Mittwoch, Januar 20, 2010

Gnadenlose Kriminelle unterwegs in «göttlicher Mission»

10. Oktober 2009, Neue Zürcher Zeitung
Gnadenlose Kriminelle unterwegs in «göttlicher Mission»
Die mexikanische Verbrecherorganisation «La Familia Michoacana» gibt sich fürsorglich und religiös inspiriert

Der mexikanische Gliedstaat Michoacán wird zu weiten Teilen von der «Familia Michoacana» beherrscht. Obwohl sich die kriminelle Organisation einen spirituell-fürsorglichen Anstrich gibt, überzieht sie ihre Heimat mit Angst und Schrecken.

Alex Gertschen, Morelia

Es ist kurz vor Mitternacht, im Café Europa herrscht Feierabendstimmung. Tische werden zusammengerückt, Stühle gestapelt, der Boden gewischt. Zwei jugendliche Mädchen spielen die letzte Runde Karten, und ein Liebespaar trotzt auf der Terrasse der Kälte der Nacht. Drinnen sitzen der Sektionschef der Partei der Arbeit, ein Sicherheitsagent der Regierung und ein lokaler Reporter mit einem ausländischen Journalisten um einen Tisch. Immer wieder übertönt ihr Gelächter die süssen Melodien von Coldplay, die aus den Lautsprechern trällern. Die Stimmung ist nur vordergründig leicht und unbeschwert. Denn das Café Europa steht in....


10. Oktober 2009, Neue Zürcher Zeitung
Gnadenlose Kriminelle unterwegs in «göttlicher Mission»
Die mexikanische Verbrecherorganisation «La Familia Michoacana» gibt sich fürsorglich und religiös inspiriert

Der mexikanische Gliedstaat Michoacán wird zu weiten Teilen von der «Familia Michoacana» beherrscht. Obwohl sich die kriminelle Organisation einen spirituell-fürsorglichen Anstrich gibt, überzieht sie ihre Heimat mit Angst und Schrecken.

Alex Gertschen, Morelia

Es ist kurz vor Mitternacht, im Café Europa herrscht Feierabendstimmung. Tische werden zusammengerückt, Stühle gestapelt, der Boden gewischt. Zwei jugendliche Mädchen spielen die letzte Runde Karten, und ein Liebespaar trotzt auf der Terrasse der Kälte der Nacht. Drinnen sitzen der Sektionschef der Partei der Arbeit, ein Sicherheitsagent der Regierung und ein lokaler Reporter mit einem ausländischen Journalisten um einen Tisch. Immer wieder übertönt ihr Gelächter die süssen Melodien von Coldplay, die aus den Lautsprechern trällern. Die Stimmung ist nur vordergründig leicht und unbeschwert. Denn das Café Europa steht in Morelia, der Hauptstadt des mexikanischen Gliedstaates Michoacán, und das Tischgespräch kreist um den «Drogenkrieg», der in diesem Teil des Landes besonders heftig tobt.

Gewaltexzesse statt Diskretion

Michoacán grenzt an den Pazifik. An die fast 200 Kilometer lange Küste schliesst ein ähnlich langer Landstreifen an, die Tierra Caliente («heisses Land»). Morelia liegt nordöstlich davon in der Tierra Fría, wo das Klima relativ kühl ist. Michoacán ist im «Drogenkrieg» von Bedeutung, weil die Küste kaum besiedelt und schwer überwachbar ist. Ein Teil des südamerikanischen Kokains und der synthetischen Drogen aus Asien wird im Hafen von Lázaro Cárdenas gelöscht, ein Teil nachts von Kleinflugzeugen in Küstennähe abgeworfen, worauf Schnellboote zu den Abwurfstellen eilen, um die Ware an Land zu bringen. Die abgelegene, von der Bergkette Sierra Madre durchzogene Tierra Caliente dient als Rückzugsort, wo die Drogen weiterverarbeitet werden, und als Transportkorridor, der zu den nördlichen Gliedstaaten und zum amerikanischen Absatzmarkt führt.

