Freitag, Januar 08, 2010

Naiver Wunderglaube

2. Januar 2010, Neue Zürcher Zeitung

Naiver Wunderglaube
Der Fall der britischen Pianistin Joyce Hatto.
(siehe dazu auch den untenstehenden Artikel vom 07.01.2010)
Seit den neunziger Jahren sorgte eine Pianistin mit vielfältigen Einspielungen für Furore. Niemand jedoch sah sie in all den Jahren Klavier spielen. Statt argwöhnisch zu werden, zollte man Beifall. Doch die Virtuosität von Joyce Hatto erwies sich als elektronisch unterstützter Schwindel.

Von Alfred Brendel

Eine Frau, Pianistin von Beruf, verblüfft, rührt und entzückt CD-Sammler und Klavierexperten in England und Amerika. Sie ist krebskrank und steht bereits in vorgerücktem Alter. Mit ungeahnten Kräften ausgestattet, gelingt es ihr dennoch, binnen weniger Jahre den grössten Teil der Klavierliteratur aufzunehmen. Sie beherrscht nicht allein sämtliche Sonaten von Haydn, Mozart, Beethoven, Schubert oder Prokofjew, sondern auch, neben ungezählten anderen Werken, Bachs Goldberg- und Brahms' Paganini-Variationen, Liszts Transkriptionen aller Beethoven-Symphonien, Godowskys Bearbeitungen der Etüden Chopins sowie Messiaens «Vingt regards». Über hundert CD kommen zum Vorschein, ohne dass sich darin ein einziges Werk wiederholt. Längst hat sie mit dem Konzertieren aufgehört; ein Liszt gewidmeter Klavierabend in der Londoner Wigmore Hall, in dessen Verlauf sie die Nerven verlor, beendete 1967 diesen Teil ihrer Karriere. Siebenundsiebzigjährig stirbt sie im Jahr 2007. In den Londoner Zeitungen liest man.....


2. Januar 2010, Neue Zürcher Zeitung

Naiver Wunderglaube
Der Fall der britischen Pianistin Joyce Hatto.

Seit den neunziger Jahren sorgte eine Pianistin mit vielfältigen Einspielungen für Furore. Niemand jedoch sah sie in all den Jahren Klavier spielen. Statt argwöhnisch zu werden, zollte man Beifall. Doch die Virtuosität von Joyce Hatto erwies sich als elektronisch unterstützter Schwindel.

Von Alfred Brendel

Eine Frau, Pianistin von Beruf, verblüfft, rührt und entzückt CD-Sammler und Klavierexperten in England und Amerika. Sie ist krebskrank und steht bereits in vorgerücktem Alter. Mit ungeahnten Kräften ausgestattet, gelingt es ihr dennoch, binnen weniger Jahre den grössten Teil der Klavierliteratur aufzunehmen. Sie beherrscht nicht allein sämtliche Sonaten von Haydn, Mozart, Beethoven, Schubert oder Prokofjew, sondern auch, neben ungezählten anderen Werken, Bachs Goldberg- und Brahms' Paganini-Variationen, Liszts Transkriptionen aller Beethoven-Symphonien, Godowskys Bearbeitungen der Etüden Chopins sowie Messiaens «Vingt regards». Über hundert CD kommen zum Vorschein, ohne dass sich darin ein einziges Werk wiederholt. Längst hat sie mit dem Konzertieren aufgehört; ein Liszt gewidmeter Klavierabend in der Londoner Wigmore Hall, in dessen Verlauf sie die Nerven verlor, beendete 1967 diesen Teil ihrer Karriere. Siebenundsiebzigjährig stirbt sie im Jahr 2007. In den Londoner Zeitungen liest man Nachrufe, wie sie interpretierenden Musikern noch kaum zuteil wurden. Wer es noch nicht mit Hilfe des Internets oder aus Schallplattenzeitschriften erfahren hatte, wusste es nun: Joyce Hatto war «ein britisches Nationaljuwel», eine Pianistin, die den grössten Namen der Zunft nicht nachstand.

Erfundene Geschichten

Wie sich seither herausgestellt hat, war die ganze CD-Serie ein grandioser Schwindel. Joyce Hattos Ehemann William Barrington-Coupe hatte ihn, ohne Zweifel im Zusammenwirken mit seiner Ehefrau, allmählich in Szene gesetzt. Bereits seit den sechziger Jahren hatte Barrington-Coupe, ein Tontechniker von virtuosen Graden, als Produzent getan, was damals in England und Amerika gang und gäbe war, nämlich weniger beachtete musikalische Einspielungen zu stark herabgesetzten Preisen wieder in den Handel zu bringen. Es genügte, die Ausführenden umzutaufen. Schon damals machte es Barrington-Coupe Vergnügen, Sänger, Pianisten oder Dirigenten mit fiktiven Namen zu versehen. Eine Sängerin hiess bei ihm Herda Wobbel, einen Dirigenten nannte er Wilhelm Havagesse («have a guess»). 1966 sass er wegen Steuerbetrugs ein Jahr lang im Gefängnis.

