielplatz und im Supermarkt nicht mehr in einer «männerfreien Zone» wähnen muss.
Herr Woinoff, glauben Sie an die bedingungslose Liebe?
Zwischen Mann und Frau? Da ist es die grosse Ausnahme. Bedingungslos ist die Liebe von Eltern zu Kindern, zumindest sollte sie es sein. Man sollte sein Kind lieben, egal was ist. Aber die Mann-Frau-Beziehung ist ganz stark an Bedingungen geknüpft.
Das heisst, diese Liebe ist auch ein ökonomisches Verhältnis, nie frei von Kalkül?
Natürlich gibt es Seelenverwandtschaften, eine enge Verbundenheit übers Erotische hinaus. Aber normalerweise ist sie nicht frei von Kalkül.
Sie sagen, wir – Frauen wie Männer – wählen unseren Partner nach wie vor nach einem «archaischen Beuteschema». Wie sieht das aus?
Aufgrund der Evolution haben wir bei der Partnerwahl bestimmte Kriterien. Frauen suchen sich einen Mann, der grösser als sie ist und auch im sozialen Status möglichst über ihnen steht, insbesondere dann, wenn sie eine Familie gründen wollen. Da beginnt das Problem: Frauen sind heute im Schnitt höher qualifiziert als früher, dadurch wird die Auswahl an Männern für sie kleiner, zumal sie sehr viel Konkurrenz durch jüngere Frauen haben. Womit wir beim Beuteschema des Mannes sind, denn der steht leider auf Frauen mit Eigenschaften, die sich evolutiv von der Fruchtbarkeit ableiten: auf Attraktivität.
Sie zitieren in Ihrem Buch ein Experiment, wo eine Frau die identische Partnersuchanzeige zweimal aufgab, nur einmal als Angestellte, einmal als Chefin eines Unternehmens.
Ja, und als Angestellte bekam sie viele Zuschriften interessierter Männer, als Chefin keine einzige. Aber um argumentativ nicht in Kategorien wie Gut und Böse zu geraten, stellen Sie sich bitte vor: Sie sind ein Kind – noch im Himmel – und suchen sich Ihre Eltern aus, und zwar unter den Bedingungen der Steinzeit. Welche Eltern suchen Sie sich aus, wenn Sie gezeugt werden wollen, gut über die Schwangerschaft kommen, geboren und erwachsen werden wollen?
Die gesunden, starken, gut situierten.
Richtig, die Frau soll vor allem jung und fruchtbar sein sowie nicht zu dick und nicht zu dünn, damit Schwangerschaft und Geburt problemlos ablaufen. Und der Mann, der sie zeugen und versorgen können soll, muss einen guten Stand in der Sippe haben und sich durchsetzen können. Das sind die eingefahrenen Partnerwahlkriterien, die archaischen «Beuteschemata», für die weder Frauen noch Männer was können. Sie haben sich über Hunderttausende von Jahren entwickelt und sind wohl sogar genetisch eingebrannt.
Hat die Zivilisation da gar nichts gebracht?
Es sind zwar zusätzliche dazugekommen, aber die archaischen Beuteschemata wirken in uns wie nie ausgestorbene Dinosaurier. Das bekomme ich täglich in meiner Praxis mit. Meine Patienten kennen die Fallen, in die sie tappen, aber das ändert nichts daran, dass sie hineintappen. Die uralte Mechanik der Gefühle wirkt immer noch. Es gibt eine weibliche Urangst: Wenn ich schwanger werde, brauche ich einen Mann, der mich und mein Baby beschützt und für mich alles ordnet. Und wieso stehen Männer so auf Brüste und auf die sonstigen Kurven einer Frau? Sie haben doch gar nichts davon, sie gefallen ihnen einfach. Es liegt daran, dass Brüste für Fruchtbarkeit standen und immer noch stehen, und sich Männer mit einer kurvenreichen Frau besser fortpflanzten.
Inzwischen verdienen viele Frauen genug, um sich und ihre Kinder ernähren zu können. Warum spielt das archaische Beuteschema dennoch weiter eine Rolle?
Es sind tief verwurzelte Ängste und Bedürfnisse, und man muss sich erst bewusst machen, dass diese Ängste heute nicht mehr nötig sind. Wenn Sie Abiturientinnen heute fragen – und deutlich mehr Mädchen als Jungen machen ja mittlerweile Abitur –, dann sagen sie, sie möchten einen Beruf, der sie ernähren kann und auch ihr Kind, denn sie wollen nicht vom bröckelnden Versorgungswillen der Männer abhängig sein. Aber ich kenne keine Frau, auch die Emanzipierteste nicht, die sagt, ich brauche einen Beruf, um mich, meinen Mann und meine zwei Kinder ernähren zu können.
Die Frauen wollen gar nicht hochkommen?
Der Mann wird auf jeden Fall deutlich mehr als die Frau dafür tun, befördert zu werden, er hat ja einen viel grösseren Druck. Männer machen mehr Überstunden als Frauen und viel mehr Kompromisse, weil an ihnen alles hängt. Frauen kündigen eher, wenns ihnen nicht passt, viele haben schliesslich einen Mann, der gut verdient. Sie sagen sich, wozu der ganze Schmarrn, ich kriege nur Falten vom Stress und gewinne nichts. Das ist der Hauptgrund, warum so wenig Frauen Chefinnen sind.
Müssten nicht gerade die Frauen der Scheidungskinder-Generation die Chefpositionen anstreben?
Für die ist finanzielle Unabhängigkeit schon selbstverständlich. Die wollen ihren Mann nicht fragen müssen, ob er ihnen ein neues Kleid kauft. Aber es geht darum, wer der Haupt- oder Alleinernährer ist, wenn Kinder kommen. Das ist fast immer noch der Vater. Eine Frau geht bei der Familiengründung selbstverständlich davon aus, dass der Mann übernimmt und sie erst mal zu Hause bleibt – wenn sie will. Wenn ein Mann das nicht finanzieren kann, fällt er als Partner von vornherein aus.
Ich als Akademikerin würde mich also nie und nimmer in einen Kaminfeger verlieben?
Vielleicht würden Sie sich in ihn verlieben, aber vermutlich würden Sie ihn nie heiraten und nie Kinder mit ihm kriegen.
Höchstens eine Affäre anfangen?
Denken Sie an Benoîte Groults Roman «Salz auf unserer Haut», wo die Professorin mit dem Fischer eine lebenslange Affäre hat, aber eines Nachts träumt, dass sie ihn heiratet und bei der Hochzeit fürchterlich ausgelacht wird.
Gibt es nicht die Liebe, die alle gesellschaftlichen Barrieren überwindet?
Die gibt es sicherlich, nicht nur in der Literatur. Die wirklich emanzipierten Frauen suchen sich ihren Mann frei aus. Die sagen, es juckt mich nicht, was die Nachbarn denken. Ich liebe ihn, egal warum. Nur, das sind noch sehr wenige.
Wie definieren Sie emanzipiert?
Emanzipiert heisst frei sein. Frei von Konventionen, die einen einengen, denen man einfach gehorcht. Mut und Ratio sind gefragt – warum soll ich mich von solchen Konventionen, vom Mainstream abhängig machen?
Ist es nicht in Wahrheit noch vertrackter: dass ich mich gar nicht erst in den Kaminfeger verliebe?
Ja, wenn Sie ihm als Kaminfeger begegnen, dann eher nicht. Aber wenn Sie ihn nicht als solchen kennenlernen, sondern in der Badi, dann vielleicht. Es gibt Studien, in denen Frauen Fotos gezeigt werden und danach nach der Attraktivität der abgebildeten Männer befragt werden, und sich ihre Bewertung komplett ändert, sobald man ihnen die Berufe der Männer sagt.
Und wenn er Kaminfeger ist und aussieht wie Brad Pitt, hat er dann auch nichts von seinem Aussehen?
Es ist besser, sie sind als Mann stinkreich und sehen nicht gut aus. Denn als arbeitsloser Brad-Pitt-Doppelgänger werden sie es schwer haben, eine Frau zu finden, die mit ihnen eine feste Partnerschaft eingeht. Das ist nun mal so. Während – und das ist das Ungerechte an der Sache – eine Frau, die bloss gut aussieht, auch gesellschaftlich aufsteigen kann, weil sie sich einen statusüberlegenen Mann suchen kann und ihn auch kriegt.
Sie bestätigen damit das böse Klischee, dass Frauen sich hochschlafen, während sich Männer hochschuften.
Natürlich arbeiten sich inzwischen auch viele Frauen hoch, so wie die Männer. Doch hochschlafen kann auch funktionieren. Pamela Anderson hat mal auf die Frage, wie sie es so weit gebracht habe, geantwortet, ich hab nur mit den richtigen Männern geschlafen. Vielleicht werden sich in Zukunft ja auch Männer hochschlafen können, wenn wir mehr Frauen in Entscheidungspositionen haben.
Haben Sie so ein schreckliches Frauenbild: Frauen finden den Porsche-Fahrer per se anziehend?
Vorweg: Ich habe ein überaus positives Frauenbild, aber eben ein ideologiefreies. Zu Ihrer Frage: Man will es nicht glauben, aber Porsche ist ein extrem erfolgreiches Unternehmen, fragen Sie mal, warum. Auch ich erlebe, dass ich von Frauen anders betrachtet werde, wenn ich einen Anzug trage, als wenn ich im T-Shirt rumlaufe. Im Anzug bin ich attraktiver, so wie Frauen mit Push-up-BH und Minirock anders von Männern angesehen werden. Der Mann im Anzug sagt, ich bin gepflegt, ich bewege mich auf einer bestimmten gesellschaftlichen Ebene, die Frau sagt damit, ich bin sexy. «Your father is rich and your mother is good looking», das ist die Losung der High Society – weltweit. Das können Sie genau so in der Regenbogenpresse nachschauen: die Reichen und die Schönen – wobei reich sind die Männer, schön die Frauen.
Ein Paar wie Carla Bruni und Nicolas Sarkozy, wie passt das in Ihre Theorie? Sie ist immerhin einen Kopf grösser.
Ich glaube, dass generell die Frauen den Partner wählen. Daher gibt es deutlich mehr Männer, die eine grössere Frau nehmen würden, wenn sie ihnen denn gefällt. Und natürlich, Carla Bruni ist so eine Alphafrau, und er weiss, er könnte genauso leicht eine kleinere Hübsche haben. Er fühlt sich nicht entmännlicht, im Gegenteil, er zieht hohe Absätze an und sagt, schaut her, ich kann so eine Grosse kriegen. Und weil er durch seine extrem hohe gesellschaftliche Stellung alle anderen Mankos kompensiert, nimmt sie einen Kleinen in Kauf. Kleine Männer haben bekanntlich oft einen enormen beruflichen Ehrgeiz, das Little-Man-Syndrom.
Rackern Männer sich die Karriereleiter nur hoch, um an die guten Frauen ranzukommen?
Ja, die Motivation beim Mann, dem anderen Geschlecht gefallen zu wollen, ist sehr stark. Aber natürlich auch bei den Frauen, nur müssen sie was anderes dafür tun. Denken Sie nur an den Satz: «Wer schön sein will, muss leiden.» Das ist ein Satz für Frauen.
Denn Macht macht sexy. Zumindest den Mann.
Ja, aber wenn der Manager arbeitslos wird, hat er sofort sehr schlechte Karten. Statistisch werden Ehen häufiger geschieden, sobald es wirtschaftlich schlecht aussieht. Doch bis dahin gewinnen sie doppelt, während Frauen von klein auf merken, dass beruflicher Erfolg sie bei Männern nicht unbedingt attraktiver macht, manchmal sogar das Gegenteil.
Woran merkt das ein kleines Mädchen?
Die Klassenbeste ist nicht die, die für die Jungen attraktiv ist. Ein Mädchen merkt, wer gut ausschaut, kommt bei den Jungen an. Und später, wenn Frauen beruflich aufsteigen, merken sie es umso mehr – es ist eine Ungerechtigkeit, aber ich kann auch nichts dafür.
Eine mächtige Frau wie Angela Merkel würde demnach keinen mehr abkriegen.
Ich glaube nicht, dass Erfolg zwangsläufig unsexy ist. Wenn eine erfolgreiche Frau gut aussieht, findet sie auch einen Mann. Aber Erfolg macht Frauen einsam, weil sie einen noch erfolgreicheren Mann suchen. Die Menge der Kandidaten wird dadurch ungeheuer klein. Ich glaube, wenn Männer die Stärke von Frauen als ständige Forderung erleben, noch stärker sein zu müssen, fühlen sie sich eher abgeschreckt oder haben sogar Angst vor ihr.
Man könnte Ihre These als Appell an Frauen interpretieren: Macht keine Karriere, ihr werdet nur einsam.
Ich heisse nicht Eva Herman, für mich ist ein guter Beruf und ein guter Verdienst für Frauen selbstverständlich, ich will nur sagen, bitte denkt daran, liebe Frauen, bei euch siehts anders aus als bei Männern, ihr gewinnt nicht unbedingt beim anderen Geschlecht durch die Tatsache, dass ihr Karriere macht. Euer Marktwert in der Partnerwahl ist mit 25 einfach höher als mit 35, bei Männern dagegen ist es umgekehrt. Also macht es nicht in allen Dingen einfach den Männern nach! Ihr kommt sonst in eine deutlich schlechtere Position. Vielleicht macht es doch Sinn, sich den Partner früher zu suchen, noch im Studium, und dann Kinder zu kriegen.
Kann man das alte Beuteschema hinter sich lassen?
Zum Teil. Ich möchte den Frauen mitteilen, passt auf, ihr könntet unter einer viel grösseren Anzahl von Partnern aussuchen, wenn ihr die berufliche Stellung und das Geld des Mannes vernachlässigt – und es bleibt trotzdem in Ordnung, dass ihr einen Mann bewundern wollt. Auch Männer wollen Frauen übrigens bewundern.
Hat der Feminismus die Frauen unglücklich gemacht?
Das ist so eine Frage wie: Hat der Kommunismus die Arbeiter unglücklich gemacht, weil er ihnen gesagt hat, wie schlecht es ihnen geht? Der Feminismus hat den Frauen ihre Unzufriedenheit klargemacht und diese sogar ein bisschen geschürt.
Der Feminismus hat ihnen aber auch die Begrenztheit ihrer Macht beziehungsweise ihre Ohnmacht vor Augen geführt.
Nein, der Feminismus hat ihnen diese Begrenztheit eben gerade nicht vor Augen geführt, sondern immer noch redet er ihnen ein, ihr könnt alles, und ihr könnt es genauso wie die Männer. Das stimmt einfach nicht. Den Frauen wird eine Situation vorgegaukelt, die so nicht existiert.
Was empfehlen Sie gegen das Dilemma?
Der Groschen muss emotional fallen. Wenn Frauen sich ihrer neuen Freiheit bewusst werden, wenn sie sich klarmachen, ich kann mir endlich den Mann aussuchen, den ich mir immer gewünscht habe, unabhängig davon, ob er eine gute Partie ist. Dann hätte die Emanzipation sehr viel geleistet. Sich freizumachen von der Meinung der anderen. Ich nehme als Beispiel gern den Umgang mit Homosexualität. Noch vor vierzig Jahren war sie verboten. Jetzt habe ich Patienten, die als Homosexuelle ein erfolgreiches, glückliches Leben führen – warum soll es in einigen Jahrzehnten nicht Paare geben, die es anders machen, wo er etwa zu Hause ist und die Kinder betreut und sie die Familie ernährt, und keiner nimmt mehr Anstoss daran?
Haben die Jungen, die allein von ihrer Mutter aufgezogen wurden, ein anderes Verhältnis zu Frauen? Weniger Angst vor starken Frauen?
Manchmal haben die besonders grosse Angst, gerade weil die Mutter so stark war. Zudem haben sie oft ein anderes Beziehungsschema, tun sich schwer, ihre Partnerin zum Beispiel mit deren Freundinnen zu teilen. Sie sind verwöhnt mit ausschliesslicher Aufmerksamkeit. Der Partner wird noch stärker für das eigene Glück verantwortlich gemacht.
Ist es dieser Glücksanspruch, der alles so kompliziert macht? Oder sind es die Forderungen der Frauen?
Frauen haben Männern deren alte Privilegien aufgekündigt, sie sagen, du bist nicht mehr der Herr im Haus, du musst was für Kinder und Haushalt tun. Zugleich bleiben die alten Forderungen bestehen: Du musst Erfolg haben, damit ich dich attraktiv finde. Das heisst, neue Forderungen sind dazugekommen, daraus entspringt auch für Männer eine Doppelbelastung. Bei Männern kommt nur das Gefühl an, oh Gott, Frauen sind so anspruchsvoll.
Viele Paartherapeuten sagen, Männer wollen vor allem versorgt werden zu Hause. Haben Männer Ansprüche an eine Beziehung?
Es gibt sicher noch viele Männer, die finden, mir reichen die klassischen Rollen, die Frau soll ein bisschen lieb sein und das Bier aus dem Keller holen, aber bei der Stehparty auch was hermachen und Smalltalk beherrschen. Aber Bedingungen an die Beziehung gibts von beiden Seiten, wie gesagt, es gibt keine Beziehung zwischen Menschen, die so an Bedingungen geknüpft ist wie die zwischen Mann und Frau.
Ist das unausrottbar?
Ja. Es ist aber sicher eine Grundkonstante bei dem Spiel, wie man zueinanderfindet. Die Frage ist, wie man das kulturell modifiziert.
Wo ist der Spielraum?
Man kann einer Frau nicht sagen, verlieb dich mal in einen kleineren. Ich höre immer wieder, die Männer sollen ihr Beuteschema ändern – nur, sie haben es schon verändert oder wenigstens erweitert. Früher, vor 30, 40 Jahren, betrachteten Männer Frauen über 30 ganz anders als heute, sie waren nicht mehr jung, als Ehefrauen weniger unattraktiv. Heute sagt kein Mann, eine Frau mit 40 ist übern Jordan. Denn mit der kann er noch immer eine Familie gründen, auch dank der Infertilitätsmedizin. Und eine Frau muss bereit sein, ihre Stärke, also konkret ihren guten Verdienst, auch zu teilen.
Was heisst das?
Meine Wahrnehmung ist, dass Männer froh sind, wenn sie mal zu Wort kommen, und Frauen es deutlich weniger gern haben, wenn man ihnen widerspricht. Es ist momentan ja so, das Original ist die Frau und die Ableitung ist der Mann, insbesondere beim Verhalten in der Partnerschaft. Die Frau hat die Definitionsmacht, was der Mann leisten muss, zum Beispiel zuhören, wenn sie abends nach Hause kommt, und der Mann ist die Abweichung, wenn er stattdessen lieber Fussball schauen will. Beiden ist nicht bewusst: Ein Gespräch über die Unbill des Alltags bedeutet für Frauen und Männer emotional etwas komplett anderes. Frauen pflegen über Kommunikation ihre Beziehung, Männer bekennen sich so als Loser. Er sagt damit, ich hab nichts erjagt, ich hab nichts geschafft. Wir sind da einfach sehr verschieden.
Passen wir überhaupt zueinander?
Unbedingt. Nur darf man nicht glauben wie Alice Schwarzer, dass Mann und Frau gleich sind, und von sich auf den anderen schliessen, sonst macht man einen Riesenfehler. Der liebe Gott hat uns so geschaffen, dass meine Haut hier aufhört und die Haut meiner Frau erst dort anfängt, wir sind keine Einheit. Die Andersartigkeit muss man nicht verstehen, nur akzeptieren. Man versteht nicht alles, manchmal sogar gar nichts.
Sind wir Opfer unseres Perfektionsstrebens geworden? Unserer Überansprüche?
Frauen stilisieren sich gern als Opfer. Doch dann müsste es auch einen Täter geben. Der Feminismus hat etwas ganz Wunderbares bewirkt, und zwar für Frauen wie Männer, er hat die Rollenvielfalt erweitert. Heute kann ein Paar sich überlegen, wie wollen wir es machen? Die Rollenflexibilität wurde von der Frauenbewegung geschaffen, aber man fährt die Ernte bisher nicht gut ein, obwohl sie reich ist. Man meint dummerweise, überall seinen Part perfekt spielen zu müssen und empfindet das als schwere Doppelbelastung. Ich kenne keine Hausfrau und Mutter, die sagt, alles super, das traut sich keine zu sagen. Nicht in ihrer Frauenbewertungswelt – denn kein Mann sagt auf der Party zu einer Hausfrau, warum arbeitest du nicht? Der Anspruch kommt nicht von den Männern, sondern von den Frauen an die Frauen.
Bleibt die Hausfrau als Frau für einen Mann interessant?
Klar, wenn sie ihm sympathisch ist und, krass gesagt, gut ausschaut. Und vor allem, wenn sie ihn anlacht und sagt, mir gehts gut.
Wo auf der Messlatte befindet sich die Emanzipation?
Auf halbem Weg. Es wird noch dreissig Jahre dauern bis zum Ziel. Da sind einerseits die Frauen gefragt, indem sie aus Männern, die sich um Kinder und Haushalt kümmern, keine Männchen machen. Andererseits auch die Männer, die diese neuen Rollen auch übernehmen müssen.
Ist das Ziel, dass am Ende niemand mehr versteht, dass Hausmänner einst als Schlappschwänze galten?
Man wirds schon noch verstehen, aber nicht mehr als Zumutung wahrnehmen, so wenig wie das Schwulenpärchen von nebenan heute. Und Frauen werden auch bereit sein müssen, den Preis für ihre Emanzipation zu zahlen. Etwa bei einer Scheidung für den Unterhalt ihres Mannes aufkommen zu müssen. Den Preis zahlen wir Männer ja auch. Dann werden automatisch mehr Frauen in Führungsetagen vordringen, weil sie gezwungen sind, ihre Familie mit ihrem Beruf zu ernähren.
Was hat sich schon heute geändert?
Einerseits nichts. Fast jeder will emotionale Sicherheit, sieht sich im geborgenen Kreis der Familie mit Kindern alt werden. Andererseits lockt grosser Gewinn, wenn Männer Rollen übernehmen, die bisher als typisch weiblich gelten. Die junge Männergeneration will mit ihren Kindern zusammen sein und dass ihre Frau die Hälfte des Unterhalts bestreitet. Bei den etwa Zwanzigjährigen entwickelt sich ein neues Verständnis von Mannsein, von Vatersein.
1977 durften in Deutschland Männer ihren Frauen noch verbieten zu arbeiten, wenn darunter der Haushalt litt.
