Sonntag, Januar 17, 2010

Der Elefant und der Drache

NZZ Online
11. Januar 2010
Der Elefant und der Drache
Indien und China – die unbequeme Nachbarschaft zweier Grossmächte

Für den Westen sind die Wirtschaftsmächte Indien und China gleichermassen Konkurrenz. Das gegenseitige Verhältnis der beiden Nachbarstaaten aber ist noch durch komplexere Faktoren befrachtet.

Bernard Imhasly

Die Welt mag seit einiger Zeit von einer China-Obsession gepackt sein, in der sich Euphorie und Konkurrenzangst mischen – in Indien freilich ist Sinophobie eine alte Krankheit. Auch bei ihr werden neue, durch wirtschaftliche Faktoren bedingte Erreger ausgemacht, aber diesen sind schwere geopolitische Ängste unterlegt – Einkreisung, Infiltration, territoriale Bedrohung. Der Himalaja ist mehr als eine physische Schranke, und an ihm stauen sich, auf beiden Seiten, ähnlich massive Vorurteile. Trotz einer nahezu zweitausend Kilometer langen gemeinsamen Grenze gibt es keine einzige offene Strassenverbindung. Und die regelmässigste Flugverbindung zwischen Delhi und Beijing wird von....


NZZ Online
11. Januar 2010
Der Elefant und der Drache
Indien und China – die unbequeme Nachbarschaft zweier Grossmächte

Für den Westen sind die Wirtschaftsmächte Indien und China gleichermassen Konkurrenz. Das gegenseitige Verhältnis der beiden Nachbarstaaten aber ist noch durch komplexere Faktoren befrachtet.

Bernard Imhasly

Die Welt mag seit einiger Zeit von einer China-Obsession gepackt sein, in der sich Euphorie und Konkurrenzangst mischen – in Indien freilich ist Sinophobie eine alte Krankheit. Auch bei ihr werden neue, durch wirtschaftliche Faktoren bedingte Erreger ausgemacht, aber diesen sind schwere geopolitische Ängste unterlegt – Einkreisung, Infiltration, territoriale Bedrohung. Der Himalaja ist mehr als eine physische Schranke, und an ihm stauen sich, auf beiden Seiten, ähnlich massive Vorurteile. Trotz einer nahezu zweitausend Kilometer langen gemeinsamen Grenze gibt es keine einzige offene Strassenverbindung. Und die regelmässigste Flugverbindung zwischen Delhi und Beijing wird von Ethiopian Airlines wahrgenommen, dies bei einem jährlichen Handelsverkehr von über dreissig Milliarden Dollar.

Friedliche Vergangenheit

Es war nicht immer so. Die ausführlichsten Berichte über das Indien vor der Zeitenwende stammen von chinesischen Besuchern, meist buddhistischen Mönchen, die an die Geburtsstätten ihrer Religion pilgerten. Dass sich der Buddhismus, keine Religion des Schwerts, bis nach China und darüber hinaus verbreitete, setzte den Austausch von Personen und Waren voraus. Doch die religiöse Einflussnahme geschah nicht auf dem Rücken politischen Expansionsdrangs, sondern lief indirekt ab, über die afghanischen und zentralasiatischen Ableger der Seidenstrasse. Nicht nur für Europa, auch für Indien war China lange ein geschlossenes Land. Aber Chinas Abschottung nach aussen, mit Indiens machtpolitischer Introvertiertheit als Pendant, bedeutete auch, dass es in der Geschichte der beiden Nachbarn praktisch nie zu militärischen Invasionen kam. – Umso grösser war die Betroffenheit in Indien, als im November 1962 chinesische Truppen die Grenze an zahlreichen Punkten überschritten und die schwachen indischen Verteidigungslinien überrannten. Die Volksarmee begnügte sich allerdings mit einer politischen Demonstration ihrer Militärkraft: Sie besetzte nur Gebiete, die sie als Teil ihres Territoriums betrachtete. Und genauso unvermittelt zog sie wieder ab und setzte sich lediglich im Gebiet östlich von Ladakh und im nördlichen Sikkim dauernd fest. Nach einem Monat war der böse Spuk für Indien zu Ende. Doch die Schmach blieb haften, und sie war umso bitterer, als die abziehenden Truppen jede erbeutete Waffe bis zur letzten Patrone auflisteten, verpackten und zurückliessen. Es war die erste militärische Niederlage des jungen Staats, von einem Land beigebracht, das in der Vorstellung von Staatsgründer Jawaharlal Nehru eine Brudernation war, mit der zusammen die weltpolitische Domination des Westens gebrochen werden sollte.

Für beinahe 25 Jahre wurden die Beziehungen eingemottet. Das demokratische Indien war im Griff von Misstrauen und der Überzeugung, dass Rotchina Untergrundbewegungen finanzierte, ganz zu schweigen von der Unterstützung des Erzfeinds Pakistan – darunter die heimliche Förderung der pakistanischen Atomwaffenentwicklung (direkt und über Nordkorea). In den Augen Delhis begannen sich chinesische Weltmachtambitionen auch im Indischen Ozean bemerkbar zu machen, mit der «Perlenkette» von Marinestützpunkten, die sich von Myanmar über Sri Lanka bis nach Pakistan um den Subkontinent legen. Dem Selbstbild des dahinstapfenden gutmütigen Elefanten stand die Projektion des feuerspeienden und allesfressenden Drachen gegenüber.