Das Drogenkartell, das diesen Umschlagplatz mehrheitlich kontrolliert, heisst «La Familia Michoacana». Laut dem Sicherheitsagenten Guillermo Pérez,* der für das Präsidialamt in Mexiko-Stadt arbeitet, werden 70 der 113 Gemeinden Michoacáns von der Familia beherrscht. Von den sieben grossen mexikanischen Kartellen streiten sich drei um den Gliedstaat. Besonders blutig ist dieser Konflikt, weil die Hauptwidersacher der Familia die «Zetas» sind. Deren erste Generation bestand aus ehemaligen Elitesoldaten der mexikanischen Armee, die in den neunziger Jahren von den USA just für die Bekämpfung der Drogenkartelle ausgebildet worden waren.

Seit gut zehn Jahren bieten die Zetas ihre Dienste als Auftragsmörder auf dem Markt an. Zu Beginn unterschieden sie sich von den Todeskommandos anderer krimineller Organisationen sowohl durch ihre unerreichte Professionalität als auch durch ihre zur Schau gestellte Blutrünstigkeit. «Drogenkartelle sind an Diskretion und deshalb eigentlich am Einvernehmen mit rivalisierenden Organisationen interessiert», sagt Martín Juárez,* Nachrichtenchef einer lokalen Agentur, der ebenfalls am Tisch im Café Europa sitzt. Öffentlich ausgetragene Gewalt ziehe bloss die Aufmerksamkeit der Behörden an. Die Zetas aber hätten mit einer zuvor nicht gekannten Brutalität bewusst ihre Gegner einschüchtern wollen.

Bis 2006 nannte sich die Familia «La Empresa» («Das Unternehmen»). Tatsächlich handelte es sich bis dahin um eine Gruppe von Geldwäschern, die mit dem Drogenhandel zusammenarbeitete. Obwohl sie für ihren Schutz die Zetas engagiert hatte, baute sie laut Pérez im Laufe der Zeit eine eigene Schutztruppe auf. Diese sorgte im September 2006 erstmals für Angst und Schrecken, als sie fünf abgehackte Köpfe auf die Tanzfläche einer Diskothek in Uruapan schleuderte, der zweitgrössten Stadt Michoacáns. Neben den Köpfen hinterliessen sie ein Transparent, auf dem sich die Familia zu erkennen gab. Es sterbe nur, wer sterben müsse; das sei göttliche Gerechtigkeit, schwadronierten die dichtenden Mörder.

Im November desselben Jahres erschienen in zwei Tageszeitungen Morelias ganzseitige Inserate, in denen die Familia als ihre Mission ausgab, fremde Verbrecherbanden aus Michoacán zu vertreiben sowie die Unsicherheit und den Drogenkonsum der Jugend zu bekämpfen. Personen, die einer «anständigen Arbeit» nachgingen, müssten sich nicht sorgen. Zur gleichen Zeit erschien das Buch «Gedanken» von «El más loco», dem «Verrücktesten». Der Autor, der sich als einer der zwei Capos der Familia erweisen sollte, predigte seinen Anhängern, sie sollten sich übertreffen, demütig, ehrenhaft und gottesfürchtig leben.

Ein Entrinnen gibt es nicht

In der Gesprächsrunde im Café Europa herrscht Einigkeit, dass diese «Bibel» der Gehirnwäsche der eigenen Mitglieder und der Legitimierung der Familia in der Bevölkerung dient. Der Journalist Juárez erzählt von einem Kongress in Morelia, an den er von einem entfernten Bekannten, einem einstigen Kleinkriminellen und heutigen Familia-Mitglied, eingeladen worden war. Einer Indoktrination gleich, seien an der – öffentlichen – Tagung die «Gedanken» verbreitet worden. Sicherheitsagent Pérez sagt, oft benutze die Familia auch Drogenentzugsanstalten, um die Menschen aus einer Abhängigkeit in die nächste zu führen.