Das ist nur noch schwer vorstellbar. Aber überholte Bilder bleiben im Umlauf. Weiblich ist längst nicht mehr gleich weich und nachgiebig, sondern bedeutet vielmehr: willensstark sein, karrierebewusst und sehr machtbewusst. Frauen haben innerhalb der Familie immer geherrscht, wenn auch versteckter. Die meisten Männer herrschen gar nicht, ausser ein paar weit oben. Männer werden beherrscht. Eine sehr männliche Eigenschaft ist nämlich, zu gehorchen.
Stefan Woinoff: «Überlisten Sie Ihr Beuteschema: Warum immer mehr Frauen keinen Partner finden – und was sie dagegen tun können», Mosaik bei Goldmann, 2008
09.05.2008 von Anuschka Roshani
(Dazu auch das Stichwort Cinderella Komplex)/ursus
«Frauen haben das falsche Beuteschema»
Gross, stark und reich soll er sein: Frauen wählen Männer noch immer wie in der Steinzeit. So wird das nie was mit der Emanzipation – sagt der Paartherapeut Stefan Woinoff.
Wie leicht könnte man ihn missverstehen. Stefan Woinoff, 49, Facharzt für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie, bezichtigt Frauen, in der Steinzeit stecken geblieben zu sein, auf jeden Fall, wenn es darum geht, sich den Mann fürs Leben zu suchen. In seinem gerade erschienenen Buch «Überlisten Sie Ihr Beuteschema» (Goldmann-Verlag) wirft er ihnen vor, wie vor Tausenden von Jahren nur jenen Mann in ihre Höhle vorzulassen, der gross gewachsen, mächtig und potent ist – insbesondere finanziell. Das heisst, er will es ihnen gar nicht vorwerfen, ihnen lediglich die Augen öffnen, damit sie sich dann mit dem einen oder anderen Trick von ihrer eigenen, auf den Mann umgelenkten Statussehnsucht freimachen. Vorher, so Woinoff, würde es nämlich nichts mit der Emanzipation.
Seit er seine These formuliert hat, werde er von «Feministinnen gesteinigt», sagt Woinoff: Frauen seien längst keine Fünfzigerjahre-Muttchen mehr, die sich über das Portemonnaie und Ansehen des Gatten definieren würden. Der Paartherapeut kontert mit den Erfahrungen, die er in.....
Tages Anzeiger Magazin
09.05.2008 von Anuschka Roshani
«Frauen haben das falsche Beuteschema»
Gross, stark und reich soll er sein: Frauen wählen Männer noch immer wie in der Steinzeit. So wird das nie was mit der Emanzipation – sagt der Paartherapeut Stefan Woinoff.
Wie leicht könnte man ihn missverstehen. Stefan Woinoff, 49, Facharzt für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie, bezichtigt Frauen, in der Steinzeit stecken geblieben zu sein, auf jeden Fall, wenn es darum geht, sich den Mann fürs Leben zu suchen. In seinem gerade erschienenen Buch «Überlisten Sie Ihr Beuteschema» (Goldmann-Verlag) wirft er ihnen vor, wie vor Tausenden von Jahren nur jenen Mann in ihre Höhle vorzulassen, der gross gewachsen, mächtig und potent ist – insbesondere finanziell. Das heisst, er will es ihnen gar nicht vorwerfen, ihnen lediglich die Augen öffnen, damit sie sich dann mit dem einen oder anderen Trick von ihrer eigenen, auf den Mann umgelenkten Statussehnsucht freimachen. Vorher, so Woinoff, würde es nämlich nichts mit der Emanzipation.
Seit er seine These formuliert hat, werde er von «Feministinnen gesteinigt», sagt Woinoff: Frauen seien längst keine Fünfzigerjahre-Muttchen mehr, die sich über das Portemonnaie und Ansehen des Gatten definieren würden. Der Paartherapeut kontert mit den Erfahrungen, die er in seiner Münchner Praxis gemacht habe, wo er immer wieder verzweifelte Karrierefrauen erlebe, die alles hinkriegten, nur das eine nicht: eine glückliche Familie zu haben. Sobald viele von ihnen auf die vierzig zugehen, wünschen sie sich Kinder, genau wie die Frauengenerationen vor ihnen, und geraten in Torschlusspanik, weil der richtige Mann, der in jeder Beziehung verlässliche, dafür nicht zur Stelle ist.
Woinoff selbst übrigens scheint das gelungen zu sein; er kümmert sich an zweieinhalb Werktagen in der Woche um seine beiden kleinen Töchter, während seine Frau arbeitet. Und geniesst es, eines jener nach wie vor äusserst seltenen Exemplare eines Vaters zu sein, der seine Kinder nach einem späten Feierabend nicht bloss noch zur Nacht küsst. Seine Hoffnung allerdings ist, dass er sich bald auf dem Spielplatz und im Supermarkt nicht mehr in einer «männerfreien Zone» wähnen muss.
Herr Woinoff, glauben Sie an die bedingungslose Liebe?
Zwischen Mann und Frau? Da ist es die grosse Ausnahme. Bedingungslos ist die Liebe von Eltern zu Kindern, zumindest sollte sie es sein. Man sollte sein Kind lieben, egal was ist. Aber die Mann-Frau-Beziehung ist ganz stark an Bedingungen geknüpft.
Das heisst, diese Liebe ist auch ein ökonomisches Verhältnis, nie frei von Kalkül?
Natürlich gibt es Seelenverwandtschaften, eine enge Verbundenheit übers Erotische hinaus. Aber normalerweise ist sie nicht frei von Kalkül.
Sie sagen, wir – Frauen wie Männer – wählen unseren Partner nach wie vor nach einem «archaischen Beuteschema». Wie sieht das aus?
Aufgrund der Evolution haben wir bei der Partnerwahl bestimmte Kriterien. Frauen suchen sich einen Mann, der grösser als sie ist und auch im sozialen Status möglichst über ihnen steht, insbesondere dann, wenn sie eine Familie gründen wollen. Da beginnt das Problem: Frauen sind heute im Schnitt höher qualifiziert als früher, dadurch wird die Auswahl an Männern für sie kleiner, zumal sie sehr viel Konkurrenz durch jüngere Frauen haben. Womit wir beim Beuteschema des Mannes sind, denn der steht leider auf Frauen mit Eigenschaften, die sich evolutiv von der Fruchtbarkeit ableiten: auf Attraktivität.
Sie zitieren in Ihrem Buch ein Experiment, wo eine Frau die identische Partnersuchanzeige zweimal aufgab, nur einmal als Angestellte, einmal als Chefin eines Unternehmens.
Ja, und als Angestellte bekam sie viele Zuschriften interessierter Männer, als Chefin keine einzige. Aber um argumentativ nicht in Kategorien wie Gut und Böse zu geraten, stellen Sie sich bitte vor: Sie sind ein Kind – noch im Himmel – und suchen sich Ihre Eltern aus, und zwar unter den Bedingungen der Steinzeit. Welche Eltern suchen Sie sich aus, wenn Sie gezeugt werden wollen, gut über die Schwangerschaft kommen, geboren und erwachsen werden wollen?
Die gesunden, starken, gut situierten.
Richtig, die Frau soll vor allem jung und fruchtbar sein sowie nicht zu dick und nicht zu dünn, damit Schwangerschaft und Geburt problemlos ablaufen. Und der Mann, der sie zeugen und versorgen können soll, muss einen guten Stand in der Sippe haben und sich durchsetzen können. Das sind die eingefahrenen Partnerwahlkriterien, die archaischen «Beuteschemata», für die weder Frauen noch Männer was können. Sie haben sich über Hunderttausende von Jahren entwickelt und sind wohl sogar genetisch eingebrannt.
Hat die Zivilisation da gar nichts gebracht?
Es sind zwar zusätzliche dazugekommen, aber die archaischen Beuteschemata wirken in uns wie nie ausgestorbene Dinosaurier. Das bekomme ich täglich in meiner Praxis mit. Meine Patienten kennen die Fallen, in die sie tappen, aber das ändert nichts daran, dass sie hineintappen. Die uralte Mechanik der Gefühle wirkt immer noch. Es gibt eine weibliche Urangst: Wenn ich schwanger werde, brauche ich einen Mann, der mich und mein Baby beschützt und für mich alles ordnet. Und wieso stehen Männer so auf Brüste und auf die sonstigen Kurven einer Frau? Sie haben doch gar nichts davon, sie gefallen ihnen einfach. Es liegt daran, dass Brüste für Fruchtbarkeit standen und immer noch stehen, und sich Männer mit einer kurvenreichen Frau besser fortpflanzten.
Inzwischen verdienen viele Frauen genug, um sich und ihre Kinder ernähren zu können. Warum spielt das archaische Beuteschema dennoch weiter eine Rolle?
Es sind tief verwurzelte Ängste und Bedürfnisse, und man muss sich erst bewusst machen, dass diese Ängste heute nicht mehr nötig sind. Wenn Sie Abiturientinnen heute fragen – und deutlich mehr Mädchen als Jungen machen ja mittlerweile Abitur –, dann sagen sie, sie möchten einen Beruf, der sie ernähren kann und auch ihr Kind, denn sie wollen nicht vom bröckelnden Versorgungswillen der Männer abhängig sein. Aber ich kenne keine Frau, auch die Emanzipierteste nicht, die sagt, ich brauche einen Beruf, um mich, meinen Mann und meine zwei Kinder ernähren zu können.
Die Frauen wollen gar nicht hochkommen?
Der Mann wird auf jeden Fall deutlich mehr als die Frau dafür tun, befördert zu werden, er hat ja einen viel grösseren Druck. Männer machen mehr Überstunden als Frauen und viel mehr Kompromisse, weil an ihnen alles hängt. Frauen kündigen eher, wenns ihnen nicht passt, viele haben schliesslich einen Mann, der gut verdient. Sie sagen sich, wozu der ganze Schmarrn, ich kriege nur Falten vom Stress und gewinne nichts. Das ist der Hauptgrund, warum so wenig Frauen Chefinnen sind.
Müssten nicht gerade die Frauen der Scheidungskinder-Generation die Chefpositionen anstreben?
Für die ist finanzielle Unabhängigkeit schon selbstverständlich. Die wollen ihren Mann nicht fragen müssen, ob er ihnen ein neues Kleid kauft. Aber es geht darum, wer der Haupt- oder Alleinernährer ist, wenn Kinder kommen. Das ist fast immer noch der Vater. Eine Frau geht bei der Familiengründung selbstverständlich davon aus, dass der Mann übernimmt und sie erst mal zu Hause bleibt – wenn sie will. Wenn ein Mann das nicht finanzieren kann, fällt er als Partner von vornherein aus.
Ich als Akademikerin würde mich also nie und nimmer in einen Kaminfeger verlieben?
Vielleicht würden Sie sich in ihn verlieben, aber vermutlich würden Sie ihn nie heiraten und nie Kinder mit ihm kriegen.
Höchstens eine Affäre anfangen?
Denken Sie an Benoîte Groults Roman «Salz auf unserer Haut», wo die Professorin mit dem Fischer eine lebenslange Affäre hat, aber eines Nachts träumt, dass sie ihn heiratet und bei der Hochzeit fürchterlich ausgelacht wird.
Gibt es nicht die Liebe, die alle gesellschaftlichen Barrieren überwindet?
Die gibt es sicherlich, nicht nur in der Literatur. Die wirklich emanzipierten Frauen suchen sich ihren Mann frei aus. Die sagen, es juckt mich nicht, was die Nachbarn denken. Ich liebe ihn, egal warum. Nur, das sind noch sehr wenige.
Wie definieren Sie emanzipiert?
Emanzipiert heisst frei sein. Frei von Konventionen, die einen einengen, denen man einfach gehorcht. Mut und Ratio sind gefragt – warum soll ich mich von solchen Konventionen, vom Mainstream abhängig machen?
Ist es nicht in Wahrheit noch vertrackter: dass ich mich gar nicht erst in den Kaminfeger verliebe?
Ja, wenn Sie ihm als Kaminfeger begegnen, dann eher nicht. Aber wenn Sie ihn nicht als solchen kennenlernen, sondern in der Badi, dann vielleicht. Es gibt Studien, in denen Frauen Fotos gezeigt werden und danach nach der Attraktivität der abgebildeten Männer befragt werden, und sich ihre Bewertung komplett ändert, sobald man ihnen die Berufe der Männer sagt.
Und wenn er Kaminfeger ist und aussieht wie Brad Pitt, hat er dann auch nichts von seinem Aussehen?
Es ist besser, sie sind als Mann stinkreich und sehen nicht gut aus. Denn als arbeitsloser Brad-Pitt-Doppelgänger werden sie es schwer haben, eine Frau zu finden, die mit ihnen eine feste Partnerschaft eingeht. Das ist nun mal so. Während – und das ist das Ungerechte an der Sache – eine Frau, die bloss gut aussieht, auch gesellschaftlich aufsteigen kann, weil sie sich einen statusüberlegenen Mann suchen kann und ihn auch kriegt.
Sie bestätigen damit das böse Klischee, dass Frauen sich hochschlafen, während sich Männer hochschuften.
Natürlich arbeiten sich inzwischen auch viele Frauen hoch, so wie die Männer. Doch hochschlafen kann auch funktionieren. Pamela Anderson hat mal auf die Frage, wie sie es so weit gebracht habe, geantwortet, ich hab nur mit den richtigen Männern geschlafen. Vielleicht werden sich in Zukunft ja auch Männer hochschlafen können, wenn wir mehr Frauen in Entscheidungspositionen haben.
Haben Sie so ein schreckliches Frauenbild: Frauen finden den Porsche-Fahrer per se anziehend?
Vorweg: Ich habe ein überaus positives Frauenbild, aber eben ein ideologiefreies. Zu Ihrer Frage: Man will es nicht glauben, aber Porsche ist ein extrem erfolgreiches Unternehmen, fragen Sie mal, warum. Auch ich erlebe, dass ich von Frauen anders betrachtet werde, wenn ich einen Anzug trage, als wenn ich im T-Shirt rumlaufe. Im Anzug bin ich attraktiver, so wie Frauen mit Push-up-BH und Minirock anders von Männern angesehen werden. Der Mann im Anzug sagt, ich bin gepflegt, ich bewege mich auf einer bestimmten gesellschaftlichen Ebene, die Frau sagt damit, ich bin sexy. «Your father is rich and your mother is good looking», das ist die Losung der High Society – weltweit. Das können Sie genau so in der Regenbogenpresse nachschauen: die Reichen und die Schönen – wobei reich sind die Männer, schön die Frauen.
Ein Paar wie Carla Bruni und Nicolas Sarkozy, wie passt das in Ihre Theorie? Sie ist immerhin einen Kopf grösser.
Ich glaube, dass generell die Frauen den Partner wählen. Daher gibt es deutlich mehr Männer, die eine grössere Frau nehmen würden, wenn sie ihnen denn gefällt. Und natürlich, Carla Bruni ist so eine Alphafrau, und er weiss, er könnte genauso leicht eine kleinere Hübsche haben. Er fühlt sich nicht entmännlicht, im Gegenteil, er zieht hohe Absätze an und sagt, schaut her, ich kann so eine Grosse kriegen. Und weil er durch seine extrem hohe gesellschaftliche Stellung alle anderen Mankos kompensiert, nimmt sie einen Kleinen in Kauf. Kleine Männer haben bekanntlich oft einen enormen beruflichen Ehrgeiz, das Little-Man-Syndrom.
Rackern Männer sich die Karriereleiter nur hoch, um an die guten Frauen ranzukommen?
Ja, die Motivation beim Mann, dem anderen Geschlecht gefallen zu wollen, ist sehr stark. Aber natürlich auch bei den Frauen, nur müssen sie was anderes dafür tun. Denken Sie nur an den Satz: «Wer schön sein will, muss leiden.» Das ist ein Satz für Frauen.
Denn Macht macht sexy. Zumindest den Mann.
Ja, aber wenn der Manager arbeitslos wird, hat er sofort sehr schlechte Karten. Statistisch werden Ehen häufiger geschieden, sobald es wirtschaftlich schlecht aussieht. Doch bis dahin gewinnen sie doppelt, während Frauen von klein auf merken, dass beruflicher Erfolg sie bei Männern nicht unbedingt attraktiver macht, manchmal sogar das Gegenteil.
Woran merkt das ein kleines Mädchen?
Die Klassenbeste ist nicht die, die für die Jungen attraktiv ist. Ein Mädchen merkt, wer gut ausschaut, kommt bei den Jungen an. Und später, wenn Frauen beruflich aufsteigen, merken sie es umso mehr – es ist eine Ungerechtigkeit, aber ich kann auch nichts dafür.
Eine mächtige Frau wie Angela Merkel würde demnach keinen mehr abkriegen.
Ich glaube nicht, dass Erfolg zwangsläufig unsexy ist. Wenn eine erfolgreiche Frau gut aussieht, findet sie auch einen Mann. Aber Erfolg macht Frauen einsam, weil sie einen noch erfolgreicheren Mann suchen. Die Menge der Kandidaten wird dadurch ungeheuer klein. Ich glaube, wenn Männer die Stärke von Frauen als ständige Forderung erleben, noch stärker sein zu müssen, fühlen sie sich eher abgeschreckt oder haben sogar Angst vor ihr.
Man könnte Ihre These als Appell an Frauen interpretieren: Macht keine Karriere, ihr werdet nur einsam.
Ich heisse nicht Eva Herman, für mich ist ein guter Beruf und ein guter Verdienst für Frauen selbstverständlich, ich will nur sagen, bitte denkt daran, liebe Frauen, bei euch siehts anders aus als bei Männern, ihr gewinnt nicht unbedingt beim anderen Geschlecht durch die Tatsache, dass ihr Karriere macht. Euer Marktwert in der Partnerwahl ist mit 25 einfach höher als mit 35, bei Männern dagegen ist es umgekehrt. Also macht es nicht in allen Dingen einfach den Männern nach! Ihr kommt sonst in eine deutlich schlechtere Position. Vielleicht macht es doch Sinn, sich den Partner früher zu suchen, noch im Studium, und dann Kinder zu kriegen.
Kann man das alte Beuteschema hinter sich lassen?
Zum Teil. Ich möchte den Frauen mitteilen, passt auf, ihr könntet unter einer viel grösseren Anzahl von Partnern aussuchen, wenn ihr die berufliche Stellung und das Geld des Mannes vernachlässigt – und es bleibt trotzdem in Ordnung, dass ihr einen Mann bewundern wollt. Auch Männer wollen Frauen übrigens bewundern.
Hat der Feminismus die Frauen unglücklich gemacht?
Das ist so eine Frage wie: Hat der Kommunismus die Arbeiter unglücklich gemacht, weil er ihnen gesagt hat, wie schlecht es ihnen geht? Der Feminismus hat den Frauen ihre Unzufriedenheit klargemacht und diese sogar ein bisschen geschürt.
Der Feminismus hat ihnen aber auch die Begrenztheit ihrer Macht beziehungsweise ihre Ohnmacht vor Augen geführt.
Nein, der Feminismus hat ihnen diese Begrenztheit eben gerade nicht vor Augen geführt, sondern immer noch redet er ihnen ein, ihr könnt alles, und ihr könnt es genauso wie die Männer. Das stimmt einfach nicht. Den Frauen wird eine Situation vorgegaukelt, die so nicht existiert.
Was empfehlen Sie gegen das Dilemma?
Der Groschen muss emotional fallen. Wenn Frauen sich ihrer neuen Freiheit bewusst werden, wenn sie sich klarmachen, ich kann mir endlich den Mann aussuchen, den ich mir immer gewünscht habe, unabhängig davon, ob er eine gute Partie ist. Dann hätte die Emanzipation sehr viel geleistet. Sich freizumachen von der Meinung der anderen. Ich nehme als Beispiel gern den Umgang mit Homosexualität. Noch vor vierzig Jahren war sie verboten. Jetzt habe ich Patienten, die als Homosexuelle ein erfolgreiches, glückliches Leben führen – warum soll es in einigen Jahrzehnten nicht Paare geben, die es anders machen, wo er etwa zu Hause ist und die Kinder betreut und sie die Familie ernährt, und keiner nimmt mehr Anstoss daran?
Haben die Jungen, die allein von ihrer Mutter aufgezogen wurden, ein anderes Verhältnis zu Frauen? Weniger Angst vor starken Frauen?
Manchmal haben die besonders grosse Angst, gerade weil die Mutter so stark war. Zudem haben sie oft ein anderes Beziehungsschema, tun sich schwer, ihre Partnerin zum Beispiel mit deren Freundinnen zu teilen. Sie sind verwöhnt mit ausschliesslicher Aufmerksamkeit. Der Partner wird noch stärker für das eigene Glück verantwortlich gemacht.
Ist es dieser Glücksanspruch, der alles so kompliziert macht? Oder sind es die Forderungen der Frauen?
Frauen haben Männern deren alte Privilegien aufgekündigt, sie sagen, du bist nicht mehr der Herr im Haus, du musst was für Kinder und Haushalt tun. Zugleich bleiben die alten Forderungen bestehen: Du musst Erfolg haben, damit ich dich attraktiv finde. Das heisst, neue Forderungen sind dazugekommen, daraus entspringt auch für Männer eine Doppelbelastung. Bei Männern kommt nur das Gefühl an, oh Gott, Frauen sind so anspruchsvoll.
Viele Paartherapeuten sagen, Männer wollen vor allem versorgt werden zu Hause. Haben Männer Ansprüche an eine Beziehung?
Es gibt sicher noch viele Männer, die finden, mir reichen die klassischen Rollen, die Frau soll ein bisschen lieb sein und das Bier aus dem Keller holen, aber bei der Stehparty auch was hermachen und Smalltalk beherrschen. Aber Bedingungen an die Beziehung gibts von beiden Seiten, wie gesagt, es gibt keine Beziehung zwischen Menschen, die so an Bedingungen geknüpft ist wie die zwischen Mann und Frau.
Ist das unausrottbar?
Ja. Es ist aber sicher eine Grundkonstante bei dem Spiel, wie man zueinanderfindet. Die Frage ist, wie man das kulturell modifiziert.
Wo ist der Spielraum?
Man kann einer Frau nicht sagen, verlieb dich mal in einen kleineren. Ich höre immer wieder, die Männer sollen ihr Beuteschema ändern – nur, sie haben es schon verändert oder wenigstens erweitert. Früher, vor 30, 40 Jahren, betrachteten Männer Frauen über 30 ganz anders als heute, sie waren nicht mehr jung, als Ehefrauen weniger unattraktiv. Heute sagt kein Mann, eine Frau mit 40 ist übern Jordan. Denn mit der kann er noch immer eine Familie gründen, auch dank der Infertilitätsmedizin. Und eine Frau muss bereit sein, ihre Stärke, also konkret ihren guten Verdienst, auch zu teilen.