Ungleiches Kräfteverhältnis

Erst Rajiv Gandhi brach mit seinem Staatsbesuch von 1988 das Eis. Seine wichtigste Errungenschaft war die Einsetzung einer bilateralen Kommission, welche die unterschiedlichen Auffassungen über den Grenzverlauf in eine einvernehmliche Lösung überführen sollte. Zwar brachten die Gespräche bis heute keinen Durchbruch, doch das diplomatische Tauwetter öffnete zumindest die wirtschaftlichen Schranken. Binnen zehn Jahren wurde aus dem Austausch von ein paar Maultierladungen Schafwolle und Salz ein Handelsverkehr im Wert von dreissig Milliarden Dollar. Indiens international kompetitive Privatindustrie, namentlich die Softwareunternehmen, errichtete Niederlassungen in China, während Beijing seinen unerschöpflichen Rohstoffhunger auch in Indiens Bergbau stillte und diese Importe mit der Ausfuhr billiger industrieller Massenware mehr als wettmachte – bis zu Benares-Hochzeitssaris. Doch auch dieser «Courant normal» hat das dicht gewobene Gespinst gegenseitigen Misstrauens nicht auszulüften vermocht. In Delhis Augen wirft China immer wieder das Gewicht seines wachsenden Weltmachtstatus in die Waagschale, um Indien auszuhebeln. So muss es sich Schritt um Schritt vorkämpfen, wenn es um den Einsitz in einem der asiatischen Regionalforen geht, die in Indiens Augen immer eine ostasiatische, und damit zunehmend chinesisch dominierte Schlagseite aufweisen.

Meist zieht Indien den Kürzeren, denn mit seinen bürokratischen und innenpolitischen Fesseln kann es der chinesischen Zentralplanung nichts entgegensetzen. Die Trumpfkarte seines riesigen Verbrauchermarkts zieht kaum, da der handelstechnischen Abschottung der WTO-Mitglieder enge Schranken gesetzt sind. Und Chinas Dienstleistungsangebote sind so attraktiv, dass sich Indien ins eigene Fleisch schneidet, wenn es teureren in- und ausländischen Angeboten den Vorzug gibt. Erst kürzlich musste es chinesischen Bauarbeitern Einreisevisa erteilen, weil nur die chinesischen Blauhemden sicherstellen, dass die Kraftwerkanlagen, die Shanghai Electric oder Harbin Power für indische Elektrizitätswerke herstellen, im vorgeschriebenen Rekordtempo aufgestellt werden, Indiens riesiger Arbeitsmarkt und hohe Arbeitslosenquote hin oder her.

Delhi hat im Grund nur eine Waffe, um die zahlreichen Sticheleien von jenseits des Himalaja mit der gleichen Münze heimzuzahlen – die Unterstützung, die es dem Dalai Lama gewährt. Zwar lässt es sich nach aussen hin keine Verletzung diplomatischer Normen zuschulden kommen. Es hat die Souveränität Chinas über das tibetische Hochland immer akzeptiert. Und es anerkennt im Dalai Lama lediglich das Oberhaupt des tibetischen Buddhismus. Doch es hat nichts dagegen, dass in Dharamsala eine tibetische Exilregierung sitzt. Und warum, so fragen die Chinesen, wird der Dalai Lama regelmässig vom indischen Staatssekretär im Aussenamt empfangen?

Wenn Delhi dann noch eine Koppelung der Unterstützung für die «Dalai-Clique» mit der Territorialfrage zulässt, sieht Beijing rot. Ein Trommelfeuer aggressiver Leitartikel im Parteiblatt «Volkszeitung» geisselte im Oktober den Besuch des Würdenträgers im Kloster Tawang im ostindischen Gliedstaat Arunachal Pradesh. Sie gipfelten in der Aufforderung an Indien, sich an 1962 zu erinnern. Das taten die indischen Kommentatoren ohnehin. Einige beschworen bereits einen neuerlichen Waffengang herauf. Hatte nicht damals schon eine Pressekampagne den Krieg eingeläutet? Hat nicht Beijing mit seinem Strassenbau entlang der «Line of Actual Control» und mit der Eisenbahnlinie nach Lhasa die strategische Infrastruktur für einen neuen Himalajakrieg gelegt?

Aggressive Unsicherheit

Dahinter verbirgt sich gewiss auch die lähmende Furcht vor dem feuerspeienden chinesischen Drachen, umso mehr, als sich auch grössere Mächte vor ihm ducken. Aber sie genügt nicht als Erklärung. Schliesslich hat sich Indien inzwischen zum auch weltpolitisch beachteten Elefanten gemausert, mit einer schlagkräftigen, atomwaffengestützten Armee und einer Privatindustrie, die der chinesischen in vielem voraus ist. Indiens aggressive Unsicherheit ist auch ein Reflex seiner schwierigen völkerrechtlichen Position hinsichtlich der Grenzlinien, die auf kolonialen Machtverhältnissen basieren und die Beijing nie akzeptiert hat. Der Anspruch Chinas auf das Territorium um die (vormals tibetische) Tawang-Region bleibt daher intakt, umso mehr, als Indien vor sechzig Jahren Beijings volle Souveränität über Tibet anerkannt hatte. Der Besuch des Dalai Lama im Kloster Tawang war daher zweifellos ein hochpolitischer Akt, auf den China mit charakteristischem Fauchen reagierte. Provokation und Reaktion zeigen, dass der neulich am Klimagipfel von Kopenhagen demonstrierte Schulterschluss der beiden nicht mehr als eine Zweckallianz war, zu der sich der grosse Bruder aus Eigeninteresse herabliess.

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