Seiner Frau ergeben, beschloss er, sie berühmt zu machen. Die Konzerte, die er für sie einrichtete, führten nicht zum erhofften Erfolg. So verbreitete er die Geschichte einer Leidenden, die, von Schwächeanfällen heimgesucht und durch Schmerzen behindert, in einem Schuppen hinter dem Haus oder in einer nicht existierenden Kirche ihre Aufnahmen machte. In Wirklichkeit wurden Aufzeichnungen zahlreicher anderer Pianisten in Barrington-Coupes eigener Firma Concert Artists unter Joyce Hattos Name herausgebracht. (Eine einzige Aufnahme aus dem Jahr 1970 stammt tatsächlich von ihr, jene der «Symphonic Variations» des selbst in England kaum noch aufgeführten Sir Arnold Bax.) Im Lauf der neunziger Jahre erlaubte es der technologische Fortschritt, fremde Aufnahmen ohne grösseren Aufwand am eigenen Computer aufzubereiten. Zugleich war das Angebot an CD, die man plündern konnte, bis ins Uferlose angewachsen.

Im Internet hatten sich Diskussionsgruppen klavierbegeisterter Sammler herausgebildet, die mit Hilfe von Yahoo oder Usenet/Google ihre Meinungen austauschten. Zu den Mitgliedern dieser Gruppen gehörten auch Neugierige, die versuchten, hinter die Pseudonyme der Billigplatten zu blicken. Barrington-Coupe erwies sich dabei als bereitwilliger Helfer, der auch seltene Plattenexemplare herbeischaffte. Zugleich setzte er Schritt für Schritt den Joyce-Hatto-Mythos in die Welt. Im neuen Jahrtausend war es dann endlich so weit: Eine Handvoll namhafter angloamerikanischer Berufskritiker und Spezialisten hielt dem Sog nicht mehr Stand. Regelmässig und mit Nachdruck erwiesen sie nun dem Strom der Hatto-Aufnahmen ihre Reverenz. Abgesehen von höchster Virtuosität attestierte man Hatto «eine Richtigkeit und Ehrlichkeit» des Musizierens, der man sich getrost überlassen könne.

Inzwischen sind die Spieler der meisten CD identifiziert worden. Nicht weniger als 96 Pianisten bestreiten nach bisheriger Zählung einzelne Werke oder ganze Werkserien, sofern sie nicht eklektisch mit Ausschnitten zum Zug kommen. Die prominentesten Zelebritäten blieben offenbar ausgespart, doch findet man Namen wie Andsnes, Ashkenasy, Bronfman, Hamelin oder Kissin. Ingrid Haeblers alte Philips-Einspielungen der Mozart-Sonaten kamen wieder zu Ehren. Die Identität der Aufnahmen ist elektronisch einwandfrei erwiesen. Barrington-Coupes Beitrag bestand darin, den Klang mancher CD etwas zu verfremden, zyklische Werke aus mehreren Aufnahmen zusammenzustellen sowie manchmal Tempi zu verändern, um die Identifikation zu erschweren, denn es ist neuerdings digitaltechnisch möglich geworden, Musik langsamer oder schneller ablaufen zu lassen, ohne die Tonhöhe anzutasten. Bei Liszts «Feux follets» in beschleunigter Ausfertigung brach den Hörern der kalte Schweiss aus.

Begnadete Schwindler

Die Freude, Kenner zu düpieren, muss beträchtlich gewesen sein. Auch mündlich und schriftlich hat sich Barrington-Coupe als begnadeter Schwindler ausgewiesen, der dem jeweiligen Gesprächspartner mühelos nach dem Mund redete. Einem Korrespondenten, der seine CD direkt bei Barrington-Coupes Firma bezog, vermittelte er über Jahre hinweg den Eindruck, das Unternehmen beschäftige an vier verschiedenen Orten 32 Angestellte. De facto lief alles in Barrington-Coupes Häuschen in Royston, Herfordshire, zusammen. Auch Joyce Hatto, eine Person von konfuser und quirliger Lebendigkeit, scheint im persönlichen Umgang gute Figur gemacht zu haben. Ihre Fähigkeit, aus dem Stegreif prominente Musikernamen ins Gespräch einzuflechten, kannte keine Hemmungen. Clara Haskil habe sie zahlreiche Scarlatti-Sonaten vorgespielt, mit Alfred Cortot sei sie immer wieder in Londons National Gallery gegangen. Als der damalige Chefkritiker des «Boston Globe» das Ehepaar 2005 interviewt hatte, rühmte er nicht nur Hattos Klavierspiel, sondern auch ihren Sinn für Humor. Sie habe, wie er berichtete, eine hohe mädchenhafte Stimme und spreche mit der Geschwindigkeit einer ihrer Liszt-Etüden.