Was heisst das?
Meine Wahrnehmung ist, dass Männer froh sind, wenn sie mal zu Wort kommen, und Frauen es deutlich weniger gern haben, wenn man ihnen widerspricht. Es ist momentan ja so, das Original ist die Frau und die Ableitung ist der Mann, insbesondere beim Verhalten in der Partnerschaft. Die Frau hat die Definitionsmacht, was der Mann leisten muss, zum Beispiel zuhören, wenn sie abends nach Hause kommt, und der Mann ist die Abweichung, wenn er stattdessen lieber Fussball schauen will. Beiden ist nicht bewusst: Ein Gespräch über die Unbill des Alltags bedeutet für Frauen und Männer emotional etwas komplett anderes. Frauen pflegen über Kommunikation ihre Beziehung, Männer bekennen sich so als Loser. Er sagt damit, ich hab nichts erjagt, ich hab nichts geschafft. Wir sind da einfach sehr verschieden.
Passen wir überhaupt zueinander?
Unbedingt. Nur darf man nicht glauben wie Alice Schwarzer, dass Mann und Frau gleich sind, und von sich auf den anderen schliessen, sonst macht man einen Riesenfehler. Der liebe Gott hat uns so geschaffen, dass meine Haut hier aufhört und die Haut meiner Frau erst dort anfängt, wir sind keine Einheit. Die Andersartigkeit muss man nicht verstehen, nur akzeptieren. Man versteht nicht alles, manchmal sogar gar nichts.
Sind wir Opfer unseres Perfektionsstrebens geworden? Unserer Überansprüche?
Frauen stilisieren sich gern als Opfer. Doch dann müsste es auch einen Täter geben. Der Feminismus hat etwas ganz Wunderbares bewirkt, und zwar für Frauen wie Männer, er hat die Rollenvielfalt erweitert. Heute kann ein Paar sich überlegen, wie wollen wir es machen? Die Rollenflexibilität wurde von der Frauenbewegung geschaffen, aber man fährt die Ernte bisher nicht gut ein, obwohl sie reich ist. Man meint dummerweise, überall seinen Part perfekt spielen zu müssen und empfindet das als schwere Doppelbelastung. Ich kenne keine Hausfrau und Mutter, die sagt, alles super, das traut sich keine zu sagen. Nicht in ihrer Frauenbewertungswelt – denn kein Mann sagt auf der Party zu einer Hausfrau, warum arbeitest du nicht? Der Anspruch kommt nicht von den Männern, sondern von den Frauen an die Frauen.
Bleibt die Hausfrau als Frau für einen Mann interessant?
Klar, wenn sie ihm sympathisch ist und, krass gesagt, gut ausschaut. Und vor allem, wenn sie ihn anlacht und sagt, mir gehts gut.
Wo auf der Messlatte befindet sich die Emanzipation?
Auf halbem Weg. Es wird noch dreissig Jahre dauern bis zum Ziel. Da sind einerseits die Frauen gefragt, indem sie aus Männern, die sich um Kinder und Haushalt kümmern, keine Männchen machen. Andererseits auch die Männer, die diese neuen Rollen auch übernehmen müssen.
Ist das Ziel, dass am Ende niemand mehr versteht, dass Hausmänner einst als Schlappschwänze galten?
Man wirds schon noch verstehen, aber nicht mehr als Zumutung wahrnehmen, so wenig wie das Schwulenpärchen von nebenan heute. Und Frauen werden auch bereit sein müssen, den Preis für ihre Emanzipation zu zahlen. Etwa bei einer Scheidung für den Unterhalt ihres Mannes aufkommen zu müssen. Den Preis zahlen wir Männer ja auch. Dann werden automatisch mehr Frauen in Führungsetagen vordringen, weil sie gezwungen sind, ihre Familie mit ihrem Beruf zu ernähren.
Was hat sich schon heute geändert?
Einerseits nichts. Fast jeder will emotionale Sicherheit, sieht sich im geborgenen Kreis der Familie mit Kindern alt werden. Andererseits lockt grosser Gewinn, wenn Männer Rollen übernehmen, die bisher als typisch weiblich gelten. Die junge Männergeneration will mit ihren Kindern zusammen sein und dass ihre Frau die Hälfte des Unterhalts bestreitet. Bei den etwa Zwanzigjährigen entwickelt sich ein neues Verständnis von Mannsein, von Vatersein.
1977 durften in Deutschland Männer ihren Frauen noch verbieten zu arbeiten, wenn darunter der Haushalt litt.
Das ist nur noch schwer vorstellbar. Aber überholte Bilder bleiben im Umlauf. Weiblich ist längst nicht mehr gleich weich und nachgiebig, sondern bedeutet vielmehr: willensstark sein, karrierebewusst und sehr machtbewusst. Frauen haben innerhalb der Familie immer geherrscht, wenn auch versteckter. Die meisten Männer herrschen gar nicht, ausser ein paar weit oben. Männer werden beherrscht. Eine sehr männliche Eigenschaft ist nämlich, zu gehorchen.
Stefan Woinoff: «Überlisten Sie Ihr Beuteschema: Warum immer mehr Frauen keinen Partner finden – und was sie dagegen tun können», Mosaik bei Goldmann, 2008
Sonntag, Januar 10, 2010
NYT: Click Off the TV, and Burn More Calories
December 22, 2009
The New York Times
Click Off the TV, and Burn More Calories
By RONI CARYN RABIN
Just push yourself away from the television. You will burn more calories.
Overweight adults who cut their viewing in half for three weeks used about 120 more calories a day than a similar group of viewers, who continued watching five hours a day on average, a small research trial has found.
While 120 calories may not sound like much, it is equivalent to the number of calories burned in a one-mile walk, said Jennifer J. Otten, lead author of the paper, published in the Dec. 14-28 issue of Archives of Internal Medicine.
“We need a longer-term study to see if this would be an intervention that would help with weight loss, or even weight gain prevention,” Dr. Otten said. “But if you add it up over time, it’s equivalent to walking eight miles a week. Over a year, it might help prevent weight gain of 12 pounds.”
To carry out the trial, the researchers recruited 36 overweight and obese adults who watched at least three hours of TV a day and randomly assigned 20 of them to cut that time in half. The reduction was enforced through an electronic lock-out device. All of the participants wore armband accelerometers that measured their movements, Dr. Otten said.
Unlike children whose television time is cut, the adults did not eat less. But they spent more time in light physical activities or sedentary activities that burn more calories than watching television does — reading, playing board games or scrapbooking.
The New York Times
Click Off the TV, and Burn More Calories
By RONI CARYN RABIN
Just push yourself away from the television. You will burn more calories.
Overweight adults who cut their viewing in half for three weeks used about 120 more calories a day than a similar group of viewers, who continued watching five hours a day on average, a small research trial has found.
While 120 calories may not sound like much, it is equivalent to the number of calories burned in a one-mile walk, said Jennifer J. Otten, lead author of the paper, published in the Dec. 14-28 issue of Archives of Internal Medicine.
“We need a longer-term study to see if this would be an intervention that would help with weight loss, or even weight gain prevention,” Dr. Otten said. “But if you add it up over time, it’s equivalent to walking eight miles a week. Over a year, it might help prevent weight gain of 12 pounds.”
To carry out the trial, the researchers recruited 36 overweight and obese adults who watched at least three hours of TV a day and randomly assigned 20 of them to cut that time in half. The reduction was enforced through an electronic lock-out device. All of the participants wore armband accelerometers that measured their movements, Dr. Otten said.
Unlike children whose television time is cut, the adults did not eat less. But they spent more time in light physical activities or sedentary activities that burn more calories than watching television does — reading, playing board games or scrapbooking.
Samstag, Januar 09, 2010
A bit of Fry and Laurie : getting Victorian..... and getting better!
Soup and broth (Victorian Gentlemen)
Stephen Fry & Emma Thompson - Be strong....
Stephen Fry & Emma Thompson - Be strong....
Freitag, Januar 08, 2010
Naiver Wunderglaube
2. Januar 2010, Neue Zürcher Zeitung
Naiver Wunderglaube
Der Fall der britischen Pianistin Joyce Hatto.
(siehe dazu auch den untenstehenden Artikel vom 07.01.2010)
Seit den neunziger Jahren sorgte eine Pianistin mit vielfältigen Einspielungen für Furore. Niemand jedoch sah sie in all den Jahren Klavier spielen. Statt argwöhnisch zu werden, zollte man Beifall. Doch die Virtuosität von Joyce Hatto erwies sich als elektronisch unterstützter Schwindel.
Von Alfred Brendel
Eine Frau, Pianistin von Beruf, verblüfft, rührt und entzückt CD-Sammler und Klavierexperten in England und Amerika. Sie ist krebskrank und steht bereits in vorgerücktem Alter. Mit ungeahnten Kräften ausgestattet, gelingt es ihr dennoch, binnen weniger Jahre den grössten Teil der Klavierliteratur aufzunehmen. Sie beherrscht nicht allein sämtliche Sonaten von Haydn, Mozart, Beethoven, Schubert oder Prokofjew, sondern auch, neben ungezählten anderen Werken, Bachs Goldberg- und Brahms' Paganini-Variationen, Liszts Transkriptionen aller Beethoven-Symphonien, Godowskys Bearbeitungen der Etüden Chopins sowie Messiaens «Vingt regards». Über hundert CD kommen zum Vorschein, ohne dass sich darin ein einziges Werk wiederholt. Längst hat sie mit dem Konzertieren aufgehört; ein Liszt gewidmeter Klavierabend in der Londoner Wigmore Hall, in dessen Verlauf sie die Nerven verlor, beendete 1967 diesen Teil ihrer Karriere. Siebenundsiebzigjährig stirbt sie im Jahr 2007. In den Londoner Zeitungen liest man.....
2. Januar 2010, Neue Zürcher Zeitung
Naiver Wunderglaube
Der Fall der britischen Pianistin Joyce Hatto.
Seit den neunziger Jahren sorgte eine Pianistin mit vielfältigen Einspielungen für Furore. Niemand jedoch sah sie in all den Jahren Klavier spielen. Statt argwöhnisch zu werden, zollte man Beifall. Doch die Virtuosität von Joyce Hatto erwies sich als elektronisch unterstützter Schwindel.
Von Alfred Brendel
Eine Frau, Pianistin von Beruf, verblüfft, rührt und entzückt CD-Sammler und Klavierexperten in England und Amerika. Sie ist krebskrank und steht bereits in vorgerücktem Alter. Mit ungeahnten Kräften ausgestattet, gelingt es ihr dennoch, binnen weniger Jahre den grössten Teil der Klavierliteratur aufzunehmen. Sie beherrscht nicht allein sämtliche Sonaten von Haydn, Mozart, Beethoven, Schubert oder Prokofjew, sondern auch, neben ungezählten anderen Werken, Bachs Goldberg- und Brahms' Paganini-Variationen, Liszts Transkriptionen aller Beethoven-Symphonien, Godowskys Bearbeitungen der Etüden Chopins sowie Messiaens «Vingt regards». Über hundert CD kommen zum Vorschein, ohne dass sich darin ein einziges Werk wiederholt. Längst hat sie mit dem Konzertieren aufgehört; ein Liszt gewidmeter Klavierabend in der Londoner Wigmore Hall, in dessen Verlauf sie die Nerven verlor, beendete 1967 diesen Teil ihrer Karriere. Siebenundsiebzigjährig stirbt sie im Jahr 2007. In den Londoner Zeitungen liest man Nachrufe, wie sie interpretierenden Musikern noch kaum zuteil wurden. Wer es noch nicht mit Hilfe des Internets oder aus Schallplattenzeitschriften erfahren hatte, wusste es nun: Joyce Hatto war «ein britisches Nationaljuwel», eine Pianistin, die den grössten Namen der Zunft nicht nachstand.
Erfundene Geschichten
Wie sich seither herausgestellt hat, war die ganze CD-Serie ein grandioser Schwindel. Joyce Hattos Ehemann William Barrington-Coupe hatte ihn, ohne Zweifel im Zusammenwirken mit seiner Ehefrau, allmählich in Szene gesetzt. Bereits seit den sechziger Jahren hatte Barrington-Coupe, ein Tontechniker von virtuosen Graden, als Produzent getan, was damals in England und Amerika gang und gäbe war, nämlich weniger beachtete musikalische Einspielungen zu stark herabgesetzten Preisen wieder in den Handel zu bringen. Es genügte, die Ausführenden umzutaufen. Schon damals machte es Barrington-Coupe Vergnügen, Sänger, Pianisten oder Dirigenten mit fiktiven Namen zu versehen. Eine Sängerin hiess bei ihm Herda Wobbel, einen Dirigenten nannte er Wilhelm Havagesse («have a guess»). 1966 sass er wegen Steuerbetrugs ein Jahr lang im Gefängnis.
Seiner Frau ergeben, beschloss er, sie berühmt zu machen. Die Konzerte, die er für sie einrichtete, führten nicht zum erhofften Erfolg. So verbreitete er die Geschichte einer Leidenden, die, von Schwächeanfällen heimgesucht und durch Schmerzen behindert, in einem Schuppen hinter dem Haus oder in einer nicht existierenden Kirche ihre Aufnahmen machte. In Wirklichkeit wurden Aufzeichnungen zahlreicher anderer Pianisten in Barrington-Coupes eigener Firma Concert Artists unter Joyce Hattos Name herausgebracht. (Eine einzige Aufnahme aus dem Jahr 1970 stammt tatsächlich von ihr, jene der «Symphonic Variations» des selbst in England kaum noch aufgeführten Sir Arnold Bax.) Im Lauf der neunziger Jahre erlaubte es der technologische Fortschritt, fremde Aufnahmen ohne grösseren Aufwand am eigenen Computer aufzubereiten. Zugleich war das Angebot an CD, die man plündern konnte, bis ins Uferlose angewachsen.
Im Internet hatten sich Diskussionsgruppen klavierbegeisterter Sammler herausgebildet, die mit Hilfe von Yahoo oder Usenet/Google ihre Meinungen austauschten. Zu den Mitgliedern dieser Gruppen gehörten auch Neugierige, die versuchten, hinter die Pseudonyme der Billigplatten zu blicken. Barrington-Coupe erwies sich dabei als bereitwilliger Helfer, der auch seltene Plattenexemplare herbeischaffte. Zugleich setzte er Schritt für Schritt den Joyce-Hatto-Mythos in die Welt. Im neuen Jahrtausend war es dann endlich so weit: Eine Handvoll namhafter angloamerikanischer Berufskritiker und Spezialisten hielt dem Sog nicht mehr Stand. Regelmässig und mit Nachdruck erwiesen sie nun dem Strom der Hatto-Aufnahmen ihre Reverenz. Abgesehen von höchster Virtuosität attestierte man Hatto «eine Richtigkeit und Ehrlichkeit» des Musizierens, der man sich getrost überlassen könne.
Inzwischen sind die Spieler der meisten CD identifiziert worden. Nicht weniger als 96 Pianisten bestreiten nach bisheriger Zählung einzelne Werke oder ganze Werkserien, sofern sie nicht eklektisch mit Ausschnitten zum Zug kommen. Die prominentesten Zelebritäten blieben offenbar ausgespart, doch findet man Namen wie Andsnes, Ashkenasy, Bronfman, Hamelin oder Kissin. Ingrid Haeblers alte Philips-Einspielungen der Mozart-Sonaten kamen wieder zu Ehren. Die Identität der Aufnahmen ist elektronisch einwandfrei erwiesen. Barrington-Coupes Beitrag bestand darin, den Klang mancher CD etwas zu verfremden, zyklische Werke aus mehreren Aufnahmen zusammenzustellen sowie manchmal Tempi zu verändern, um die Identifikation zu erschweren, denn es ist neuerdings digitaltechnisch möglich geworden, Musik langsamer oder schneller ablaufen zu lassen, ohne die Tonhöhe anzutasten. Bei Liszts «Feux follets» in beschleunigter Ausfertigung brach den Hörern der kalte Schweiss aus.
Begnadete Schwindler
Die Freude, Kenner zu düpieren, muss beträchtlich gewesen sein. Auch mündlich und schriftlich hat sich Barrington-Coupe als begnadeter Schwindler ausgewiesen, der dem jeweiligen Gesprächspartner mühelos nach dem Mund redete. Einem Korrespondenten, der seine CD direkt bei Barrington-Coupes Firma bezog, vermittelte er über Jahre hinweg den Eindruck, das Unternehmen beschäftige an vier verschiedenen Orten 32 Angestellte. De facto lief alles in Barrington-Coupes Häuschen in Royston, Herfordshire, zusammen. Auch Joyce Hatto, eine Person von konfuser und quirliger Lebendigkeit, scheint im persönlichen Umgang gute Figur gemacht zu haben. Ihre Fähigkeit, aus dem Stegreif prominente Musikernamen ins Gespräch einzuflechten, kannte keine Hemmungen. Clara Haskil habe sie zahlreiche Scarlatti-Sonaten vorgespielt, mit Alfred Cortot sei sie immer wieder in Londons National Gallery gegangen. Als der damalige Chefkritiker des «Boston Globe» das Ehepaar 2005 interviewt hatte, rühmte er nicht nur Hattos Klavierspiel, sondern auch ihren Sinn für Humor. Sie habe, wie er berichtete, eine hohe mädchenhafte Stimme und spreche mit der Geschwindigkeit einer ihrer Liszt-Etüden.
Phantastische Behauptungen
Joyce Hattos Biografie, wie sie von Barrington-Coupe mitgeteilt wurde, wimmelt von Unwahrscheinlichkeiten, die ohne jeden Argwohn in die Nachrufe aufgenommen wurden. Dreimal hatte Joyce Hatto die Aufnahmeprüfung, die Musikern den Zugang zu BBC-Sendungen eröffnet, verfehlt. Kein Londoner Orchester wollte sie engagieren. Dass sie dennoch mit Dirigenten wie de Sabata oder Furtwängler aufgetreten sein sollte, ist ebenso phantastisch wie die Behauptung, Furtwängler habe ihre Hammerklaviersonate gehört und sei davon beeindruckt gewesen, oder die angebliche Eloge Hindemiths. Jeden Morgen, so hiess es, begab sie sich zuallererst vom Bett zum Flügel, um das Finale der b-Moll-Sonate Chopins prestissimo abzuspulen. Noch drei Wochen vor ihrem Tod habe sie, im Rollstuhl sitzend, eine Aufnahme gemacht. Von welchem Werk? Von Beethovens Lebewohl-Sonate natürlich.
Als ein Sammler Barrington-Coupe über den völlig unbekannten und undokumentierten Kapellmeister René Köhler befragte, der, wie es hiess, regelmässig Hattos Orchesteraufnahmen dirigierte, las man alsbald auf der Website der Produktionsfirma einen Lebenslauf, dessen Kühnheit man seinen Respekt nicht versagen kann: Köhler sei in Weimar aufgewachsen, habe bei den Pianisten Stanislav Spinalski und an der Jagellonischen Universität in Krakau studiert, bevor ein junger deutscher Offizier ihm 1940 die linke Hand zerschmettert habe. Dann überlebte er Treblinka, wurde jedoch anschliessend in ein sowjetisches Arbeitslager deportiert, in dem er bis 1970 blieb. Von zarter Gesundheit, starb er an Prostatakrebs. (Das Pseudonym René Köhler war bereits in den fünfziger Jahren aufgetaucht.)
Abenteuerliche Leichtgläubigkeit
Es gibt mehrere Spielarten, auf die Affäre Joyce Hatto zu reagieren. Da ist zunächst schmunzelnde Bewunderung für die Unverfrorenheit des Ehepaars und für Barrington-Coupes technisches und organisatorisches Geschick, gepaart mit Schadenfreude darüber, dass Fachleuten eins ausgewischt wurde. Ein zweiter Blickwinkel sieht die Angelegenheit von der humanitären Seite. Nicht nur die rührende Vorstellung einer Gattenliebe, die seiner Frau die Beachtung zu vermitteln suchte, welche sie als Pianistin nicht gefunden hatte («Ich tat alles nur für sie»), sondern auch das Bild einer Heroine des Klavierspiels, die sich, in ihrem Leben bedroht und doch mit dem höchsten Anspruch auf Perfektion, ein Virtuosenstück nach dem anderen abtrotzt. Die durch ihr Einstehen für Joyce Hatto Betroffenen argumentieren, es wäre ja geradezu zynisch gewesen, sich nicht dem Mitgefühl zu überlassen. Man sei doch schliesslich ein Mensch. Wo der Zynismus eigentlich zu suchen ist, nämlich in der Mentalität der Schwindler, kommt dabei nicht zur Sprache. Dann ist da noch die Perspektive der vielen bestohlenen Kollegen. (Ich gehöre, nach dem bisherigen Stand der Dinge, nicht dazu.) Eine grössere Anzahl von Aufnahmen, die vorher meist weniger beachtet, wenn nicht geschmäht oder vergessen waren, stand plötzlich unter falschem Namen auf dem höchsten Kothurn. Dieselben Aufführungen von Rachmaninow-Konzerten, denen 15 Jahre früher jedes Gefühl für slawische Melancholie abgesprochen worden war, erschienen nun den Ohren desselben Experten besonders slawisch.
Es ist schwer zu sagen, worüber man mehr staunen sollte: über die Wirklichkeitsferne, die es einer noch dazu kranken Frau zutraute, ein riesiges, auch athletisch höchst anspruchsvolles Repertoire innerhalb eines Jahrzehnts aufzunehmen, ein Repertoire, das kein Übermensch während eines langen gesunden Lebens bewältigen könnte; über die Naivität, mit der man auf die abenteuerlichsten Erklärungen und Erfindungen hereinfiel; über die Sorglosigkeit, mit der ein Klavierspiel akzeptiert wurde, dem seit den siebziger Jahren niemand als Augenzeuge beigewohnt hatte; über die Leichtgläubigkeit, mit der Namen nicht existierender Dirigenten und Orchester hingenommen wurden; über die unglaubliche Tatsache, dass man das Spiel einer Hundertschaft verschiedenster Pianisten für jenes einer einzigen Person hielt («Ihr schöner Klang gehört ihr allein»); über die Vergesslichkeit, mit welcher Aufführungen nun als ideal und herzbewegend hingestellt wurden, die vorher herabsetzend besprochen worden waren; oder über die Voreingenommenheit, die in die Aufnahmen hineintrug, was man in ihnen hören wollte. Das Bedürfnis, an Wunder zu glauben, scheint nicht abhanden gekommen zu sein.