Laut Pérez folgt auf die Phase des Entzugs jene der Meditation und schliesslich jene der bewaffneten Ausbildung. Aus der Mitgliedschaft bei der Familia gebe es kein Entrinnen. Wer einmal gegen den Verhaltenskodex verstosse, werde gerügt und zu Fronarbeit gezwungen. Beim zweiten Mal gebe es zwölf Stockschläge. Beim dritten Mal müssten jene Mitglieder, die den Missetäter in die Familia geholt hätten, also zum Beispiel der Vater oder der Bruder, diesen in einem Ritual erschiessen.

Die geistige und körperliche Gefangenschaft der Mitglieder in der Organisation reisst bei diesen offenbar jede Hemmung vor Gewalt nieder. Dies zeigt sich erst recht, seit die Familia 2008 mit den Zetas brach, um Michoacán alleine zu kontrollieren, und seit die Regierung im Frühjahr die Militärpräsenz massiv verstärkte. Als am 10. Juli ein ranghohes Mitglied der Familia von der Bundespolizei verhaftet wurde, brandete eine Welle der Rache durch Michoacán. Polizei- und Militärkasernen wurden angegriffen und 16 Polizisten und 2 Soldaten getötet. Seit Jahresbeginn sind im Gliedstaat fast 300 Personen ermordet worden.
Die mexikanische Regierung sendete zusätzliche 5'500 Sicherheitskräfte in den Gliedstaat Michoacana um die Gewalt einzudämmen.

Der vor kurzem abgelöste Justizminister Eduardo Medina Mora sagte im Mai, die Familia sei auch deshalb das gefährlichste Kartell, weil es wie kein zweites die Behörden korrumpiere und die Bevölkerung einschüchtere. Edgardo Buscaglia, Direktor des International Law and Economic Development Center an der University of Virginia, gibt aber zu bedenken, dass die Organisation vorab in den ländlichen Gebieten Michoacáns tief verwurzelt sei. Die Familia finanziere den Bau von Kirchen, Schulen oder Bewässerungsanlagen. «Sie füllt die Lücke, die durch die Abwesenheit des Staates entstanden ist», sagt er am Telefon.

Anstelle des Staates

Guillermo Pérez pflichtet Buscaglia bei und sagt, die Familia habe auch bei der Schuldeneintreibung die Rolle des Staates übernommen. «Ein Gläubiger kann die Familia anheuern, um Schuldner zur Zahlung zu zwingen. Was auf dem Rechtsweg Jahre dauert, nimmt so wenige Tage in Anspruch», sagt er. Mindestens früher habe die Familia oft tatsächlich zugunsten von jenem eingegriffen, der im Recht gewesen sei. Genau hier liegt der Hund begraben: Mit der Zunahme ihrer Macht, einem Abbild der in den letzten Jahren exorbitant gewachsenen Gewinne aus dem Drogenhandel, scheint die Familia ihre soziale Rückbindung aufgelöst zu haben. Immer häufiger legt sie «Recht» willkürlich aus, begeht sie im Zweifel ganz bewusst Unrecht.

Roberto Martínez,* der hünenhafte Sektionschef der Partei der Arbeit, der ebenfalls am Tisch im Café Europa sitzt, ist Opfer solchen Unrechts geworden. Im Juli 2008 wurde er von Bewaffneten aus seinem Büro in Morelia entführt und 18 Stunden später gegen ein Lösegeld freigelassen. Er ist sich sicher, dass die Täter der Familia angehörten. «Nachdem ich meine Todesangst überwunden hatte, suchte ich mit den Entführern das Gespräch», sagt er. Sie hätten erzählt, sie sorgten für Gerechtigkeit. Vergewaltiger etwa würden sofort erschossen. Auch müssten sie die Schule abschliessen und dürften keine Drogen konsumieren. «Als ich ihnen sagte, dass meine Entführung doch eine Ungerechtigkeit sei, akzeptierten sie dies», erzählt Martínez.