Phantastische Behauptungen

Joyce Hattos Biografie, wie sie von Barrington-Coupe mitgeteilt wurde, wimmelt von Unwahrscheinlichkeiten, die ohne jeden Argwohn in die Nachrufe aufgenommen wurden. Dreimal hatte Joyce Hatto die Aufnahmeprüfung, die Musikern den Zugang zu BBC-Sendungen eröffnet, verfehlt. Kein Londoner Orchester wollte sie engagieren. Dass sie dennoch mit Dirigenten wie de Sabata oder Furtwängler aufgetreten sein sollte, ist ebenso phantastisch wie die Behauptung, Furtwängler habe ihre Hammerklaviersonate gehört und sei davon beeindruckt gewesen, oder die angebliche Eloge Hindemiths. Jeden Morgen, so hiess es, begab sie sich zuallererst vom Bett zum Flügel, um das Finale der b-Moll-Sonate Chopins prestissimo abzuspulen. Noch drei Wochen vor ihrem Tod habe sie, im Rollstuhl sitzend, eine Aufnahme gemacht. Von welchem Werk? Von Beethovens Lebewohl-Sonate natürlich.

Als ein Sammler Barrington-Coupe über den völlig unbekannten und undokumentierten Kapellmeister René Köhler befragte, der, wie es hiess, regelmässig Hattos Orchesteraufnahmen dirigierte, las man alsbald auf der Website der Produktionsfirma einen Lebenslauf, dessen Kühnheit man seinen Respekt nicht versagen kann: Köhler sei in Weimar aufgewachsen, habe bei den Pianisten Stanislav Spinalski und an der Jagellonischen Universität in Krakau studiert, bevor ein junger deutscher Offizier ihm 1940 die linke Hand zerschmettert habe. Dann überlebte er Treblinka, wurde jedoch anschliessend in ein sowjetisches Arbeitslager deportiert, in dem er bis 1970 blieb. Von zarter Gesundheit, starb er an Prostatakrebs. (Das Pseudonym René Köhler war bereits in den fünfziger Jahren aufgetaucht.)

Abenteuerliche Leichtgläubigkeit

Es gibt mehrere Spielarten, auf die Affäre Joyce Hatto zu reagieren. Da ist zunächst schmunzelnde Bewunderung für die Unverfrorenheit des Ehepaars und für Barrington-Coupes technisches und organisatorisches Geschick, gepaart mit Schadenfreude darüber, dass Fachleuten eins ausgewischt wurde. Ein zweiter Blickwinkel sieht die Angelegenheit von der humanitären Seite. Nicht nur die rührende Vorstellung einer Gattenliebe, die seiner Frau die Beachtung zu vermitteln suchte, welche sie als Pianistin nicht gefunden hatte («Ich tat alles nur für sie»), sondern auch das Bild einer Heroine des Klavierspiels, die sich, in ihrem Leben bedroht und doch mit dem höchsten Anspruch auf Perfektion, ein Virtuosenstück nach dem anderen abtrotzt. Die durch ihr Einstehen für Joyce Hatto Betroffenen argumentieren, es wäre ja geradezu zynisch gewesen, sich nicht dem Mitgefühl zu überlassen. Man sei doch schliesslich ein Mensch. Wo der Zynismus eigentlich zu suchen ist, nämlich in der Mentalität der Schwindler, kommt dabei nicht zur Sprache. Dann ist da noch die Perspektive der vielen bestohlenen Kollegen. (Ich gehöre, nach dem bisherigen Stand der Dinge, nicht dazu.) Eine grössere Anzahl von Aufnahmen, die vorher meist weniger beachtet, wenn nicht geschmäht oder vergessen waren, stand plötzlich unter falschem Namen auf dem höchsten Kothurn. Dieselben Aufführungen von Rachmaninow-Konzerten, denen 15 Jahre früher jedes Gefühl für slawische Melancholie abgesprochen worden war, erschienen nun den Ohren desselben Experten besonders slawisch.

Es ist schwer zu sagen, worüber man mehr staunen sollte: über die Wirklichkeitsferne, die es einer noch dazu kranken Frau zutraute, ein riesiges, auch athletisch höchst anspruchsvolles Repertoire innerhalb eines Jahrzehnts aufzunehmen, ein Repertoire, das kein Übermensch während eines langen gesunden Lebens bewältigen könnte; über die Naivität, mit der man auf die abenteuerlichsten Erklärungen und Erfindungen hereinfiel; über die Sorglosigkeit, mit der ein Klavierspiel akzeptiert wurde, dem seit den siebziger Jahren niemand als Augenzeuge beigewohnt hatte; über die Leichtgläubigkeit, mit der Namen nicht existierender Dirigenten und Orchester hingenommen wurden; über die unglaubliche Tatsache, dass man das Spiel einer Hundertschaft verschiedenster Pianisten für jenes einer einzigen Person hielt («Ihr schöner Klang gehört ihr allein»); über die Vergesslichkeit, mit welcher Aufführungen nun als ideal und herzbewegend hingestellt wurden, die vorher herabsetzend besprochen worden waren; oder über die Voreingenommenheit, die in die Aufnahmen hineintrug, was man in ihnen hören wollte. Das Bedürfnis, an Wunder zu glauben, scheint nicht abhanden gekommen zu sein.


Der Pianist Alfred Brendel, 1931 in Wiesenberg, Nordmähren, geboren, lebt in London.

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