Der Pianist Alfred Brendel, 1931 in Wiesenberg, Nordmähren, geboren, lebt in London.
Naiver Wunderglaube
Der Fall der britischen Pianistin Joyce Hatto.
(siehe dazu auch den untenstehenden Artikel vom 07.01.2010)
Seit den neunziger Jahren sorgte eine Pianistin mit vielfältigen Einspielungen für Furore. Niemand jedoch sah sie in all den Jahren Klavier spielen. Statt argwöhnisch zu werden, zollte man Beifall. Doch die Virtuosität von Joyce Hatto erwies sich als elektronisch unterstützter Schwindel.
Von Alfred Brendel
Eine Frau, Pianistin von Beruf, verblüfft, rührt und entzückt CD-Sammler und Klavierexperten in England und Amerika. Sie ist krebskrank und steht bereits in vorgerücktem Alter. Mit ungeahnten Kräften ausgestattet, gelingt es ihr dennoch, binnen weniger Jahre den grössten Teil der Klavierliteratur aufzunehmen. Sie beherrscht nicht allein sämtliche Sonaten von Haydn, Mozart, Beethoven, Schubert oder Prokofjew, sondern auch, neben ungezählten anderen Werken, Bachs Goldberg- und Brahms' Paganini-Variationen, Liszts Transkriptionen aller Beethoven-Symphonien, Godowskys Bearbeitungen der Etüden Chopins sowie Messiaens «Vingt regards». Über hundert CD kommen zum Vorschein, ohne dass sich darin ein einziges Werk wiederholt. Längst hat sie mit dem Konzertieren aufgehört; ein Liszt gewidmeter Klavierabend in der Londoner Wigmore Hall, in dessen Verlauf sie die Nerven verlor, beendete 1967 diesen Teil ihrer Karriere. Siebenundsiebzigjährig stirbt sie im Jahr 2007. In den Londoner Zeitungen liest man.....
2. Januar 2010, Neue Zürcher Zeitung
Naiver Wunderglaube
Der Fall der britischen Pianistin Joyce Hatto.
Seit den neunziger Jahren sorgte eine Pianistin mit vielfältigen Einspielungen für Furore. Niemand jedoch sah sie in all den Jahren Klavier spielen. Statt argwöhnisch zu werden, zollte man Beifall. Doch die Virtuosität von Joyce Hatto erwies sich als elektronisch unterstützter Schwindel.
Von Alfred Brendel
Eine Frau, Pianistin von Beruf, verblüfft, rührt und entzückt CD-Sammler und Klavierexperten in England und Amerika. Sie ist krebskrank und steht bereits in vorgerücktem Alter. Mit ungeahnten Kräften ausgestattet, gelingt es ihr dennoch, binnen weniger Jahre den grössten Teil der Klavierliteratur aufzunehmen. Sie beherrscht nicht allein sämtliche Sonaten von Haydn, Mozart, Beethoven, Schubert oder Prokofjew, sondern auch, neben ungezählten anderen Werken, Bachs Goldberg- und Brahms' Paganini-Variationen, Liszts Transkriptionen aller Beethoven-Symphonien, Godowskys Bearbeitungen der Etüden Chopins sowie Messiaens «Vingt regards». Über hundert CD kommen zum Vorschein, ohne dass sich darin ein einziges Werk wiederholt. Längst hat sie mit dem Konzertieren aufgehört; ein Liszt gewidmeter Klavierabend in der Londoner Wigmore Hall, in dessen Verlauf sie die Nerven verlor, beendete 1967 diesen Teil ihrer Karriere. Siebenundsiebzigjährig stirbt sie im Jahr 2007. In den Londoner Zeitungen liest man Nachrufe, wie sie interpretierenden Musikern noch kaum zuteil wurden. Wer es noch nicht mit Hilfe des Internets oder aus Schallplattenzeitschriften erfahren hatte, wusste es nun: Joyce Hatto war «ein britisches Nationaljuwel», eine Pianistin, die den grössten Namen der Zunft nicht nachstand.
Erfundene Geschichten
Wie sich seither herausgestellt hat, war die ganze CD-Serie ein grandioser Schwindel. Joyce Hattos Ehemann William Barrington-Coupe hatte ihn, ohne Zweifel im Zusammenwirken mit seiner Ehefrau, allmählich in Szene gesetzt. Bereits seit den sechziger Jahren hatte Barrington-Coupe, ein Tontechniker von virtuosen Graden, als Produzent getan, was damals in England und Amerika gang und gäbe war, nämlich weniger beachtete musikalische Einspielungen zu stark herabgesetzten Preisen wieder in den Handel zu bringen. Es genügte, die Ausführenden umzutaufen. Schon damals machte es Barrington-Coupe Vergnügen, Sänger, Pianisten oder Dirigenten mit fiktiven Namen zu versehen. Eine Sängerin hiess bei ihm Herda Wobbel, einen Dirigenten nannte er Wilhelm Havagesse («have a guess»). 1966 sass er wegen Steuerbetrugs ein Jahr lang im Gefängnis.
Seiner Frau ergeben, beschloss er, sie berühmt zu machen. Die Konzerte, die er für sie einrichtete, führten nicht zum erhofften Erfolg. So verbreitete er die Geschichte einer Leidenden, die, von Schwächeanfällen heimgesucht und durch Schmerzen behindert, in einem Schuppen hinter dem Haus oder in einer nicht existierenden Kirche ihre Aufnahmen machte. In Wirklichkeit wurden Aufzeichnungen zahlreicher anderer Pianisten in Barrington-Coupes eigener Firma Concert Artists unter Joyce Hattos Name herausgebracht. (Eine einzige Aufnahme aus dem Jahr 1970 stammt tatsächlich von ihr, jene der «Symphonic Variations» des selbst in England kaum noch aufgeführten Sir Arnold Bax.) Im Lauf der neunziger Jahre erlaubte es der technologische Fortschritt, fremde Aufnahmen ohne grösseren Aufwand am eigenen Computer aufzubereiten. Zugleich war das Angebot an CD, die man plündern konnte, bis ins Uferlose angewachsen.
Im Internet hatten sich Diskussionsgruppen klavierbegeisterter Sammler herausgebildet, die mit Hilfe von Yahoo oder Usenet/Google ihre Meinungen austauschten. Zu den Mitgliedern dieser Gruppen gehörten auch Neugierige, die versuchten, hinter die Pseudonyme der Billigplatten zu blicken. Barrington-Coupe erwies sich dabei als bereitwilliger Helfer, der auch seltene Plattenexemplare herbeischaffte. Zugleich setzte er Schritt für Schritt den Joyce-Hatto-Mythos in die Welt. Im neuen Jahrtausend war es dann endlich so weit: Eine Handvoll namhafter angloamerikanischer Berufskritiker und Spezialisten hielt dem Sog nicht mehr Stand. Regelmässig und mit Nachdruck erwiesen sie nun dem Strom der Hatto-Aufnahmen ihre Reverenz. Abgesehen von höchster Virtuosität attestierte man Hatto «eine Richtigkeit und Ehrlichkeit» des Musizierens, der man sich getrost überlassen könne.
Inzwischen sind die Spieler der meisten CD identifiziert worden. Nicht weniger als 96 Pianisten bestreiten nach bisheriger Zählung einzelne Werke oder ganze Werkserien, sofern sie nicht eklektisch mit Ausschnitten zum Zug kommen. Die prominentesten Zelebritäten blieben offenbar ausgespart, doch findet man Namen wie Andsnes, Ashkenasy, Bronfman, Hamelin oder Kissin. Ingrid Haeblers alte Philips-Einspielungen der Mozart-Sonaten kamen wieder zu Ehren. Die Identität der Aufnahmen ist elektronisch einwandfrei erwiesen. Barrington-Coupes Beitrag bestand darin, den Klang mancher CD etwas zu verfremden, zyklische Werke aus mehreren Aufnahmen zusammenzustellen sowie manchmal Tempi zu verändern, um die Identifikation zu erschweren, denn es ist neuerdings digitaltechnisch möglich geworden, Musik langsamer oder schneller ablaufen zu lassen, ohne die Tonhöhe anzutasten. Bei Liszts «Feux follets» in beschleunigter Ausfertigung brach den Hörern der kalte Schweiss aus.
Begnadete Schwindler
Die Freude, Kenner zu düpieren, muss beträchtlich gewesen sein. Auch mündlich und schriftlich hat sich Barrington-Coupe als begnadeter Schwindler ausgewiesen, der dem jeweiligen Gesprächspartner mühelos nach dem Mund redete. Einem Korrespondenten, der seine CD direkt bei Barrington-Coupes Firma bezog, vermittelte er über Jahre hinweg den Eindruck, das Unternehmen beschäftige an vier verschiedenen Orten 32 Angestellte. De facto lief alles in Barrington-Coupes Häuschen in Royston, Herfordshire, zusammen. Auch Joyce Hatto, eine Person von konfuser und quirliger Lebendigkeit, scheint im persönlichen Umgang gute Figur gemacht zu haben. Ihre Fähigkeit, aus dem Stegreif prominente Musikernamen ins Gespräch einzuflechten, kannte keine Hemmungen. Clara Haskil habe sie zahlreiche Scarlatti-Sonaten vorgespielt, mit Alfred Cortot sei sie immer wieder in Londons National Gallery gegangen. Als der damalige Chefkritiker des «Boston Globe» das Ehepaar 2005 interviewt hatte, rühmte er nicht nur Hattos Klavierspiel, sondern auch ihren Sinn für Humor. Sie habe, wie er berichtete, eine hohe mädchenhafte Stimme und spreche mit der Geschwindigkeit einer ihrer Liszt-Etüden.
Phantastische Behauptungen
Joyce Hattos Biografie, wie sie von Barrington-Coupe mitgeteilt wurde, wimmelt von Unwahrscheinlichkeiten, die ohne jeden Argwohn in die Nachrufe aufgenommen wurden. Dreimal hatte Joyce Hatto die Aufnahmeprüfung, die Musikern den Zugang zu BBC-Sendungen eröffnet, verfehlt. Kein Londoner Orchester wollte sie engagieren. Dass sie dennoch mit Dirigenten wie de Sabata oder Furtwängler aufgetreten sein sollte, ist ebenso phantastisch wie die Behauptung, Furtwängler habe ihre Hammerklaviersonate gehört und sei davon beeindruckt gewesen, oder die angebliche Eloge Hindemiths. Jeden Morgen, so hiess es, begab sie sich zuallererst vom Bett zum Flügel, um das Finale der b-Moll-Sonate Chopins prestissimo abzuspulen. Noch drei Wochen vor ihrem Tod habe sie, im Rollstuhl sitzend, eine Aufnahme gemacht. Von welchem Werk? Von Beethovens Lebewohl-Sonate natürlich.
Als ein Sammler Barrington-Coupe über den völlig unbekannten und undokumentierten Kapellmeister René Köhler befragte, der, wie es hiess, regelmässig Hattos Orchesteraufnahmen dirigierte, las man alsbald auf der Website der Produktionsfirma einen Lebenslauf, dessen Kühnheit man seinen Respekt nicht versagen kann: Köhler sei in Weimar aufgewachsen, habe bei den Pianisten Stanislav Spinalski und an der Jagellonischen Universität in Krakau studiert, bevor ein junger deutscher Offizier ihm 1940 die linke Hand zerschmettert habe. Dann überlebte er Treblinka, wurde jedoch anschliessend in ein sowjetisches Arbeitslager deportiert, in dem er bis 1970 blieb. Von zarter Gesundheit, starb er an Prostatakrebs. (Das Pseudonym René Köhler war bereits in den fünfziger Jahren aufgetaucht.)
Abenteuerliche Leichtgläubigkeit
Es gibt mehrere Spielarten, auf die Affäre Joyce Hatto zu reagieren. Da ist zunächst schmunzelnde Bewunderung für die Unverfrorenheit des Ehepaars und für Barrington-Coupes technisches und organisatorisches Geschick, gepaart mit Schadenfreude darüber, dass Fachleuten eins ausgewischt wurde. Ein zweiter Blickwinkel sieht die Angelegenheit von der humanitären Seite. Nicht nur die rührende Vorstellung einer Gattenliebe, die seiner Frau die Beachtung zu vermitteln suchte, welche sie als Pianistin nicht gefunden hatte («Ich tat alles nur für sie»), sondern auch das Bild einer Heroine des Klavierspiels, die sich, in ihrem Leben bedroht und doch mit dem höchsten Anspruch auf Perfektion, ein Virtuosenstück nach dem anderen abtrotzt. Die durch ihr Einstehen für Joyce Hatto Betroffenen argumentieren, es wäre ja geradezu zynisch gewesen, sich nicht dem Mitgefühl zu überlassen. Man sei doch schliesslich ein Mensch. Wo der Zynismus eigentlich zu suchen ist, nämlich in der Mentalität der Schwindler, kommt dabei nicht zur Sprache. Dann ist da noch die Perspektive der vielen bestohlenen Kollegen. (Ich gehöre, nach dem bisherigen Stand der Dinge, nicht dazu.) Eine grössere Anzahl von Aufnahmen, die vorher meist weniger beachtet, wenn nicht geschmäht oder vergessen waren, stand plötzlich unter falschem Namen auf dem höchsten Kothurn. Dieselben Aufführungen von Rachmaninow-Konzerten, denen 15 Jahre früher jedes Gefühl für slawische Melancholie abgesprochen worden war, erschienen nun den Ohren desselben Experten besonders slawisch.
Es ist schwer zu sagen, worüber man mehr staunen sollte: über die Wirklichkeitsferne, die es einer noch dazu kranken Frau zutraute, ein riesiges, auch athletisch höchst anspruchsvolles Repertoire innerhalb eines Jahrzehnts aufzunehmen, ein Repertoire, das kein Übermensch während eines langen gesunden Lebens bewältigen könnte; über die Naivität, mit der man auf die abenteuerlichsten Erklärungen und Erfindungen hereinfiel; über die Sorglosigkeit, mit der ein Klavierspiel akzeptiert wurde, dem seit den siebziger Jahren niemand als Augenzeuge beigewohnt hatte; über die Leichtgläubigkeit, mit der Namen nicht existierender Dirigenten und Orchester hingenommen wurden; über die unglaubliche Tatsache, dass man das Spiel einer Hundertschaft verschiedenster Pianisten für jenes einer einzigen Person hielt («Ihr schöner Klang gehört ihr allein»); über die Vergesslichkeit, mit welcher Aufführungen nun als ideal und herzbewegend hingestellt wurden, die vorher herabsetzend besprochen worden waren; oder über die Voreingenommenheit, die in die Aufnahmen hineintrug, was man in ihnen hören wollte. Das Bedürfnis, an Wunder zu glauben, scheint nicht abhanden gekommen zu sein.
Der Pianist Alfred Brendel, 1931 in Wiesenberg, Nordmähren, geboren, lebt in London.
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Donnerstag, Januar 07, 2010
Die Tatsachen der Lüge
1. Dezember 2009, Neue Zürcher Zeitung
Die Tatsachen der Lüge
Über die Wiederkehr des Hochstaplers in Zeiten der wirtschaftlichen Krise
Wenn Gesellschaften ihre Bodenhaftung verlieren, schlägt die Stunde des Hochstaplers. Die zwanziger Jahre waren ein Zeitalter, in dem das Aufschneidertum grassierte (und seine literarische Spiegelung fand). Heute, nach dem Platzen der New-Economy- und Subprime-Blase, wissen wir, dass wir nicht klüger sind.
Von Evelyne Polt-Heinzl
«Hochstapler gab es immer, Menschen, die unter der Vorspiegelung, mehr zu sein, anderes zu sein, als sie tatsächlich waren, vom Schein lebten.» Mit diesem Satz eröffnet Albert Ehrenstein 1925 sein Vorwort zu Thomas Schrameks authentischer Hochstaplergeschichte «Freiherr von Egloffstein». Sie erschien in der Reihe «Aussenseiter der Gesellschaft – Die Verbrechen der Gegenwart», die Rudolf Leonhard am Ende der turbulenten Inflationsjahre im Verlag «Die Schmiede» startete.
Wenn Gesellschaften radikale Erschütterungen erleben und damit tradierte Sicherheiten wegbrechen, schlägt die Stunde des Hochstaplers. Er profitiert vom Wegfall einigermassen nachprüfbarer Kriterien zur Einschätzung sozialen und ökonomischen Handelns. Das ist nach Kriegen nicht anders als in Phasen entfesselter Wirtschaftsprozesse. Es ist also kein Zufall, dass....
1. Dezember 2009, Neue Zürcher Zeitung
Die Tatsachen der Lüge
Über die Wiederkehr des Hochstaplers in Zeiten der wirtschaftlichen Krise
Wenn Gesellschaften ihre Bodenhaftung verlieren, schlägt die Stunde des Hochstaplers. Die zwanziger Jahre waren ein Zeitalter, in dem das Aufschneidertum grassierte (und seine literarische Spiegelung fand). Heute, nach dem Platzen der New-Economy- und Subprime-Blase, wissen wir, dass wir nicht klüger sind.
Von Evelyne Polt-Heinzl
«Hochstapler gab es immer, Menschen, die unter der Vorspiegelung, mehr zu sein, anderes zu sein, als sie tatsächlich waren, vom Schein lebten.» Mit diesem Satz eröffnet Albert Ehrenstein 1925 sein Vorwort zu Thomas Schrameks authentischer Hochstaplergeschichte «Freiherr von Egloffstein». Sie erschien in der Reihe «Aussenseiter der Gesellschaft – Die Verbrechen der Gegenwart», die Rudolf Leonhard am Ende der turbulenten Inflationsjahre im Verlag «Die Schmiede» startete.
Wenn Gesellschaften radikale Erschütterungen erleben und damit tradierte Sicherheiten wegbrechen, schlägt die Stunde des Hochstaplers. Er profitiert vom Wegfall einigermassen nachprüfbarer Kriterien zur Einschätzung sozialen und ökonomischen Handelns. Das ist nach Kriegen nicht anders als in Phasen entfesselter Wirtschaftsprozesse. Es ist also kein Zufall, dass diese Figur sich just in unseren Tagen auf dem Theater wie in den Medien wieder zu regen beginnt. «Schöner lügen – Hochstapler bekennen», nannte sich eine Textcollage, die Ende 2008 am Wiener Burgtheater gezeigt wurde und vor allem auf Walter Serners «Handbrevier für Hochstapler» zurückgriff, das 2007 neu aufgelegt wurde.
Jung, smart, dynamisch
In der Realität war der Hochstapler schon 2000 im Umfeld der New-Economy-Blase wieder aufgetaucht. Das offensiv vermarktete Erfolgsetikett ihrer Akteure, das im Übrigen erstmals die Inflationsgewinnler der zwanziger Jahre für sich reklamierten, lautete «jung, smart, dynamisch». Einige wenige dieser «schillernden» Figuren, wie sie im Wirtschaftsteil gerne tituliert werden, landeten nach dem Platzen der Blase vor Gericht, der Rest fügte sich ins zunehmend deregulierte Börsenspiel unauffällig ein. Die Literatur hat diese Zusammenhänge klarer erkannt, als die Wirtschaftsforscher sie wahrhaben wollten. Der Ex-Broker in Paul Divjaks Roman «Kinsky» (2007) oder der Börsenguru Max in Marlene Streeruwitz' Roman «Kreuzungen» (2008) sind beide, wie viele der heutigen Profiteure im Dschungel der Derivatgeschäfte, Quereinsteiger von unten. Sie begannen ihre Karrieren als Hochstapler mit zweifelhaften Luftgeschäften im grossen Stil, und es erging ihnen wie in der Realität: Einige können sich wie Max durchsetzen und darauf vertrauen, dass späterhin keiner mehr nach der Herkunft der ersten Million fragt; andere bewältigen den Aufstieg nicht und stürzen rasch wieder ab wie Kinsky.
Das bevorzugte Aktionsfeld des Hochstaplers sind immer Boombranchen, wo das Geschäftsgebaren tendenziell ausser Kontrolle gerät. Das generiert einen Handlungsraum, in dem ohne Fundament agiert werden kann. Wer die Erwartungshaltungen und (Bild-)Vorstellungen dieses Feldes besonders kühn und selbstgewiss bedient, hat gute Chancen auf Erfolg, unabhängig von seinem realen Standing. «Ein phantastischer Lügner ist jener Lügner, dessen Lügen zu den Tatsachen stimmen», sagt Vinzenz in Robert Musils Komödie «Vinzenz oder die Freundin bedeutender Männer» (1924), der mit dem Gestus der Hochstapelei experimentiert. «In dieser wahrhaftig sträflichen Unordnung», so Vinzenz, «lasse einfach auch ich manchmal ein kleines Kügelchen rollen; und das Merkwürdigste ist: in welcher . . . Richtung Du auch eine solche kleine Handlung abgehen lässt, sie kommt immer gut durch die Wirklichkeit durch, als wäre sie dort geradezu erwartet worden.»
Auch der Kulturbetrieb ist ein mögliches Operationsgebiet, das hat Daniel Kehlmann bereits 2003 in seinem Roman «Ich und Kaminski» vorgeführt: Sein Kunstkritiker ist ein «veritabler Hochstapler ohne Bildung und ohne einschlägige Kenntnisse», so formulierte ein Kritiker, allerdings erst im Jahr 2009. Kehlmanns Roman könnte man als Satire abtun, doch es gibt auch gerichtsanhängige Fallgeschichten. Im Frühjahr 2005 tauchte in Österreich ein Mann namens Peter Kafka auf, der sich als deutscher Countertenor ausgab und in Wien als Intendant auftrat: Er plante im Garten des traditionsreichen Wiener Palais Schwarzenberg ein Arien-Potpourri als gigantische Sommeroper aufzuziehen, engagierte den Regisseur Wolfgang Ritzberger, ein Orchester, ein ganzes Schock von Sängern, setzte die Proben in gediegenen Konzertsälen an, bestellte aufwendige Kostüme und ein üppiges Catering. Der Vorverkauf lief an, doch die Premiere kam nicht zustande. Der Intendant entpuppte sich gewissermassen als idealtypischer Quereinsteiger, dessen Qualifikation in einer abgebrochenen Bäckerlehre und einem selbstbewussten Auftreten bestand. Das erfuhr man allerdings erst nach seiner Flucht. Zurück blieben ein düpiertes Ensemble und ein Schaden von 420 000 Euro. Interessanterweise fiel im Jahr 2005 nie der Begriff Hochstapler, wiewohl Peter Kafka idealtypisch diesem Typus entsprach. Man berichtete damals generell nicht allzu ausführlich über den Fall, wohl auch, weil er die Frage nach Praktiken des Kulturbetriebs und seiner Neigung zu «Eventisierung» und Geschäftemacherei mit in den Raum stellte.