Obwohl der Drogenkonsum in Michoacán laut Pérez zugenommen hat, ist es nicht primär der Drogenhandel, der die soziale Unterstützung der Familia untergräbt. Vielmehr seien es Entführungen und Schutzgelderpressungen, die in der Bevölkerung Morelias und der ganzen Tierra Fría wachsenden Widerwillen hervorrufen. Selbst im Herzland der Familia, der mehrere Autostunden von Morelia entfernten Tierra Caliente, grämen sich gewisse Menschen im Stillen.

Apatzingán ist das Zentrum der Tierra Caliente und Heimat von «El Chango» und «El más loco», den beiden Anführern der Familia. Obwohl hier 70 000 Seelen wohnen, gleicht die Stadt einem verschlafenen Nest. Am Ortseingang steht eine Statue von Lázaro Cárdenas, einem ehemaligen Präsidenten Mexikos, dem Namenspatron der Hafenstadt Michoacáns. Cárdenas habe aus der Gegend gestammt und heute sei er der Einzige in ganz Apatzingán, der nichts mit Drogen zu tun habe, witzelt Martín Juárez. Zwei Tage nach dem Gespräch im Café Europa hat der Lokaljournalist seinen ausländischen Kollegen hergefahren, weil er sich hier auskennt und weil jeder Fremde Misstrauen errege. «Michoacán ist voll von Agenten der DEA», sagt er. Die DEA ist die Antidrogenbehörde der USA.

Susan Reyes* ist eine Einwohnerin von Apatzingán, die nicht in den Drogenhandel verwickelt ist. Sie betreibt einen Kleiderladen. Reyes sagt, der «Drogenkrieg» habe die Wirtschaft zum Erliegen gebracht. 2007 hätten 23 Angestellte pro Tag Waren im Wert von 80 000 bis 100 000 Pesos verkauft. Heute betrage der Tagesumsatz 1000 Pesos und werde noch eine einzige Person beschäftigt. Sie selber müsse noch kein Schutzgeld bezahlen, aber als ehemalige Präsidentin der Handelskammer habe sie viele Klagen erhalten. Wehren könne man sich nicht. Wenn sich ein Gemeindepolizist der Familia widersetze, werde er erschossen. «Aber wenn ich das öffentlich sage, setzen sie morgen meinen Kopf auf die Statue von Cárdenas», sagt die Frau mit schwarzem Humor.

Den Bogen überspannt?

Die Angst ist allgegenwärtig – und treibt auch andere in den Sarkasmus. Guillermo Pérez sagt, er sei vorbereitet für den Fall, dass sein Beruf, der ihm Berufung sei, den Tod bringen werde. Roberto Martínez, der aus Angst und «weil es sowieso nichts gebracht hätte», seine Entführung bei den Behörden nicht gemeldet hat, fürchtet, das gleiche Schicksal ereilte ihn nochmals. Einzig Martín Juárez, der vierschrötige Journalist, scheint sich von der Angst nicht anstecken zu lassen, obwohl er sicher ist, «dass ich morgen tot wäre, wenn ich alles publizieren würde, was ich weiss».

Am 26. Mai wurden zwei Dutzend Gemeindepräsidenten und der Staatsanwalt von Michoacán wegen Verbindungen zur Familia festgenommen. Am 5. Juli wurde der Halbbruder des Gouverneurs zum Abgeordneten in Mexiko-Stadt gewählt, obwohl er wegen seiner vermuteten Mitgliedschaft in der Familia gesucht wird. Es ist die Unfassbarkeit solcher Ereignisse, die Gelächter hervorruft; unfassbar sind sie deshalb, weil selbst in Michoacán die Vorstellung der Normalität eine andere ist. Susan Reyes glaubt, die Familia habe den Bogen überspannt. Die Bevölkerung beginne langsam anzuzweifeln, was die Organisation als normal oder gar gerecht verkaufe. Genau davor fürchte sich wiederum die so gefürchtete Familia.


* Name aus Sicherheitsgründen geändert.

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