Analogien zur Zwischenkriegszeit
Dass der Begriff heute wieder rascher zur Hand ist, hat mit dem Ausbruch der Wirtschaftskrise zu tun, die Analogien zur Zwischenkriegszeit wachrief, und das war eben eine Blütezeit des Hochstaplers. Um das zu recherchieren, kann man die damaligen Zeitungen durchblättern oder die Epochenromane lesen. Eine klassische Fallgeschichte liefert etwa Hermann Broch im dritten Teil seiner «Schlafwandler»-Trilogie mit der Figur des Deserteurs und Luftgeschäftemachers Huguenau. Die dichtesten Epochenporträts stammen mitunter allerdings nicht von den kanonisierten Autoren, was durchaus auch im Sinne einer Kanon-Revision nützliche Folgen haben könnte.
Literarisch ist der Hochstapler jedenfalls organischer Bestandteil im Bild der «Goldenen Zwanziger Jahre». Seine Orte sind die Verkehrsflächen des Luxuskonsums, die immer proportional zur Möglichkeit des «schnellen grossen Geldes» an Bedeutung gewinnen, denn die Befriedigung der Aufgestiegenen liegt im Zurschaustellen ihres neuen Reichtums. Was in unserer Zeit das hochpreisige In-Lokal ist, war damals die Hotelbar. Die Welt der Mondänen im Getriebe der Nobelhotels, hier ist der Hochstapler zu Hause; alle Akteure dieses Biotops haben Geld oder auch nicht, jedenfalls wahren sie den Schein. Wie sie dazu gekommen sind, ja sogar, ob es im Moment des Zusammentreffens überhaupt noch vorhanden ist, kursiert allenfalls als Gerücht. In Maria Peteanis oft verfilmtem Roman «Der Page vom Dalmasse Hotel» (1933) wispern sich die beiden Hochstaplerinnen, die sich als reiche Amerikanerinnen ausgeben und einen soliden preussischen Gutsherrn angeln wollen, einmal ängstlich zu: «Hoffentlich ist er kein Hochstapler.»
«Auf Herkunft kann er sich nicht berufen – wird seine aufgedeckt, verliert er seine soziale Existenz», meinte Helmut Lethen über den Hochstapler der zwanziger Jahre. Das gilt für jenen Sozialtypus, den Thomas Mann mit seinem Felix Krull beschreibt: der ehrgeizige junge Mann aus einer Bankrotteursfamilie, der in dienender Funktion in einem Pariser Hotel landet und sich hier Identität und Vermögen eines Marquis aneignet. Eine bemerkenswerte Adaption des Themas hat 2008 Aravind Adiga mit seinem Indien-Roman «Der weisse Tiger» vorgelegt: Die sozialen Verwerfungen der Globalisierungsprozesse im Schwellenland Indien bieten vielfältige Nischen für Hochstapler und Zwischenexistenzen. Adigas Aufsteiger beginnt als Chauffeur eines Provinzmagnaten, jede Form von Demütigung steckt er weg – aber wie Krull lernt er viel über die Mechanismen der Macht; seinem Karriere-Start muss er freilich auch ein wenig gewaltsam nachhelfen.
Auf Herkunft kann der Hochstapler sich nicht berufen – das ist dort nicht richtig, wo gerade die Herkunft und das mit ihr aufgesogene symbolische Kapital vornehmen bis präpotenten Verhaltens seine operative Basis darstellen, also zum Beispiel bei den 1918 deklassierten Aristokraten. Ihnen war oft wenig geblieben ausser ihrem Namen und ihrem Gehabe, vielleicht das eine oder andere Repräsentationsutensil. Damit ausgestattet bildeten sie ein breites Rekrutierungsfeld für die Hochstapler der Zeit. Das ideale Umfeld schuf die gesellschaftliche Deregulierung, die märchenhafte Aufstiege und ebensolche Abstürze möglich macht und damit die Erkennbarkeit der Sozialcharaktere reduziert. Wer sich gediegen benimmt, kann ein armer Schlucker und Betrüger sein, wer ungehobelt daherkommt, ein Oligarch. Ganz ähnlich hat das jüngst der langjährige Kellner eines Wiener Nobelrestaurants beschrieben.
Diese sozialen Unschärfen, wie sie typisch sind im Gefolge von Kriegen oder Krisen, macht sich der Hochstapler aus einst gutem Hause zunutze. «Es ist wahr, dass unser Nachtpublikum nicht first class ist. Aber – que voulez-vous – nur schlechtes Publikum bringt Geld in die Bude», klagt der Direktor in Vicki Baums «Menschen im Hotel» (1929) ausgerechnet dem Baron Gaigern. Der aber ist ein Hochstapler par excellence: Er sieht prächtig aus, «hat was vom Kintopp», gibt sich je nach Situation sorglos, jovial oder herrisch; sein Herkunftskontext ist sein Kapital, auch wenn ihm die ökonomische Basis weggebrochen ist und er gerade einen Juwelenraub vorbereitet.
Otto Soyka, der zu Unrecht völlig vergessene Autor psychologischer Thriller, analysiert in seinen Romanen der zwanziger Jahre die Verschränkung von wirtschaftlicher Zerrüttung und sozialen Verhaltensweisen wie kaum ein anderer, und er ist ein genauer Beobachter der neuen Ausdrucksformen der (Geld-)Macht. In turbulenten Zeiten, wo Kurseinbrüche über Nacht Existenzen vernichten können, klammern sich die Menschen dankbar an das scheinbar Evidente, eine überzeugend vorgespielte «soziale Geste» wird bereitwillig akzeptiert. Das hat auch mit der flächendeckenden medialen Berichterstattung über die Usancen in der Welt der Reichen und Schönen zu tun.
«Wir leben im Zeitalter der Geste. Der gebildete Mensch von heute hat die Welt nicht erlebt, sondern er hat hauptsächlich von ihr gelesen. Er erwartet Romanszenen von der Wirklichkeit und ist stets bereit, mitzuspielen», heisst es in Soykas Roman «Eva Morsini – die Frau, die war . . .» (1923). Einer der Akteure des Buches kidnappt die zum Tode verurteilte Eva Morsini aus dem Justizpalast, just als sie zur Hinrichtung geführt wird. Das Ganze läuft recht simpel ab: Der Befreier hat sich ein stadtbekanntes Fahrzeug der regierenden Macht besorgt, prescht in den Hof des Justizgebäudes hinein, wedelt mit einem Papier, auf dem nichts steht, und schon geht's mit der Delinquentin an Bord Richtung Regierungspalast bzw. haarscharf dran vorbei und in die Freiheit. Jede der Spielfiguren ist im Rückblick überzeugt, richtig gehandelt zu haben, schliesslich war der fremde Herr eindeutig ein hoher Regierungsvertreter.
Auch die Dichter . . .
Soyka hat auch das Gegenteil eines Hochstaplers durchgespielt, sein «Geldfeind» (1923) ist ein über Nacht zu Reichtum gekommener kleiner Angestellter, der niemandem davon erzählt. Der abgründigste Tiefstapler aber ist der ältliche Liftboy Ignaz mit den «bierhellen Kontrollaugen» in Joseph Roths «Hotel Savoy» (1924). Seine Position als Organisator der hausinternen Mobilität nutzt er schamlos zur Sozialkontrolle über die Lebensumstände der Hotelgäste. Der lebenstüchtige Kroate Zwonimir lehnt Fahrstuhl wie Ignaz kategorisch ab. Beide sind ihm unheimlich, und er geht die Treppen lieber zu Fuss. Zwar bleibt das Fahrstuhlunglück aus, aber Ignaz ist nicht Ignaz, sondern der geheimnisvolle Hotelbesitzer selbst. Im Hotel wie in der Wirtschaftskrise werden die Sozialrollen diffus, wie dem schwebenden Lift fehlt ihnen die Erdung im Alltag.
Eine Erdung in nachprüfbaren Kriterien wird mitunter auch im Literaturbetrieb zum Problem. Deshalb, so Albert Ehrenstein, seien «unter den Dichtern . . . mehr Hochstapler als sonstwo», denen nur «die korrupte Literaturpolizei dieses Adelsprädikat verleiht».
Evelyne Polt-Heinzl lebt und arbeitet als Literaturwissenschafterin sowie als Kuratorin in Wien. Zuletzt erschien im Brandstätter-Verlag der Band «Abenteuer Bibliothek. Ein Ort des Wissens und der Fantasie».
Die Tatsachen der Lüge
Über die Wiederkehr des Hochstaplers in Zeiten der wirtschaftlichen Krise
Wenn Gesellschaften ihre Bodenhaftung verlieren, schlägt die Stunde des Hochstaplers. Die zwanziger Jahre waren ein Zeitalter, in dem das Aufschneidertum grassierte (und seine literarische Spiegelung fand). Heute, nach dem Platzen der New-Economy- und Subprime-Blase, wissen wir, dass wir nicht klüger sind.
Von Evelyne Polt-Heinzl
«Hochstapler gab es immer, Menschen, die unter der Vorspiegelung, mehr zu sein, anderes zu sein, als sie tatsächlich waren, vom Schein lebten.» Mit diesem Satz eröffnet Albert Ehrenstein 1925 sein Vorwort zu Thomas Schrameks authentischer Hochstaplergeschichte «Freiherr von Egloffstein». Sie erschien in der Reihe «Aussenseiter der Gesellschaft – Die Verbrechen der Gegenwart», die Rudolf Leonhard am Ende der turbulenten Inflationsjahre im Verlag «Die Schmiede» startete.
Wenn Gesellschaften radikale Erschütterungen erleben und damit tradierte Sicherheiten wegbrechen, schlägt die Stunde des Hochstaplers. Er profitiert vom Wegfall einigermassen nachprüfbarer Kriterien zur Einschätzung sozialen und ökonomischen Handelns. Das ist nach Kriegen nicht anders als in Phasen entfesselter Wirtschaftsprozesse. Es ist also kein Zufall, dass....
1. Dezember 2009, Neue Zürcher Zeitung
Die Tatsachen der Lüge
Über die Wiederkehr des Hochstaplers in Zeiten der wirtschaftlichen Krise
Wenn Gesellschaften ihre Bodenhaftung verlieren, schlägt die Stunde des Hochstaplers. Die zwanziger Jahre waren ein Zeitalter, in dem das Aufschneidertum grassierte (und seine literarische Spiegelung fand). Heute, nach dem Platzen der New-Economy- und Subprime-Blase, wissen wir, dass wir nicht klüger sind.
Von Evelyne Polt-Heinzl
«Hochstapler gab es immer, Menschen, die unter der Vorspiegelung, mehr zu sein, anderes zu sein, als sie tatsächlich waren, vom Schein lebten.» Mit diesem Satz eröffnet Albert Ehrenstein 1925 sein Vorwort zu Thomas Schrameks authentischer Hochstaplergeschichte «Freiherr von Egloffstein». Sie erschien in der Reihe «Aussenseiter der Gesellschaft – Die Verbrechen der Gegenwart», die Rudolf Leonhard am Ende der turbulenten Inflationsjahre im Verlag «Die Schmiede» startete.
Wenn Gesellschaften radikale Erschütterungen erleben und damit tradierte Sicherheiten wegbrechen, schlägt die Stunde des Hochstaplers. Er profitiert vom Wegfall einigermassen nachprüfbarer Kriterien zur Einschätzung sozialen und ökonomischen Handelns. Das ist nach Kriegen nicht anders als in Phasen entfesselter Wirtschaftsprozesse. Es ist also kein Zufall, dass diese Figur sich just in unseren Tagen auf dem Theater wie in den Medien wieder zu regen beginnt. «Schöner lügen – Hochstapler bekennen», nannte sich eine Textcollage, die Ende 2008 am Wiener Burgtheater gezeigt wurde und vor allem auf Walter Serners «Handbrevier für Hochstapler» zurückgriff, das 2007 neu aufgelegt wurde.
Jung, smart, dynamisch
In der Realität war der Hochstapler schon 2000 im Umfeld der New-Economy-Blase wieder aufgetaucht. Das offensiv vermarktete Erfolgsetikett ihrer Akteure, das im Übrigen erstmals die Inflationsgewinnler der zwanziger Jahre für sich reklamierten, lautete «jung, smart, dynamisch». Einige wenige dieser «schillernden» Figuren, wie sie im Wirtschaftsteil gerne tituliert werden, landeten nach dem Platzen der Blase vor Gericht, der Rest fügte sich ins zunehmend deregulierte Börsenspiel unauffällig ein. Die Literatur hat diese Zusammenhänge klarer erkannt, als die Wirtschaftsforscher sie wahrhaben wollten. Der Ex-Broker in Paul Divjaks Roman «Kinsky» (2007) oder der Börsenguru Max in Marlene Streeruwitz' Roman «Kreuzungen» (2008) sind beide, wie viele der heutigen Profiteure im Dschungel der Derivatgeschäfte, Quereinsteiger von unten. Sie begannen ihre Karrieren als Hochstapler mit zweifelhaften Luftgeschäften im grossen Stil, und es erging ihnen wie in der Realität: Einige können sich wie Max durchsetzen und darauf vertrauen, dass späterhin keiner mehr nach der Herkunft der ersten Million fragt; andere bewältigen den Aufstieg nicht und stürzen rasch wieder ab wie Kinsky.
Das bevorzugte Aktionsfeld des Hochstaplers sind immer Boombranchen, wo das Geschäftsgebaren tendenziell ausser Kontrolle gerät. Das generiert einen Handlungsraum, in dem ohne Fundament agiert werden kann. Wer die Erwartungshaltungen und (Bild-)Vorstellungen dieses Feldes besonders kühn und selbstgewiss bedient, hat gute Chancen auf Erfolg, unabhängig von seinem realen Standing. «Ein phantastischer Lügner ist jener Lügner, dessen Lügen zu den Tatsachen stimmen», sagt Vinzenz in Robert Musils Komödie «Vinzenz oder die Freundin bedeutender Männer» (1924), der mit dem Gestus der Hochstapelei experimentiert. «In dieser wahrhaftig sträflichen Unordnung», so Vinzenz, «lasse einfach auch ich manchmal ein kleines Kügelchen rollen; und das Merkwürdigste ist: in welcher . . . Richtung Du auch eine solche kleine Handlung abgehen lässt, sie kommt immer gut durch die Wirklichkeit durch, als wäre sie dort geradezu erwartet worden.»
Auch der Kulturbetrieb ist ein mögliches Operationsgebiet, das hat Daniel Kehlmann bereits 2003 in seinem Roman «Ich und Kaminski» vorgeführt: Sein Kunstkritiker ist ein «veritabler Hochstapler ohne Bildung und ohne einschlägige Kenntnisse», so formulierte ein Kritiker, allerdings erst im Jahr 2009. Kehlmanns Roman könnte man als Satire abtun, doch es gibt auch gerichtsanhängige Fallgeschichten. Im Frühjahr 2005 tauchte in Österreich ein Mann namens Peter Kafka auf, der sich als deutscher Countertenor ausgab und in Wien als Intendant auftrat: Er plante im Garten des traditionsreichen Wiener Palais Schwarzenberg ein Arien-Potpourri als gigantische Sommeroper aufzuziehen, engagierte den Regisseur Wolfgang Ritzberger, ein Orchester, ein ganzes Schock von Sängern, setzte die Proben in gediegenen Konzertsälen an, bestellte aufwendige Kostüme und ein üppiges Catering. Der Vorverkauf lief an, doch die Premiere kam nicht zustande. Der Intendant entpuppte sich gewissermassen als idealtypischer Quereinsteiger, dessen Qualifikation in einer abgebrochenen Bäckerlehre und einem selbstbewussten Auftreten bestand. Das erfuhr man allerdings erst nach seiner Flucht. Zurück blieben ein düpiertes Ensemble und ein Schaden von 420 000 Euro. Interessanterweise fiel im Jahr 2005 nie der Begriff Hochstapler, wiewohl Peter Kafka idealtypisch diesem Typus entsprach. Man berichtete damals generell nicht allzu ausführlich über den Fall, wohl auch, weil er die Frage nach Praktiken des Kulturbetriebs und seiner Neigung zu «Eventisierung» und Geschäftemacherei mit in den Raum stellte.
Analogien zur Zwischenkriegszeit
Dass der Begriff heute wieder rascher zur Hand ist, hat mit dem Ausbruch der Wirtschaftskrise zu tun, die Analogien zur Zwischenkriegszeit wachrief, und das war eben eine Blütezeit des Hochstaplers. Um das zu recherchieren, kann man die damaligen Zeitungen durchblättern oder die Epochenromane lesen. Eine klassische Fallgeschichte liefert etwa Hermann Broch im dritten Teil seiner «Schlafwandler»-Trilogie mit der Figur des Deserteurs und Luftgeschäftemachers Huguenau. Die dichtesten Epochenporträts stammen mitunter allerdings nicht von den kanonisierten Autoren, was durchaus auch im Sinne einer Kanon-Revision nützliche Folgen haben könnte.
Literarisch ist der Hochstapler jedenfalls organischer Bestandteil im Bild der «Goldenen Zwanziger Jahre». Seine Orte sind die Verkehrsflächen des Luxuskonsums, die immer proportional zur Möglichkeit des «schnellen grossen Geldes» an Bedeutung gewinnen, denn die Befriedigung der Aufgestiegenen liegt im Zurschaustellen ihres neuen Reichtums. Was in unserer Zeit das hochpreisige In-Lokal ist, war damals die Hotelbar. Die Welt der Mondänen im Getriebe der Nobelhotels, hier ist der Hochstapler zu Hause; alle Akteure dieses Biotops haben Geld oder auch nicht, jedenfalls wahren sie den Schein. Wie sie dazu gekommen sind, ja sogar, ob es im Moment des Zusammentreffens überhaupt noch vorhanden ist, kursiert allenfalls als Gerücht. In Maria Peteanis oft verfilmtem Roman «Der Page vom Dalmasse Hotel» (1933) wispern sich die beiden Hochstaplerinnen, die sich als reiche Amerikanerinnen ausgeben und einen soliden preussischen Gutsherrn angeln wollen, einmal ängstlich zu: «Hoffentlich ist er kein Hochstapler.»
«Auf Herkunft kann er sich nicht berufen – wird seine
Auf Herkunft kann der Hochstapler sich nicht berufen – das ist dort nicht richtig, wo gerade die Herkunft und das mit ihr aufgesogene symbolische Kapital vornehmen bis präpotenten Verhaltens seine operative Basis darstellen, also zum Beispiel bei den 1918 deklassierten Aristokraten. Ihnen war oft wenig geblieben ausser ihrem Namen und ihrem Gehabe, vielleicht das eine oder andere Repräsentationsutensil. Damit ausgestattet bildeten sie ein breites Rekrutierungsfeld für die Hochstapler der Zeit. Das ideale Umfeld schuf die gesellschaftliche Deregulierung, die märchenhafte Aufstiege und ebensolche Abstürze möglich macht und damit die Erkennbarkeit der Sozialcharaktere reduziert. Wer sich gediegen benimmt, kann ein armer Schlucker und Betrüger sein, wer ungehobelt daherkommt, ein Oligarch. Ganz ähnlich hat das jüngst der langjährige Kellner eines Wiener Nobelrestaurants beschrieben.
Diese sozialen Unschärfen, wie sie typisch sind im Gefolge von Kriegen oder Krisen, macht sich der Hochstapler aus einst gutem Hause zunutze. «Es ist wahr, dass unser Nachtpublikum nicht first class ist. Aber – que voulez-vous – nur schlechtes Publikum bringt Geld in die Bude», klagt der Direktor in Vicki Baums «Menschen im Hotel» (1929) ausgerechnet dem Baron Gaigern. Der aber ist ein Hochstapler par excellence: Er sieht prächtig aus, «hat was vom Kintopp», gibt sich je nach Situation sorglos, jovial oder herrisch; sein Herkunftskontext ist sein Kapital, auch wenn ihm die ökonomische Basis weggebrochen ist und er gerade einen Juwelenraub vorbereitet.
Otto Soyka, der zu Unrecht völlig vergessene Autor psychologischer Thriller, analysiert in seinen Romanen der zwanziger Jahre die Verschränkung von wirtschaftlicher Zerrüttung und sozialen Verhaltensweisen wie kaum ein anderer, und er ist ein genauer Beobachter der neuen Ausdrucksformen der (Geld-)Macht. In turbulenten Zeiten, wo Kurseinbrüche über Nacht Existenzen vernichten können, klammern sich die Menschen dankbar an das scheinbar Evidente, eine überzeugend vorgespielte «soziale Geste» wird bereitwillig akzeptiert. Das hat auch mit der flächendeckenden medialen Berichterstattung über die Usancen in der Welt der Reichen und Schönen zu tun.
«Wir leben im Zeitalter der Geste. Der gebildete Mensch von heute hat die Welt nicht erlebt, sondern er hat hauptsächlich von ihr gelesen. Er erwartet Romanszenen von der Wirklichkeit und ist stets bereit, mitzuspielen», heisst es in Soykas Roman «Eva Morsini – die Frau, die war . . .» (1923). Einer der Akteure des Buches kidnappt die zum Tode verurteilte Eva Morsini aus dem Justizpalast, just als sie zur Hinrichtung geführt wird. Das Ganze läuft recht simpel ab: Der Befreier hat sich ein stadtbekanntes Fahrzeug der regierenden Macht besorgt, prescht in den Hof des Justizgebäudes hinein, wedelt mit einem Papier, auf dem nichts steht, und schon geht's mit der Delinquentin an Bord Richtung Regierungspalast bzw. haarscharf dran vorbei und in die Freiheit. Jede der Spielfiguren ist im Rückblick überzeugt, richtig gehandelt zu haben, schliesslich war der fremde Herr eindeutig ein hoher Regierungsvertreter.
Auch die Dichter . . .
Soyka hat auch das Gegenteil eines Hochstaplers durchgespielt, sein «Geldfeind» (1923) ist ein über Nacht zu Reichtum gekommener kleiner Angestellter, der niemandem davon erzählt. Der abgründigste Tiefstapler aber ist der ältliche Liftboy Ignaz mit den «bierhellen Kontrollaugen» in Joseph Roths «Hotel Savoy» (1924). Seine Position als Organisator der hausinternen Mobilität nutzt er schamlos zur Sozialkontrolle über die Lebensumstände der Hotelgäste. Der lebenstüchtige Kroate Zwonimir lehnt Fahrstuhl wie Ignaz kategorisch ab. Beide sind ihm unheimlich, und er geht die Treppen lieber zu Fuss. Zwar bleibt das Fahrstuhlunglück aus, aber Ignaz ist nicht Ignaz, sondern der geheimnisvolle Hotelbesitzer selbst. Im Hotel wie in der Wirtschaftskrise werden die Sozialrollen diffus, wie dem schwebenden Lift fehlt ihnen die Erdung im Alltag.
Eine Erdung in nachprüfbaren Kriterien wird mitunter auch im Literaturbetrieb zum Problem. Deshalb, so Albert Ehrenstein, seien «unter den Dichtern . . . mehr Hochstapler als sonstwo», denen nur «die korrupte Literaturpolizei dieses Adelsprädikat verleiht».
Evelyne Polt-Heinzl lebt und arbeitet als Literaturwissenschafterin sowie als Kuratorin in Wien. Zuletzt erschien im Brandstätter-Verlag der Band «Abenteuer Bibliothek. Ein Ort des Wissens und der Fantasie».
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Mittwoch, Januar 06, 2010
Indiens Maoisten profitieren vom Versagen der Politiker
31. Dezember 2009, Neue Zürcher Zeitung
Indiens Maoisten profitieren vom Versagen der Politiker
Der Gliedstaat Jharkhand betreibt Bergbau im grossen Stil, doch der lokalen Bevölkerung hat dies nur Elend und Vertreibung gebracht
Andrea Spalinger, Ranchi
In den letzten Monaten haben maoistische Rebellen in Indien immer wieder mit spektakulären Angriffen auf sich aufmerksam gemacht. In verschiedenen Gliedstaaten griffen die sogenannten Naxaliten Polizeipatrouillen an, sprengten Schulen und andere öffentliche Gebäude in die Luft und entführten Polizisten und Geschäftsleute. In den letzten sechs Monaten allein verübten sie landesweit über 1400 Gewalttaten, die rund 600 Personen das Leben kosteten.
Zunehmende Stärke
Die Naxaliten haben ihren Ursprung in einem Aufstand von Stämmen gegen Landenteignungen 1967 in Naxalbari in Westbengalen. Die Bewegung erreichte 1972 einen ersten Höhepunkt, als sie weite Gebiete von Bihar und Westbengalen wie auch Teile von Uttar Pradesh und Andhra Pradesh unter ihre Kontrolle brachte. Danach verlor sie vorübergehend an Einfluss, bis sich Ende der achtziger Jahre eine Reihe neuer maoistischer Grüppchen bildete, in denen die verbliebenen Naxaliten aufgingen. Starken Auftrieb erhielt die Bewegung 2004 durch den Zusammenschluss dieser Splittergruppen zur Communist Party of India (Maoist).
Seither haben sich die Maoisten in Indien enorm ausgebreitet. Sie sind heute in 20 von 28 Gliedstaaten präsent und verfügen....
31. Dezember 2009, Neue Zürcher Zeitung
Indiens Maoisten profitieren vom Versagen der Politiker
Der Gliedstaat Jharkhand betreibt Bergbau im grossen Stil, doch der lokalen Bevölkerung hat dies nur Elend und Vertreibung gebracht
Andrea Spalinger, Ranchi
In den letzten Monaten haben maoistische Rebellen in Indien immer wieder mit spektakulären Angriffen auf sich aufmerksam gemacht. In verschiedenen Gliedstaaten griffen die sogenannten Naxaliten Polizeipatrouillen an, sprengten Schulen und andere öffentliche Gebäude in die Luft und entführten Polizisten und Geschäftsleute. In den letzten sechs Monaten allein verübten sie landesweit über 1400 Gewalttaten, die rund 600 Personen das Leben kosteten.
Zunehmende Stärke
Die Naxaliten haben ihren Ursprung in einem Aufstand von Stämmen gegen Landenteignungen 1967 in Naxalbari in Westbengalen. Die Bewegung erreichte 1972 einen ersten Höhepunkt, als sie weite Gebiete von Bihar und Westbengalen wie auch Teile von Uttar Pradesh und Andhra Pradesh unter ihre Kontrolle brachte. Danach verlor sie vorübergehend an Einfluss, bis sich Ende der achtziger Jahre eine Reihe neuer maoistischer Grüppchen bildete, in denen die verbliebenen Naxaliten aufgingen. Starken Auftrieb erhielt die Bewegung 2004 durch den Zusammenschluss dieser Splittergruppen zur Communist Party of India (Maoist).
Seither haben sich die Maoisten in Indien enorm ausgebreitet. Sie sind heute in 20 von 28 Gliedstaaten präsent und verfügen je nach Schätzungen über 10 000 bis 20 000 Kämpfer und ein Heer von – freiwilligen oder unfreiwilligen – Helfern in den von ihnen kontrollierten Dörfern. Am stärksten ist ihr Einfluss im «Roten Korridor», einem von Ureinwohnern bewohnten, ressourcenreichen Dschungelgebiet, das sich von der nepalesischen Grenze bis hinunter nach Andhra Pradesh zieht. In ihren Hochburgen Bihar, Westbengalen, Chhattisgarh, Jharkhand und Andhra Pradesh haben sie in einigen Gebieten eine Art Parallelstaat aufgebaut, in anderen sorgen sie mit sporadischen Überfällen und Anschlägen für Angst und Schrecken.
Keine einheitliche Strategie
Premierminister Manmohan Singh bezeichnet die kommunistischen Rebellen heute als die grösste Gefahr für die innere Sicherheit des Landes. In der Tat kommen jährlich viel mehr Bürger bei Angriffen der Maoisten ums Leben als durch die Gewalt islamistischer Extremisten. Laut dem Institute for Conflict Management in Delhi wurden seit 2005 2000 Personen bei Angriffen der Naxaliten getötet. Dennoch vernachlässigte die Zentralregierung die Gefahr bisher sträflich und überliess es den Gliedstaaten, eine Strategie im Kampf gegen die Naxaliten zu entwickeln.
Diese Politik war wenig erfolgreich. Eine Grossoffensive in Andhra Pradesh führte dazu, dass sich die Rebellen in Nachbarstaaten absetzten und das Problem nur verlagert wurde. In Chhattisgarh schickte der Staat eine Bürgermiliz in den Dschungel, die kaum einen Unterschied zwischen Rebellen und der lokalen Stammesbevölkerung machte. Hunderte von Zivilisten kamen ums Leben, Zehntausende wurden vertrieben. Dies verschaffte den Maoisten im Gliedstaat nur mehr Zulauf.
Seit ihrer Wiederwahl im Frühjahr nimmt die Kongressregierung das Thema nun jedoch sehr viel ernster. Der neue Innenminister Chidambaram hat es ganz oben auf seine Traktandenliste gesetzt und für Anfang 2010 eine Grossoffensive gegen die Rebellen angekündigt. Über 75 000 Paramilitärs und Polizisten sollen die von den Maoisten kontrollierten Gebiete zurückerobern.
In Jharkhand, einem der am schwersten betroffenen Gliedstaaten, ist man allerdings skeptisch, dass das Naxaliten-Problem militärisch gelöst werden kann. Die Regierungen in Delhi hätten die von Adivasi (Ureinwohnern) besiedelten Gebiete im Herzen des Subkontinents jahrzehntelang vernachlässigt, sagt Jaideep Deogharia, ein Journalist in Ranchi. Im Dschungel Jharkhands sei der Staat bis heute fast gar nicht präsent. Es gebe dort weder Schulen noch Spitäler noch Gerichte. Dieses Machtvakuum habe den Vormarsch der Maoisten begünstigt und nicht der Hang zu kommunistischer Ideologie, sagt er.
Jharkhand ist in der Tat ein anschauliches Beispiel dafür, dass der wachsende Einfluss der Maoisten in Indien nicht allein ein Sicherheitsproblem darstellt, sondern politische und soziale Wurzeln hat. Der Gliedstaat (der erst seit dem Jahr 2000 existiert und vorher ein Teil Bihars war) ist reich an Bodenschätzen wie Kohle, Eisenerz, Kupfer, Bauxit und Uran. Doch deren Ausbeutung hat den Bewohnern der Region in den sechzig Jahren seit der Unabhängigkeit Indiens ausser Vertreibung und Elend kaum etwas gebracht. Das Geld aus den millionenschweren Bergbau-Kontrakten floss in die Taschen korrupter Politiker und Beamter.
Bitterarm trotz Bergbau
Eine Fahrt durch Hazaribag, einen Distrikt im Norden Jharkhands, führt das Dilemma vor Augen. Der Abbau der Rohstoffvorkommen hat in der einst idyllischen Dschungelregion deutliche Spuren hinterlassen. Eine Kohlegrube reiht sich an die nächste. Einige sind noch in Betrieb. Viele sind bereits ausgebeutet und wieder verlassen. Um sie herum ist das Land unbewohnbar geworden. Kilometerweit reihen sich riesige schwarze Krater und Erdaufschüttungen aneinander.
Laut Faisal Anurag, der seit Jahrzehnten für die Rechte der Adivasi in Jharkhand kämpft, sind in der Region seit der Erlangung der Unabhängigkeit 1947 über 2,5 Millionen Menschen wegen Minenprojekten vertrieben worden. 80 Prozent von ihnen seien Adivasi gewesen, nur 2 Prozent hätten anderswo Land zugesprochen bekommen. Der Rest sei in grossstädtischen Slums gelandet.
Die Regierung in Ranchi hat in den letzten Jahren über hundert Vereinbarungen mit indischen und ausländischen Konzernen über neue Bergbauprojekte getroffen. Doch der Widerstand der Bevölkerung wächst, und erst wenige Gruben konnten mit der Arbeit beginnen. Der Grossteil des Protests sei friedlich, sagt Dayamani Barla, die eine Volksbewegung gegen ein Eisenerzprojekt des Unternehmens ArcelorMittal anführt. Dennoch werde jeder, der sich wehre, als Maoist abgestempelt. Viele Aktivisten seien verhaftet worden, obwohl sie nichts mit den Rebellen am Hut hätten, schimpft Barla.
«Jharkhand ist ein kleiner Staat. Wenn hier über hundert neue Gruben entstehen, bleibt kein Land für die Adivasi übrig», so ereifert sich die quirlige Frau. «Die Stämme leben im Einklang mit der Natur und ernähren sich fast ausschliesslich von Produkten aus dem Dschungel. Wenn man sie von dort vertreibt, verlieren sie ihre Lebensgrundlage und ihre Identität.» Die Adivasi wollten ihr Land deshalb nicht aufgeben, nicht einmal, wenn sie dafür entschädigt würden, sagt Barla. Im Moment bekämen sie jedoch gar nichts. Die Regierung spreche zwar bei jedem Projekt von Kompensation und Rehabilitation, doch dies seien nur leere Worte.
Himmelschreiende Korruption
Eine Reihe von Wirtschaftsexperten hingegen ist der Ansicht, dass die Ausbeutung der Bodenschätze eine Chance darstellt. Wenn das Potenzial genutzt würde, um die Region zu entwickeln, wäre nichts dagegen einzuwenden, meint ein Berater eines multinationalen Bergbauunternehmens, der nicht namentlich genannt werden möchte. Es sei jedoch höchst problematisch, dass der Allgemeinheit von dem vielen Geld, das Firmen in Form von Lizenzen und Steuern bezahlten, kaum etwas zugutekomme.
In den fünf Jahren seit seiner Unabhängigkeit hat sich Jharkhand bereits den Ruf des korruptesten Staates in ganz Indien geschaffen. Wie nirgendwo sonst im Land haben sich die Politiker hier selbst bereichert. Madhu Koda etwa, der zwischen 2006 und 2008 Chefminister war, soll in seiner kurzen Amtszeit nicht weniger als 40 Milliarden Rupien (etwa 900 Millionen Franken) in die Taschen gesteckt haben. Gegen Koda läuft derzeit ein Verfahren, doch viele andere bereichern sich ungehindert weiter.
«Die himmelschreiende Korruption und der rücksichtslose Umgang der Behörden mit den Adivasi haben den Maoisten Zulauf verschafft», sagt Sashi Bushan Pathak, ein Dorflehrer und Sympathisant der Naxaliten in Hazaribag. Die Maoisten versprächen den Stämmen Autonomie und den Schutz ihrer politischen und kulturellen Rechte. Damit hätten sie viele Adivasi für sich gewinnen können.
Politische Lösung nötig
Der Polizeichef von Hazaribag, M. S. Bhatia, stimmt dieser Einschätzung zu. Der aus dem Punjab stammende Sikh ist seit zehn Jahren in Jharkhand stationiert und betrachtet die Naxaliten im Gegensatz zu vielen Militärs und Polizeioffizieren in Delhi nicht nur als ein Problem von Recht und Ordnung. Die Regierung müsse eine politische Lösung suchen, fordert er. Mit militärischen Mitteln allein könnten die Maoisten nicht besiegt werden.
Die Maoisten hätten grossen Einfluss in Hazaribag, gesteht der Polizeichef ein. Sie würden im Distrikt «Steuern» erheben, Volksgerichte abhalten und Leute zwangsrekrutieren. Die Bevölkerung müsse sich mit den Rebellen arrangieren. Kaum jemand kooperiere mit den Sicherheitskräften aus Angst vor Repressionsmassnahmen. Doch nicht nur in abgelegenen Distrikten im Dschungel haben die Maoisten heute das Sagen. Auch in vielen Vierteln der Hauptstadt Ranchi zahlen Ladenbesitzer Abgaben an die Rebellen, und selbst Regierungsbeamte müssen einen Teil ihres Diwali-Geldes (eine Art 13. Monatslohn, den Staatsangestellte zum hinduistischen Feiertag Diwali bekommen) abgeben.
«Alle in Jharkhand tätigen Firmen entrichten Abgaben, in der Regel etwa 10 Prozent des Umsatzes», berichtet der Bergbauunternehmer Deepak Kumar. «Dafür beschützen die Maoisten unsere Gruben und unsere Arbeiter.» Das Wirtschaftsklima in Jharkhand sei eine Katastrophe. Die Regierung vergebe Lizenzen für den Abbau von Rohstoffen, sorge in den Bergbaugebieten aber nicht für Recht und Ordnung. Als Unternehmer müsse man sich irgendwie in das System einfügen, so rechtfertigt Kumar die Tatsache, dass auch er den Rebellen jeden Monat eine Tüte voller Geldscheine übergibt.
Volle Kriegskassen
Der Mittvierziger, dessen Familie seit Generationen im Bergbau tätig ist, weiss, dass mit den Maoisten nicht zu spassen ist. Vor fünf Jahren wurde er entführt, weil eine Zahlung nicht ordnungsgemäss über die Bühne gegangen war. Er habe damals Geld an eine andere kriminelle Gruppe bezahlt, die sich als Maoisten ausgegeben habe, erklärt er. Die Polizei kam den Entführern auf die Spur und umzingelte das Haus, in dem Kumar festgehalten wurde. Während einer mehrstündigen Schiesserei konnte der Unternehmer fliehen, was allerdings nicht bedeutete, dass er damit dem Einflussbereich der Maoisten entkommen wäre. «Natürlich sind sie wiedergekommen, und ich habe für den Vorfall bezahlt. Seither weiss ich genau, wem ich das Geld zu übergeben habe», fügt er hinzu.
Die Führungsriege der Maoisten sei in den letzten Jahren sehr reich geworden, meint der Journalist Jaideep. Viele Kader hätten angefangen, in Ranchi Immobilien zu kaufen und ihre Kinder zur Ausbildung ins Ausland zu schicken. Laut dem Polizeichef Bhatia treiben die Maoisten allein in Jharkhand jährlich etwa eine Milliarde Rupien (umgerechnet 24 Millionen Franken) ein. Damit könnten sie Waffen kaufen und massenweise Kämpfer aus armen Bevölkerungsschichten anheuern.
Innenminister Chidambaram habe das Problem erkannt und wolle es mit einer Offensive lösen, sagt Bhatia. Eine solche birgt seiner Ansicht nach aber einige Gefahren. «Die Infrastruktur hier ist schlecht, unser Informantennetz ebenfalls. Im Dschungelkrieg sind uns die Naxaliten weit überlegen.» Ausserdem sei es schwierig, zwischen Zivilisten und maoistischen Kämpfern zu unterscheiden, und die Gefahr, dass bei einer Offensive viele Unschuldige ums Leben kämen, sei gross. Die Regierung müsse die Region entwickeln, fordert Bhatia. Wenn die Menschen hier Jobs hätten und Schulen für ihre Kinder, würden die Naxaliten schnell an Anziehungskraft verlieren.
Auch Pathak ist überzeugt, dass eine Offensive kontraproduktiv sei, weil sie nur mehr Unterdrückung bringe. Bereits heute kämen in Jharkhand viele unschuldige Dörfler bei Polizeiaktionen ums Leben, kritisiert er. Zudem seien unter fadenscheinigen Begründungen etwa 4000 Zivilisten verhaftet worden.
Fragwürdiges Doppelspiel
Hinter vorgehaltener Hand äussern viele Gesprächspartner in Jharkhand den Verdacht, dass die Regierung in Ranchi gar kein Interesse an einer Lösung des Naxaliten-Problems habe, weil dieses einen willkommenen Vorwand für die Vertreibung der Adivasi aus dem rohstoffreichen Dschungelgebiet liefere. Während man vorgebe, den Kampf gegen die Maoisten zu führen, kümmere man sich hinter den Kulissen darum, die Taschen mit Geld aus Bergbau-Kontrakten zu füllen. Nicht nur Aktivisten, sondern auch Vertreter der Bergbauindustrie sind überzeugt, dass viele Lokalpolitiker mit den Maoisten unter einer Decke stecken. Laut Journalisten in Ranchi kaufen sich die Politiker im Wahlkampf nicht selten sogar die Unterstützung der Naxaliten.
Indiens Maoisten profitieren vom Versagen der Politiker
Der Gliedstaat Jharkhand betreibt Bergbau im grossen Stil, doch der lokalen Bevölkerung hat dies nur Elend und Vertreibung gebracht
Andrea Spalinger, Ranchi
In den letzten Monaten haben maoistische Rebellen in Indien immer wieder mit spektakulären Angriffen auf sich aufmerksam gemacht. In verschiedenen Gliedstaaten griffen die sogenannten Naxaliten Polizeipatrouillen an, sprengten Schulen und andere öffentliche Gebäude in die Luft und entführten Polizisten und Geschäftsleute. In den letzten sechs Monaten allein verübten sie landesweit über 1400 Gewalttaten, die rund 600 Personen das Leben kosteten.
Zunehmende Stärke
Die Naxaliten haben ihren Ursprung in einem Aufstand von Stämmen gegen Landenteignungen 1967 in Naxalbari in Westbengalen. Die Bewegung erreichte 1972 einen ersten Höhepunkt, als sie weite Gebiete von Bihar und Westbengalen wie auch Teile von Uttar Pradesh und Andhra Pradesh unter ihre Kontrolle brachte. Danach verlor sie vorübergehend an Einfluss, bis sich Ende der achtziger Jahre eine Reihe neuer maoistischer Grüppchen bildete, in denen die verbliebenen Naxaliten aufgingen. Starken Auftrieb erhielt die Bewegung 2004 durch den Zusammenschluss dieser Splittergruppen zur Communist Party of India (Maoist).
Seither haben sich die Maoisten in Indien enorm ausgebreitet. Sie sind heute in 20 von 28 Gliedstaaten präsent und verfügen....
31. Dezember 2009, Neue Zürcher Zeitung
Indiens Maoisten profitieren vom Versagen der Politiker
Der Gliedstaat Jharkhand betreibt Bergbau im grossen Stil, doch der lokalen Bevölkerung hat dies nur Elend und Vertreibung gebracht
Andrea Spalinger, Ranchi
In den letzten Monaten haben maoistische Rebellen in Indien immer wieder mit spektakulären Angriffen auf sich aufmerksam gemacht. In verschiedenen Gliedstaaten griffen die sogenannten Naxaliten Polizeipatrouillen an, sprengten Schulen und andere öffentliche Gebäude in die Luft und entführten Polizisten und Geschäftsleute. In den letzten sechs Monaten allein verübten sie landesweit über 1400 Gewalttaten, die rund 600 Personen das Leben kosteten.
Zunehmende Stärke
Die Naxaliten haben ihren Ursprung in einem Aufstand von Stämmen gegen Landenteignungen 1967 in Naxalbari in Westbengalen. Die Bewegung erreichte 1972 einen ersten Höhepunkt, als sie weite Gebiete von Bihar und Westbengalen wie auch Teile von Uttar Pradesh und Andhra Pradesh unter ihre Kontrolle brachte. Danach verlor sie vorübergehend an Einfluss, bis sich Ende der achtziger Jahre eine Reihe neuer maoistischer Grüppchen bildete, in denen die verbliebenen Naxaliten aufgingen. Starken Auftrieb erhielt die Bewegung 2004 durch den Zusammenschluss dieser Splittergruppen zur Communist Party of India (Maoist).
Seither haben sich die Maoisten in Indien enorm ausgebreitet. Sie sind heute in 20 von 28 Gliedstaaten präsent und verfügen je nach Schätzungen über 10 000 bis 20 000 Kämpfer und ein Heer von – freiwilligen oder unfreiwilligen – Helfern in den von ihnen kontrollierten Dörfern. Am stärksten ist ihr Einfluss im «Roten Korridor», einem von Ureinwohnern bewohnten, ressourcenreichen Dschungelgebiet, das sich von der nepalesischen Grenze bis hinunter nach Andhra Pradesh zieht. In ihren Hochburgen Bihar, Westbengalen, Chhattisgarh, Jharkhand und Andhra Pradesh haben sie in einigen Gebieten eine Art Parallelstaat aufgebaut, in anderen sorgen sie mit sporadischen Überfällen und Anschlägen für Angst und Schrecken.
Keine einheitliche Strategie
Premierminister Manmohan Singh bezeichnet die kommunistischen Rebellen heute als die grösste Gefahr für die innere Sicherheit des Landes. In der Tat kommen jährlich viel mehr Bürger bei Angriffen der Maoisten ums Leben als durch die Gewalt islamistischer Extremisten. Laut dem Institute for Conflict Management in Delhi wurden seit 2005 2000 Personen bei Angriffen der Naxaliten getötet. Dennoch vernachlässigte die Zentralregierung die Gefahr bisher sträflich und überliess es den Gliedstaaten, eine Strategie im Kampf gegen die Naxaliten zu entwickeln.
Diese Politik war wenig erfolgreich. Eine Grossoffensive in Andhra Pradesh führte dazu, dass sich die Rebellen in Nachbarstaaten absetzten und das Problem nur verlagert wurde. In Chhattisgarh schickte der Staat eine Bürgermiliz in den Dschungel, die kaum einen Unterschied zwischen Rebellen und der lokalen Stammesbevölkerung machte. Hunderte von Zivilisten kamen ums Leben, Zehntausende wurden vertrieben. Dies verschaffte den Maoisten im Gliedstaat nur mehr Zulauf.
Seit ihrer Wiederwahl im Frühjahr nimmt die Kongressregierung das Thema nun jedoch sehr viel ernster. Der neue Innenminister Chidambaram hat es ganz oben auf seine Traktandenliste gesetzt und für Anfang 2010 eine Grossoffensive gegen die Rebellen angekündigt. Über 75 000 Paramilitärs und Polizisten sollen die von den Maoisten kontrollierten Gebiete zurückerobern.
In Jharkhand, einem der am schwersten betroffenen Gliedstaaten, ist man allerdings skeptisch, dass das Naxaliten-Problem militärisch gelöst werden kann. Die Regierungen in Delhi hätten die von Adivasi (Ureinwohnern) besiedelten Gebiete im Herzen des Subkontinents jahrzehntelang vernachlässigt, sagt Jaideep Deogharia, ein Journalist in Ranchi. Im Dschungel Jharkhands sei der Staat bis heute fast gar nicht präsent. Es gebe dort weder Schulen noch Spitäler noch Gerichte. Dieses Machtvakuum habe den Vormarsch der Maoisten begünstigt und nicht der Hang zu kommunistischer Ideologie, sagt er.
Jharkhand ist in der Tat ein anschauliches Beispiel dafür, dass der wachsende Einfluss der Maoisten in Indien nicht allein ein Sicherheitsproblem darstellt, sondern politische und soziale Wurzeln hat. Der Gliedstaat (der erst seit dem Jahr 2000 existiert und vorher ein Teil Bihars war) ist reich an Bodenschätzen wie Kohle, Eisenerz, Kupfer, Bauxit und Uran. Doch deren Ausbeutung hat den Bewohnern der Region in den sechzig Jahren seit der Unabhängigkeit Indiens ausser Vertreibung und Elend kaum etwas gebracht. Das Geld aus den millionenschweren Bergbau-Kontrakten floss in die Taschen korrupter Politiker und Beamter.
Bitterarm trotz Bergbau
Eine Fahrt durch Hazaribag, einen Distrikt im Norden Jharkhands, führt das Dilemma vor Augen. Der Abbau der Rohstoffvorkommen hat in der einst idyllischen Dschungelregion deutliche Spuren hinterlassen. Eine Kohlegrube reiht sich an die nächste. Einige sind noch in Betrieb. Viele sind bereits ausgebeutet und wieder verlassen. Um sie herum ist das Land unbewohnbar geworden. Kilometerweit reihen sich riesige schwarze Krater und Erdaufschüttungen aneinander.
Laut Faisal Anurag, der seit Jahrzehnten für die Rechte der Adivasi in Jharkhand kämpft, sind in der Region seit der Erlangung der Unabhängigkeit 1947 über 2,5 Millionen Menschen wegen Minenprojekten vertrieben worden. 80 Prozent von ihnen seien Adivasi gewesen, nur 2 Prozent hätten anderswo Land zugesprochen bekommen. Der Rest sei in grossstädtischen Slums gelandet.
Die Regierung in Ranchi hat in den letzten Jahren über hundert Vereinbarungen mit indischen und ausländischen Konzernen über neue Bergbauprojekte getroffen. Doch der Widerstand der Bevölkerung wächst, und erst wenige Gruben konnten mit der Arbeit beginnen. Der Grossteil des Protests sei friedlich, sagt Dayamani Barla, die eine Volksbewegung gegen ein Eisenerzprojekt des Unternehmens ArcelorMittal anführt. Dennoch werde jeder, der sich wehre, als Maoist abgestempelt. Viele Aktivisten seien verhaftet worden, obwohl sie nichts mit den Rebellen am Hut hätten, schimpft Barla.
«Jharkhand ist ein kleiner Staat. Wenn hier über hundert neue Gruben entstehen, bleibt kein Land für die Adivasi übrig», so ereifert sich die quirlige Frau. «Die Stämme leben im Einklang mit der Natur und ernähren sich fast ausschliesslich von Produkten aus dem Dschungel. Wenn man sie von dort vertreibt, verlieren sie ihre Lebensgrundlage und ihre Identität.» Die Adivasi wollten ihr Land deshalb nicht aufgeben, nicht einmal, wenn sie dafür entschädigt würden, sagt Barla. Im Moment bekämen sie jedoch gar nichts. Die Regierung spreche zwar bei jedem Projekt von Kompensation und Rehabilitation, doch dies seien nur leere Worte.
Himmelschreiende Korruption
Eine Reihe von Wirtschaftsexperten hingegen ist der Ansicht, dass die Ausbeutung der Bodenschätze eine Chance darstellt. Wenn das Potenzial genutzt würde, um die Region zu entwickeln, wäre nichts dagegen einzuwenden, meint ein Berater eines multinationalen Bergbauunternehmens, der nicht namentlich genannt werden möchte. Es sei jedoch höchst problematisch, dass der Allgemeinheit von dem vielen Geld, das Firmen in Form von Lizenzen und Steuern bezahlten, kaum etwas zugutekomme.
In den fünf Jahren seit seiner Unabhängigkeit hat sich Jharkhand bereits den Ruf des korruptesten Staates in ganz Indien geschaffen. Wie nirgendwo sonst im Land haben sich die Politiker hier selbst bereichert. Madhu Koda etwa, der zwischen 2006 und 2008 Chefminister war, soll in seiner kurzen Amtszeit nicht weniger als 40 Milliarden Rupien (etwa 900 Millionen Franken) in die Taschen gesteckt haben. Gegen Koda läuft derzeit ein Verfahren, doch viele andere bereichern sich ungehindert weiter.
«Die himmelschreiende Korruption und der rücksichtslose Umgang der Behörden mit den Adivasi haben den Maoisten Zulauf verschafft», sagt Sashi Bushan Pathak, ein Dorflehrer und Sympathisant der Naxaliten in Hazaribag. Die Maoisten versprächen den Stämmen Autonomie und den Schutz ihrer politischen und kulturellen Rechte. Damit hätten sie viele Adivasi für sich gewinnen können.
Politische Lösung nötig
Der Polizeichef von Hazaribag, M. S. Bhatia, stimmt dieser Einschätzung zu. Der aus dem Punjab stammende Sikh ist seit zehn Jahren in Jharkhand stationiert und betrachtet die Naxaliten im Gegensatz zu vielen Militärs und Polizeioffizieren in Delhi nicht nur als ein Problem von Recht und Ordnung. Die Regierung müsse eine politische Lösung suchen, fordert er. Mit militärischen Mitteln allein könnten die Maoisten nicht besiegt werden.
Die Maoisten hätten grossen Einfluss in Hazaribag, gesteht der Polizeichef ein. Sie würden im Distrikt «Steuern» erheben, Volksgerichte abhalten und Leute zwangsrekrutieren. Die Bevölkerung müsse sich mit den Rebellen arrangieren. Kaum jemand kooperiere mit den Sicherheitskräften aus Angst vor Repressionsmassnahmen. Doch nicht nur in abgelegenen Distrikten im Dschungel haben die Maoisten heute das Sagen. Auch in vielen Vierteln der Hauptstadt Ranchi zahlen Ladenbesitzer Abgaben an die Rebellen, und selbst Regierungsbeamte müssen einen Teil ihres Diwali-Geldes (eine Art 13. Monatslohn, den Staatsangestellte zum hinduistischen Feiertag Diwali bekommen) abgeben.
«Alle in Jharkhand tätigen Firmen entrichten Abgaben, in der Regel etwa 10 Prozent des Umsatzes», berichtet der Bergbauunternehmer Deepak Kumar. «Dafür beschützen die Maoisten unsere Gruben und unsere Arbeiter.» Das Wirtschaftsklima in Jharkhand sei eine Katastrophe. Die Regierung vergebe Lizenzen für den Abbau von Rohstoffen, sorge in den Bergbaugebieten aber nicht für Recht und Ordnung. Als Unternehmer müsse man sich irgendwie in das System einfügen, so rechtfertigt Kumar die Tatsache, dass auch er den Rebellen jeden Monat eine Tüte voller Geldscheine übergibt.
Volle Kriegskassen
Der Mittvierziger, dessen Familie seit Generationen im Bergbau tätig ist, weiss, dass mit den Maoisten nicht zu spassen ist. Vor fünf Jahren wurde er entführt, weil eine Zahlung nicht ordnungsgemäss über die Bühne gegangen war. Er habe damals Geld an eine andere kriminelle Gruppe bezahlt, die sich als Maoisten ausgegeben habe, erklärt er. Die Polizei kam den Entführern auf die Spur und umzingelte das Haus, in dem Kumar festgehalten wurde. Während einer mehrstündigen Schiesserei konnte der Unternehmer fliehen, was allerdings nicht bedeutete, dass er damit dem Einflussbereich der Maoisten entkommen wäre. «Natürlich sind sie wiedergekommen, und ich habe für den Vorfall bezahlt. Seither weiss ich genau, wem ich das Geld zu übergeben habe», fügt er hinzu.
Die Führungsriege der Maoisten sei in den letzten Jahren sehr reich geworden, meint der Journalist Jaideep. Viele Kader hätten angefangen, in Ranchi Immobilien zu kaufen und ihre Kinder zur Ausbildung ins Ausland zu schicken. Laut dem Polizeichef Bhatia treiben die Maoisten allein in Jharkhand jährlich etwa eine Milliarde Rupien (umgerechnet 24 Millionen Franken) ein. Damit könnten sie Waffen kaufen und massenweise Kämpfer aus armen Bevölkerungsschichten anheuern.
Innenminister Chidambaram habe das Problem erkannt und wolle es mit einer Offensive lösen, sagt Bhatia. Eine solche birgt seiner Ansicht nach aber einige Gefahren. «Die Infrastruktur hier ist schlecht, unser Informantennetz ebenfalls. Im Dschungelkrieg sind uns die Naxaliten weit überlegen.» Ausserdem sei es schwierig, zwischen Zivilisten und maoistischen Kämpfern zu unterscheiden, und die Gefahr, dass bei einer Offensive viele Unschuldige ums Leben kämen, sei gross. Die Regierung müsse die Region entwickeln, fordert Bhatia. Wenn die Menschen hier Jobs hätten und Schulen für ihre Kinder, würden die Naxaliten schnell an Anziehungskraft verlieren.
Auch Pathak ist überzeugt, dass eine Offensive kontraproduktiv sei, weil sie nur mehr Unterdrückung bringe. Bereits heute kämen in Jharkhand viele unschuldige Dörfler bei Polizeiaktionen ums Leben, kritisiert er. Zudem seien unter fadenscheinigen Begründungen etwa 4000 Zivilisten verhaftet worden.
Fragwürdiges Doppelspiel
Hinter vorgehaltener Hand äussern viele Gesprächspartner in Jharkhand den Verdacht, dass die Regierung in Ranchi gar kein Interesse an einer Lösung des Naxaliten-Problems habe, weil dieses einen willkommenen Vorwand für die Vertreibung der Adivasi aus dem rohstoffreichen Dschungelgebiet liefere. Während man vorgebe, den Kampf gegen die Maoisten zu führen, kümmere man sich hinter den Kulissen darum, die Taschen mit Geld aus Bergbau-Kontrakten zu füllen. Nicht nur Aktivisten, sondern auch Vertreter der Bergbauindustrie sind überzeugt, dass viele Lokalpolitiker mit den Maoisten unter einer Decke stecken. Laut Journalisten in Ranchi kaufen sich die Politiker im Wahlkampf nicht selten sogar die Unterstützung der Naxaliten.
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Sonntag, Januar 03, 2010
Freitag, Januar 01, 2010
Was ist eigentlich normal?
31. Dezember 2009, Neue Zürcher Zeitung
Was ist eigentlich normal?
Wer von einer Krise redet, hat – bewusst oder nicht – eine Vorstellung von dem vor Augen, was Normalität ist
Die Rede von der Krise ist allgegenwärtig. Doch wie erkennt man eine Krise? Eine Krisendiagnose setzt stets eine Vorstellung, eine «Theorie», der Normalität voraus. – Eine kultursoziologische Exkursion in unübersichtlichem Gelände.
Von Gerhard Schulze *
Ohne Normalitätsmodelle gibt es keine Krisen. Das scheint hochtrabend ausgedrückt, wenn die Krise beispielsweise darin besteht, dass der Abfluss verstopft ist. Aber nicht jeder auf der Welt weiss überhaupt, was ein Abfluss ist. Vor einiger Zeit gingen Fotos von Männern eines Naturvolks um die Welt, die in höchster Erregung einen über ihnen kreisenden Helikopter mit Speeren und Pfeilen anzugreifen versuchten. Für uns in den Industrieländern gehört ein Helikopter zum Alltag, für diese Männer bedeutete er Krise, weil ihre Theorie des Normalen keine Helikopter kennt. Sie wissen auch nicht, was ein Abfluss ist und wie er normalerweise zu funktionieren hat. Deshalb bleiben sie gelassen, wenn der Abfluss verstopft ist, während wir die Krise kriegen. Aber was wäre, wenn umgekehrt wir aus den Zonen der Moderne plötzlich in das Urwalddorf versetzt wären? Einerseits....
31. Dezember 2009, Neue Zürcher Zeitung
Was ist eigentlich normal?
Wer von einer Krise redet, hat – bewusst oder nicht – eine Vorstellung von dem vor Augen, was Normalität ist
Die Rede von der Krise ist allgegenwärtig. Doch wie erkennt man eine Krise? Eine Krisendiagnose setzt stets eine Vorstellung, eine «Theorie», der Normalität voraus. – Eine kultursoziologische Exkursion in unübersichtlichem Gelände.
Von Gerhard Schulze *
Ohne Normalitätsmodelle gibt es keine Krisen. Das scheint hochtrabend ausgedrückt, wenn die Krise beispielsweise darin besteht, dass der Abfluss verstopft ist. Aber nicht jeder auf der Welt weiss überhaupt, was ein Abfluss ist. Vor einiger Zeit gingen Fotos von Männern eines Naturvolks um die Welt, die in höchster Erregung einen über ihnen kreisenden Helikopter mit Speeren und Pfeilen anzugreifen versuchten. Für uns in den Industrieländern gehört ein Helikopter zum Alltag, für diese Männer bedeutete er Krise, weil ihre Theorie des Normalen keine Helikopter kennt. Sie wissen auch nicht, was ein Abfluss ist und wie er normalerweise zu funktionieren hat. Deshalb bleiben sie gelassen, wenn der Abfluss verstopft ist, während wir die Krise kriegen. Aber was wäre, wenn umgekehrt wir aus den Zonen der Moderne plötzlich in das Urwalddorf versetzt wären? Einerseits würden wir uns ständig ohne Grund aufregen und andererseits im Krisenfall die Ruhe der Unverständigen an den Tag legen, weil wir nicht wüssten, was normal ist.
Kulturverfall
Aber was ist normal? Die scheinbar simple Denkoperation, das Normale zu erkennen, entpuppt sich schnell als kompliziert und fehleranfällig. Trotzdem findet sie kaum Beachtung. Im Alltag reagieren wir intuitiv, und oft genügt dies. In den grossen Krisendiskursen der Gegenwart, die sich etwa auf Wirtschaft, Bevölkerungsentwicklung, Klima oder Energieversorgung beziehen, genügt Intuition nicht. Noch nie haben so viele Menschen über so viele Krisen nachgedacht, diskutiert, eindringliche Warnungen ausgestossen, aufgerüttelt und auf Abhilfe gesonnen und etwas dagegen getan wie gegenwärtig, und ein Ende ist nicht abzusehen. Aber das intellektuelle Niveau der Debatte ist noch auf dem Stand der Eingeborenen, über deren Dorf ein Helikopter fliegt. Mit «intellektuellem Niveau» meine ich: die Deutlichkeit und Sorgfalt, mit der die Diskussionsteilnehmer über die Qualität der Auseinandersetzung wachen. Kontrollieren sie das zur Begründung herangezogene Wissen? Wie ist es überhaupt entstanden? Welches Wissen wird heimlich und oft unbewusst vorausgesetzt? Wer setzt wen unter Druck? Welche Bedeutung haben sachfremde Motive wie Eitelkeit, Geld, Bequemlichkeit und Feigheit?
Die Krisendiskurse der Gegenwart sind häufiger und intensiver, gleichzeitig dürftiger und dogmatischer geworden. Zu besichtigen ist ein Kulturverfall im Bereich der Argumentation über mehrere Jahrzehnte hinweg. Aber warum ist dies so? Warum stockt methodische Selbstbeobachtung und Selbstkontrolle, das Kerngeschäft der Moderne, gerade dort, wo es um das tief verwurzelte menschliche Grundanliegen geht, mit Schwierigkeiten und Störungen fertig zu werden? Es liegt vor allem an der Theorie des Normalen, an der keiner vorbeikommt, wenn von Krise die Rede ist.
Das übersehene Selbstverständliche
Das erste Problem mit unseren Theorien des Normalen besteht darin, dass wir sie gar nicht erst zum Thema machen, obwohl nur sie Krisen definieren. So kommt das Wichtigste nicht zur Sprache. Wenn die Theorie schweigt, schläft die Skepsis. Das Normalitätsmodell wird zur Selbstverständlichkeit und entlastet vom Nachdenken. Man benutzt das Selbstverständliche implizit und vergisst es.
Dafür gibt es gewiss gute Gründe: Wir müssen uns auf das Wesentliche konzentrieren und können uns nicht mit Banalitäten aufhalten. Was etwa unter Gesundheit zu verstehen sei? Das ist doch jedem klar: Schmerzfreiheit, volle Beweglichkeit, Unversehrtheit, Lebensbejahung, Arbeitsfähigkeit, voll funktionierende Organe. Doch zwischen unstrittiger Gesundheit und eindeutiger Krankheit verläuft eine Grauzone. Vieles, was einmal als krank gegolten hat, gehört nach heutigem Verständnis zum Normalbereich, etwa Homosexualität, Linkshändigkeit, Hysterie. Andere Symptome, von denen die frühere Medizin nichts wusste oder die sie nicht interessierten, gelten heute als Krankheitszeichen, etwa allergische Reaktionen, Demenz oder das Burnout-Syndrom.
Ein zu hoher Cholesterinspiegel beispielsweise gilt als Krisenindikator. Er soll Mitverursacher von Herz-Kreislauf-Erkrankungen sein, Anzeichen eines aus dem Ruder gelaufenen Stoffwechsels, Hinweis auf falsche Ernährung und eine belastende Lebensführung. Aber: Wer hat das eigentlich mit welchen Methoden untersucht? Wie klar waren die Ergebnisse? Und wer hat das Intervall abgegrenzt, nach dem der Arzt sich richtet: ab hier zu niedrig, ab dort zu hoch?
Noch komplizierter werden Theorien des Normalen, wenn sie sich nicht auf Organismen beziehen, sondern auf soziale oder psychische Tatbestände. Auch hierbei handelt es sich zwar um Erfahrungstatsachen, aber um solche besonderer Art. Sie verändern sich, sie tauchen auf und verschwinden wieder, sie lassen sich nur über das fehleranfällige Medium der Sprache erschliessen und haben nicht den Charakter von Zuständen, sondern von wiederholten Episoden: Man muss sie als Muster aus einer Mehrzahl von Abläufen herausdestillieren.
Beispiele für die Psychologisierung und Kulturalisierung des Gesundheitsbegriffs stehen regelmässig in der Zeitung: Soundso viel Prozent der Menschen leiden unter «Stress», «Fettsucht», «Borderline-Syndrom», «Abhängigkeit» (von Drogen, Alkohol, Computerspielen, Konsum . . .), «Konzentrationsstörungen» und was die Phantasie sonst noch hergibt an Pathologien, die das gesetzte Normalitätsschema überschreiten und vorwiegend in einem psychosozialen Rahmen definiert sind. Wer hier zu diskutieren anfangen will, stösst schnell auf die eminenten Diskursprobleme kultureller Phänomene, gegen welche der gute alte Blutfettwert mit seiner impliziten Theorie des Normalen wie ein Fels der Begründungssicherheit wirkt.
Krankheit ist nur ein Krisenbeispiel von vielen, und im Vergleich zu anderen versteckten Theorien des Normalen scheint Gesundheit ein Thema zu sein, über das man sich noch ganz gut verständigen könnte, würde man es ernsthaft diskutieren. Die dargestellten Schwierigkeiten treten jedoch bei ausnahmslos allen Krisendiskursen auf, und dies umso schärfer, je weniger das Körpermodell der Krise passt.
Das Körpermodell
Unsere Alltagserfahrung wirkt machtvoll in den Wissenschaftsbetrieb hinein. Krisen, sei es der Wirtschaft, der Bevölkerung, der Kultur oder des Klimas, werden als «Krankheiten» verstanden. Der dabei logisch vorausgesetzte Begriff von Gesundheit ist in die Vorstellung eines pulsierenden und atmenden Organismus gekleidet, der auf jede Irritation eine passende Systemantwort bereithält, seine Stoffwechselvorgänge abwickelt und im Fliessgleichgewicht dahinlebt. Der Erdkörper, der Volkskörper, der Wirtschaftskörper, der Kulturkörper: Darüber beugt sich das Konsilium der Experten, die unter dem Diktat ihres somatischen Deutungsschemas zu Erdmedizinern, Volksheilern, Wirtschaftsschamanen und Kulturhomöopathen werden. Ein Buch von Jürgen Dahl aus den neunziger Jahren trägt den Titel «Die Verwegenheit der Ahnungslosen». Auf dem Umschlag sieht man einen Mann, der entschlossen auf einen Abgrund zumarschiert – mit verbundenen Augen. Die Botschaft ist klar: Sofort stehenbleiben! Erst einmal über die Folgen jedes weiteren Schritts nachdenken! Risikobewusstsein statt Draufgängertum! Die Erde ist krank und therapiebedürftig. Schon im Erscheinungsjahr seines Buchs war Dahl damit kein Rufer in der Wüste mehr, sondern nur einer von vielen Sängern im Chor der Besorgten. Das Motiv des Warnens und Alarmiertseins wurde zum Kristallisationskern eines langlebigen Genres von Sachbüchern, zum Zeitgeist, zum Leitmotiv der Risikogesellschaft.
Wäre zu Hause bleiben besser?
Doch irgendwo müssen die seit Beginn der Moderne gewonnenen fünfunddreissig zusätzlichen Lebensjahre herkommen, die in den Rhein zurückgekehrten Fische, die verbesserte Luft in den Ballungszentren, das ausgebliebene Waldsterben. Ganz so ahnungslos, wie der Buchtitel von Jürgen Dahl suggeriert, sind wir also nicht geblieben, und ganz so verwegen schon gar nicht. So gesehen, wird Dahls Umschlagbild zur Kippfigur: Wer ist hier ahnungslos und verwegen: der Patient Moderne – oder seine Ärzte?
Mut gilt kaum noch als Tugend. Spiegelbildlich dazu ist die Wertschätzung von Bedenken und Befürchtungen gestiegen. Lange Zeit rühmten sich Politiker der Klugheit ihres Handelns, seit einigen Jahrzehnten werben sie auch mit der Klugheit des Nichthandelns. Risikodiskurse haben den Horizont der in Betracht gezogenen Handlungsmöglichkeiten um das Unterlassen erweitert. Das ist vernünftig – in Grenzen. Es wird unvernünftig, wenn das Unterlassen überhandnimmt. Vor dem Hintergrund der Vision eines Weltfriedens ohne Menschen entfalten sich Risikodiskurse vom Zungenschlag der tadelnd eingeräumten letzten Chance: Wenn du nicht verschwinden willst, Mensch, dann reiss dich baldigst am Riemen!
Pascals berühmter Ratschlag wird neu interpretiert: Würden alle Leute zu Hause in ihrem Zimmer bleiben, so schrieb er sinngemäss, wäre alles Unheil von der Welt verbannt. Die Risikogesellschaft sagt: Ihr könnt die Wohnung verlassen, wenn alle Risiken analysiert und minimiert sind. Wenn nicht, bleibt gefälligst zu Hause. In dieser «Philosophie» verstecken sich fundamentale Fehler. Ohne ein Minimum von Verwegenheit und Ahnungslosigkeit ist menschliches Überleben ebenso gefährdet wie durch ein Übermass. Vorsicht soll Risiken reduzieren, aber sie ist selbst potenziell riskant. Totale Risikovermeidung ist gefährlich. Ein Stillstand der Moderne wäre eine Katastrophe. Bis zu einem gewissen Grad sind Verwegenheit und Ahnungslosigkeit unser Schicksal.
Der Klimatologe Stephen H. Schneider allerdings, ein ehemaliger Berater von Al Gore, plädiert für bewusste Irreführung: «Auf der einen Seite sind wir als Wissenschafter an die wissenschaftliche Methode ethisch gebunden, was bedeutet, dass wir alle Zweifel, alle Differenzierungen, das ganze Wenn und Aber mit einschliessen. Auf der anderen Seite würden wir gerne die Welt verbessern. Um das zu schaffen, brauchen wir eine breite Unterstützung, müssen wir die öffentliche Aufmerksamkeit gewinnen. Darum müssen wir Schreckensszenarien verbreiten, schlichte, dramatisierende Stellungnahmen abgeben, und die Zweifel, die wir möglicherweise haben, kaum erwähnen. Diese ethische Doppelverpflichtung kann nicht auf eine bestimmte Formel gebracht werden.»
Das nennt man doppelte Moral. Was bleibt, ist die skeptische Prüfung von Argumenten. Letztlich hat Karl Popper das letzte Wort: Alles Wissen ist Vermutungswissen. Niemand ist im Besitz sicheren Wissens, die Meinungsführer der Krisendiskurse so wenig wie ihre Kritiker. Aber wundert es jemand, dass Gewissheit gerade dann besonders gut gedeiht, wenn viele Fragen offen sind? Wenn die Gegenpartei angreift, darf man keine Schwäche zeigen. Auf diese Weise wird aus wissenschaftlicher Methode unversehens soziale Strategie.
Eine List der Vernunft?
Unter solchen Umständen setzt sich das zum gegebenen Zeitpunkt mächtigere Paradigma erst einmal mit der gleichen Zwangsläufigkeit durch wie ein Sumoringer auf der Wippschaukel. Am anderen Ende der Schaukel zappelt der Skeptiker mit den Beinen in der Luft: für zu leicht befunden. Schon oft in der Geschichte der Wissenschaft wurde der soziale, machtbasierte Geltungsanspruch von Theorien mit ihrer sachlichen Begründetheit verwechselt. «Weltweiter Expertenkonsens» – das ist heute der Name des Sumoringers. «Im Übrigen sind wir natürlich jederzeit offen für Kritik.» An diesem rhetorischen Schutzanzug perlt erst einmal alles ab.
Wie kommt es dann, dass sich dennoch in der Geschichte der Wissenschaft so oft die besseren Argumente durchgesetzt haben, wie lange es auch immer gedauert haben mag? Liegt die Erklärung darin, dass argumentative Selbstbeobachtung und Erkenntnistheorie, einmal «entdeckt», nicht mehr aus dem kollektiven Gedächtnis verschwinden, unverlierbar wie die Schrift, die Sesshaftigkeit, das Rad? Wenn es sich so verhält, ist auch in den merkwürdigsten Kapriolen unserer Krisendiskurse die List der Vernunft am Werk. Zugegeben, das ist spekulativ, und es ist obendrein optimistisch. Stimmen kann es trotzdem.
* Prof. Dr. Gerhard Schulze lehrt und forscht als Soziologe an der Universität Bamberg. Bekannt geworden ist er mit seiner erstmals 1992 erschienenen kultursoziologischen Studie «Die Erlebnisgesellschaft» (Campus-Verlag). Weitere Buchpublikationen: «Die beste aller Welten. Wohin bewegt sich die Gesellschaft im 21. Jahrhundert?» sowie «Die Sünde. Das schöne Leben und seine Feinde». Beide Essays sind bei Hanser verlegt worden.
Was ist eigentlich normal?
Wer von einer Krise redet, hat – bewusst oder nicht – eine Vorstellung von dem vor Augen, was Normalität ist
Die Rede von der Krise ist allgegenwärtig. Doch wie erkennt man eine Krise? Eine Krisendiagnose setzt stets eine Vorstellung, eine «Theorie», der Normalität voraus. – Eine kultursoziologische Exkursion in unübersichtlichem Gelände.
Von Gerhard Schulze *
Ohne Normalitätsmodelle gibt es keine Krisen. Das scheint hochtrabend ausgedrückt, wenn die Krise beispielsweise darin besteht, dass der Abfluss verstopft ist. Aber nicht jeder auf der Welt weiss überhaupt, was ein Abfluss ist. Vor einiger Zeit gingen Fotos von Männern eines Naturvolks um die Welt, die in höchster Erregung einen über ihnen kreisenden Helikopter mit Speeren und Pfeilen anzugreifen versuchten. Für uns in den Industrieländern gehört ein Helikopter zum Alltag, für diese Männer bedeutete er Krise, weil ihre Theorie des Normalen keine Helikopter kennt. Sie wissen auch nicht, was ein Abfluss ist und wie er normalerweise zu funktionieren hat. Deshalb bleiben sie gelassen, wenn der Abfluss verstopft ist, während wir die Krise kriegen. Aber was wäre, wenn umgekehrt wir aus den Zonen der Moderne plötzlich in das Urwalddorf versetzt wären? Einerseits....
31. Dezember 2009, Neue Zürcher Zeitung
Was ist eigentlich normal?
Wer von einer Krise redet, hat – bewusst oder nicht – eine Vorstellung von dem vor Augen, was Normalität ist
Die Rede von der Krise ist allgegenwärtig. Doch wie erkennt man eine Krise? Eine Krisendiagnose setzt stets eine Vorstellung, eine «Theorie», der Normalität voraus. – Eine kultursoziologische Exkursion in unübersichtlichem Gelände.
Von Gerhard Schulze *
Ohne Normalitätsmodelle gibt es keine Krisen. Das scheint hochtrabend ausgedrückt, wenn die Krise beispielsweise darin besteht, dass der Abfluss verstopft ist. Aber nicht jeder auf der Welt weiss überhaupt, was ein Abfluss ist. Vor einiger Zeit gingen Fotos von Männern eines Naturvolks um die Welt, die in höchster Erregung einen über ihnen kreisenden Helikopter mit Speeren und Pfeilen anzugreifen versuchten. Für uns in den Industrieländern gehört ein Helikopter zum Alltag, für diese Männer bedeutete er Krise, weil ihre Theorie des Normalen keine Helikopter kennt. Sie wissen auch nicht, was ein Abfluss ist und wie er normalerweise zu funktionieren hat. Deshalb bleiben sie gelassen, wenn der Abfluss verstopft ist, während wir die Krise kriegen. Aber was wäre, wenn umgekehrt wir aus den Zonen der Moderne plötzlich in das Urwalddorf versetzt wären? Einerseits würden wir uns ständig ohne Grund aufregen und andererseits im Krisenfall die Ruhe der Unverständigen an den Tag legen, weil wir nicht wüssten, was normal ist.
Kulturverfall
Aber was ist normal? Die scheinbar simple Denkoperation, das Normale zu erkennen, entpuppt sich schnell als kompliziert und fehleranfällig. Trotzdem findet sie kaum Beachtung. Im Alltag reagieren wir intuitiv, und oft genügt dies. In den grossen Krisendiskursen der Gegenwart, die sich etwa auf Wirtschaft, Bevölkerungsentwicklung, Klima oder Energieversorgung beziehen, genügt Intuition nicht. Noch nie haben so viele Menschen über so viele Krisen nachgedacht, diskutiert, eindringliche Warnungen ausgestossen, aufgerüttelt und auf Abhilfe gesonnen und etwas dagegen getan wie gegenwärtig, und ein Ende ist nicht abzusehen. Aber das intellektuelle Niveau der Debatte ist noch auf dem Stand der Eingeborenen, über deren Dorf ein Helikopter fliegt. Mit «intellektuellem Niveau» meine ich: die Deutlichkeit und Sorgfalt, mit der die Diskussionsteilnehmer über die Qualität der Auseinandersetzung wachen. Kontrollieren sie das zur Begründung herangezogene Wissen? Wie ist es überhaupt entstanden? Welches Wissen wird heimlich und oft unbewusst vorausgesetzt? Wer setzt wen unter Druck? Welche Bedeutung haben sachfremde Motive wie Eitelkeit, Geld, Bequemlichkeit und Feigheit?
Die Krisendiskurse der Gegenwart sind häufiger und intensiver, gleichzeitig dürftiger und dogmatischer geworden. Zu besichtigen ist ein Kulturverfall im Bereich der Argumentation über mehrere Jahrzehnte hinweg. Aber warum ist dies so? Warum stockt methodische Selbstbeobachtung und Selbstkontrolle, das Kerngeschäft der Moderne, gerade dort, wo es um das tief verwurzelte menschliche Grundanliegen geht, mit Schwierigkeiten und Störungen fertig zu werden? Es liegt vor allem an der Theorie des Normalen, an der keiner vorbeikommt, wenn von Krise die Rede ist.
Das übersehene Selbstverständliche
Das erste Problem mit unseren Theorien des Normalen besteht darin, dass wir sie gar nicht erst zum Thema machen, obwohl nur sie Krisen definieren. So kommt das Wichtigste nicht zur Sprache. Wenn die Theorie schweigt, schläft die Skepsis. Das Normalitätsmodell wird zur Selbstverständlichkeit und entlastet vom Nachdenken. Man benutzt das Selbstverständliche implizit und vergisst es.
Dafür gibt es gewiss gute Gründe: Wir müssen uns auf das Wesentliche konzentrieren und können uns nicht mit Banalitäten aufhalten. Was etwa unter Gesundheit zu verstehen sei? Das ist doch jedem klar: Schmerzfreiheit, volle Beweglichkeit, Unversehrtheit, Lebensbejahung, Arbeitsfähigkeit, voll funktionierende Organe. Doch zwischen unstrittiger Gesundheit und eindeutiger Krankheit verläuft eine Grauzone. Vieles, was einmal als krank gegolten hat, gehört nach heutigem Verständnis zum Normalbereich, etwa Homosexualität, Linkshändigkeit, Hysterie. Andere Symptome, von denen die frühere Medizin nichts wusste oder die sie nicht interessierten, gelten heute als Krankheitszeichen, etwa allergische Reaktionen, Demenz oder das Burnout-Syndrom.
Ein zu hoher Cholesterinspiegel beispielsweise gilt als Krisenindikator. Er soll Mitverursacher von Herz-Kreislauf-Erkrankungen sein, Anzeichen eines aus dem Ruder gelaufenen Stoffwechsels, Hinweis auf falsche Ernährung und eine belastende Lebensführung. Aber: Wer hat das eigentlich mit welchen Methoden untersucht? Wie klar waren die Ergebnisse? Und wer hat das Intervall abgegrenzt, nach dem der Arzt sich richtet: ab hier zu niedrig, ab dort zu hoch?
Noch komplizierter werden Theorien des Normalen, wenn sie sich nicht auf Organismen beziehen, sondern auf soziale oder psychische Tatbestände. Auch hierbei handelt es sich zwar um Erfahrungstatsachen, aber um solche besonderer Art. Sie verändern sich, sie tauchen auf und verschwinden wieder, sie lassen sich nur über das fehleranfällige Medium der Sprache erschliessen und haben nicht den Charakter von Zuständen, sondern von wiederholten Episoden: Man muss sie als Muster aus einer Mehrzahl von Abläufen herausdestillieren.
Beispiele für die Psychologisierung und Kulturalisierung des Gesundheitsbegriffs stehen regelmässig in der Zeitung: Soundso viel Prozent der Menschen leiden unter «Stress», «Fettsucht», «Borderline-Syndrom», «Abhängigkeit» (von Drogen, Alkohol, Computerspielen, Konsum . . .), «Konzentrationsstörungen» und was die Phantasie sonst noch hergibt an Pathologien, die das gesetzte Normalitätsschema überschreiten und vorwiegend in einem psychosozialen Rahmen definiert sind. Wer hier zu diskutieren anfangen will, stösst schnell auf die eminenten Diskursprobleme kultureller Phänomene, gegen welche der gute alte Blutfettwert mit seiner impliziten Theorie des Normalen wie ein Fels der Begründungssicherheit wirkt.
Krankheit ist nur ein Krisenbeispiel von vielen, und im Vergleich zu anderen versteckten Theorien des Normalen scheint Gesundheit ein Thema zu sein, über das man sich noch ganz gut verständigen könnte, würde man es ernsthaft diskutieren. Die dargestellten Schwierigkeiten treten jedoch bei ausnahmslos allen Krisendiskursen auf, und dies umso schärfer, je weniger das Körpermodell der Krise passt.
Das Körpermodell
Unsere Alltagserfahrung wirkt machtvoll in den Wissenschaftsbetrieb hinein. Krisen, sei es der Wirtschaft, der Bevölkerung, der Kultur oder des Klimas, werden als «Krankheiten» verstanden. Der dabei logisch vorausgesetzte Begriff von Gesundheit ist in die Vorstellung eines pulsierenden und atmenden Organismus gekleidet, der auf jede Irritation eine passende Systemantwort bereithält, seine Stoffwechselvorgänge abwickelt und im Fliessgleichgewicht dahinlebt. Der Erdkörper, der Volkskörper, der Wirtschaftskörper, der Kulturkörper: Darüber beugt sich das Konsilium der Experten, die unter dem Diktat ihres somatischen Deutungsschemas zu Erdmedizinern, Volksheilern, Wirtschaftsschamanen und Kulturhomöopathen werden. Ein Buch von Jürgen Dahl aus den neunziger Jahren trägt den Titel «Die Verwegenheit der Ahnungslosen». Auf dem Umschlag sieht man einen Mann, der entschlossen auf einen Abgrund zumarschiert – mit verbundenen Augen. Die Botschaft ist klar: Sofort stehenbleiben! Erst einmal über die Folgen jedes weiteren Schritts nachdenken! Risikobewusstsein statt Draufgängertum! Die Erde ist krank und therapiebedürftig. Schon im Erscheinungsjahr seines Buchs war Dahl damit kein Rufer in der Wüste mehr, sondern nur einer von vielen Sängern im Chor der Besorgten. Das Motiv des Warnens und Alarmiertseins wurde zum Kristallisationskern eines langlebigen Genres von Sachbüchern, zum Zeitgeist, zum Leitmotiv der Risikogesellschaft.
Wäre zu Hause bleiben besser?
Doch irgendwo müssen die seit Beginn der Moderne gewonnenen fünfunddreissig zusätzlichen Lebensjahre herkommen, die in den Rhein zurückgekehrten Fische, die verbesserte Luft in den Ballungszentren, das ausgebliebene Waldsterben. Ganz so ahnungslos, wie der Buchtitel von Jürgen Dahl suggeriert, sind wir also nicht geblieben, und ganz so verwegen schon gar nicht. So gesehen, wird Dahls Umschlagbild zur Kippfigur: Wer ist hier ahnungslos und verwegen: der Patient Moderne – oder seine Ärzte?
Mut gilt kaum noch als Tugend. Spiegelbildlich dazu ist die Wertschätzung von Bedenken und Befürchtungen gestiegen. Lange Zeit rühmten sich Politiker der Klugheit ihres Handelns, seit einigen Jahrzehnten werben sie auch mit der Klugheit des Nichthandelns. Risikodiskurse haben den Horizont der in Betracht gezogenen Handlungsmöglichkeiten um das Unterlassen erweitert. Das ist vernünftig – in Grenzen. Es wird unvernünftig, wenn das Unterlassen überhandnimmt. Vor dem Hintergrund der Vision eines Weltfriedens ohne Menschen entfalten sich Risikodiskurse vom Zungenschlag der tadelnd eingeräumten letzten Chance: Wenn du nicht verschwinden willst, Mensch, dann reiss dich baldigst am Riemen!
Pascals berühmter Ratschlag wird neu interpretiert: Würden alle Leute zu Hause in ihrem Zimmer bleiben, so schrieb er sinngemäss, wäre alles Unheil von der Welt verbannt. Die Risikogesellschaft sagt: Ihr könnt die Wohnung verlassen, wenn alle Risiken analysiert und minimiert sind. Wenn nicht, bleibt gefälligst zu Hause. In dieser «Philosophie» verstecken sich fundamentale Fehler. Ohne ein Minimum von Verwegenheit und Ahnungslosigkeit ist menschliches Überleben ebenso gefährdet wie durch ein Übermass. Vorsicht soll Risiken reduzieren, aber sie ist selbst potenziell riskant. Totale Risikovermeidung ist gefährlich. Ein Stillstand der Moderne wäre eine Katastrophe. Bis zu einem gewissen Grad sind Verwegenheit und Ahnungslosigkeit unser Schicksal.
Der Klimatologe Stephen H. Schneider allerdings, ein ehemaliger Berater von Al Gore, plädiert für bewusste Irreführung: «Auf der einen Seite sind wir als Wissenschafter an die wissenschaftliche Methode ethisch gebunden, was bedeutet, dass wir alle Zweifel, alle Differenzierungen, das ganze Wenn und Aber mit einschliessen. Auf der anderen Seite würden wir gerne die Welt verbessern. Um das zu schaffen, brauchen wir eine breite Unterstützung, müssen wir die öffentliche Aufmerksamkeit gewinnen. Darum müssen wir Schreckensszenarien verbreiten, schlichte, dramatisierende Stellungnahmen abgeben, und die Zweifel, die wir möglicherweise haben, kaum erwähnen. Diese ethische Doppelverpflichtung kann nicht auf eine bestimmte Formel gebracht werden.»
Das nennt man doppelte Moral. Was bleibt, ist die skeptische Prüfung von Argumenten. Letztlich hat Karl Popper das letzte Wort: Alles Wissen ist Vermutungswissen. Niemand ist im Besitz sicheren Wissens, die Meinungsführer der Krisendiskurse so wenig wie ihre Kritiker. Aber wundert es jemand, dass Gewissheit gerade dann besonders gut gedeiht, wenn viele Fragen offen sind? Wenn die Gegenpartei angreift, darf man keine Schwäche zeigen. Auf diese Weise wird aus wissenschaftlicher Methode unversehens soziale Strategie.
Eine List der Vernunft?
Unter solchen Umständen setzt sich das zum gegebenen Zeitpunkt mächtigere Paradigma erst einmal mit der gleichen Zwangsläufigkeit durch wie ein Sumoringer auf der Wippschaukel. Am anderen Ende der Schaukel zappelt der Skeptiker mit den Beinen in der Luft: für zu leicht befunden. Schon oft in der Geschichte der Wissenschaft wurde der soziale, machtbasierte Geltungsanspruch von Theorien mit ihrer sachlichen Begründetheit verwechselt. «Weltweiter Expertenkonsens» – das ist heute der Name des Sumoringers. «Im Übrigen sind wir natürlich jederzeit offen für Kritik.» An diesem rhetorischen Schutzanzug perlt erst einmal alles ab.
Wie kommt es dann, dass sich dennoch in der Geschichte der Wissenschaft so oft die besseren Argumente durchgesetzt haben, wie lange es auch immer gedauert haben mag? Liegt die Erklärung darin, dass argumentative Selbstbeobachtung und Erkenntnistheorie, einmal «entdeckt», nicht mehr aus dem kollektiven Gedächtnis verschwinden, unverlierbar wie die Schrift, die Sesshaftigkeit, das Rad? Wenn es sich so verhält, ist auch in den merkwürdigsten Kapriolen unserer Krisendiskurse die List der Vernunft am Werk. Zugegeben, das ist spekulativ, und es ist obendrein optimistisch. Stimmen kann es trotzdem.
* Prof. Dr. Gerhard Schulze lehrt und forscht als Soziologe an der Universität Bamberg. Bekannt geworden ist er mit seiner erstmals 1992 erschienenen kultursoziologischen Studie «Die Erlebnisgesellschaft» (Campus-Verlag). Weitere Buchpublikationen: «Die beste aller Welten. Wohin bewegt sich die Gesellschaft im 21. Jahrhundert?» sowie «Die Sünde. Das schöne Leben und seine Feinde». Beide Essays sind bei Hanser verlegt worden.
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