Mittwoch, Januar 06, 2010

Indiens Maoisten profitieren vom Versagen der Politiker

31. Dezember 2009, Neue Zürcher Zeitung

Indiens Maoisten profitieren vom Versagen der Politiker
Der Gliedstaat Jharkhand betreibt Bergbau im grossen Stil, doch der lokalen Bevölkerung hat dies nur Elend und Vertreibung gebracht

Andrea Spalinger, Ranchi

In den letzten Monaten haben maoistische Rebellen in Indien immer wieder mit spektakulären Angriffen auf sich aufmerksam gemacht. In verschiedenen Gliedstaaten griffen die sogenannten Naxaliten Polizeipatrouillen an, sprengten Schulen und andere öffentliche Gebäude in die Luft und entführten Polizisten und Geschäftsleute. In den letzten sechs Monaten allein verübten sie landesweit über 1400 Gewalttaten, die rund 600 Personen das Leben kosteten.


Zunehmende Stärke

Die Naxaliten haben ihren Ursprung in einem Aufstand von Stämmen gegen Landenteignungen 1967 in Naxalbari in Westbengalen. Die Bewegung erreichte 1972 einen ersten Höhepunkt, als sie weite Gebiete von Bihar und Westbengalen wie auch Teile von Uttar Pradesh und Andhra Pradesh unter ihre Kontrolle brachte. Danach verlor sie vorübergehend an Einfluss, bis sich Ende der achtziger Jahre eine Reihe neuer maoistischer Grüppchen bildete, in denen die verbliebenen Naxaliten aufgingen. Starken Auftrieb erhielt die Bewegung 2004 durch den Zusammenschluss dieser Splittergruppen zur Communist Party of India (Maoist).

Seither haben sich die Maoisten in Indien enorm ausgebreitet. Sie sind heute in 20 von 28 Gliedstaaten präsent und verfügen....


31. Dezember 2009, Neue Zürcher Zeitung

Indiens Maoisten profitieren vom Versagen der Politiker
Der Gliedstaat Jharkhand betreibt Bergbau im grossen Stil, doch der lokalen Bevölkerung hat dies nur Elend und Vertreibung gebracht

Andrea Spalinger, Ranchi

In den letzten Monaten haben maoistische Rebellen in Indien immer wieder mit spektakulären Angriffen auf sich aufmerksam gemacht. In verschiedenen Gliedstaaten griffen die sogenannten Naxaliten Polizeipatrouillen an, sprengten Schulen und andere öffentliche Gebäude in die Luft und entführten Polizisten und Geschäftsleute. In den letzten sechs Monaten allein verübten sie landesweit über 1400 Gewalttaten, die rund 600 Personen das Leben kosteten.

Zunehmende Stärke

Die Naxaliten haben ihren Ursprung in einem Aufstand von Stämmen gegen Landenteignungen 1967 in Naxalbari in Westbengalen. Die Bewegung erreichte 1972 einen ersten Höhepunkt, als sie weite Gebiete von Bihar und Westbengalen wie auch Teile von Uttar Pradesh und Andhra Pradesh unter ihre Kontrolle brachte. Danach verlor sie vorübergehend an Einfluss, bis sich Ende der achtziger Jahre eine Reihe neuer maoistischer Grüppchen bildete, in denen die verbliebenen Naxaliten aufgingen. Starken Auftrieb erhielt die Bewegung 2004 durch den Zusammenschluss dieser Splittergruppen zur Communist Party of India (Maoist).

Seither haben sich die Maoisten in Indien enorm ausgebreitet. Sie sind heute in 20 von 28 Gliedstaaten präsent und verfügen je nach Schätzungen über 10 000 bis 20 000 Kämpfer und ein Heer von – freiwilligen oder unfreiwilligen – Helfern in den von ihnen kontrollierten Dörfern. Am stärksten ist ihr Einfluss im «Roten Korridor», einem von Ureinwohnern bewohnten, ressourcenreichen Dschungelgebiet, das sich von der nepalesischen Grenze bis hinunter nach Andhra Pradesh zieht. In ihren Hochburgen Bihar, Westbengalen, Chhattisgarh, Jharkhand und Andhra Pradesh haben sie in einigen Gebieten eine Art Parallelstaat aufgebaut, in anderen sorgen sie mit sporadischen Überfällen und Anschlägen für Angst und Schrecken.

Keine einheitliche Strategie


Premierminister Manmohan Singh bezeichnet die kommunistischen Rebellen heute als die grösste Gefahr für die innere Sicherheit des Landes. In der Tat kommen jährlich viel mehr Bürger bei Angriffen der Maoisten ums Leben als durch die Gewalt islamistischer Extremisten. Laut dem Institute for Conflict Management in Delhi wurden seit 2005 2000 Personen bei Angriffen der Naxaliten getötet. Dennoch vernachlässigte die Zentralregierung die Gefahr bisher sträflich und überliess es den Gliedstaaten, eine Strategie im Kampf gegen die Naxaliten zu entwickeln.

Diese Politik war wenig erfolgreich. Eine Grossoffensive in Andhra Pradesh führte dazu, dass sich die Rebellen in Nachbarstaaten absetzten und das Problem nur verlagert wurde. In Chhattisgarh schickte der Staat eine Bürgermiliz in den Dschungel, die kaum einen Unterschied zwischen Rebellen und der lokalen Stammesbevölkerung machte. Hunderte von Zivilisten kamen ums Leben, Zehntausende wurden vertrieben. Dies verschaffte den Maoisten im Gliedstaat nur mehr Zulauf.

Seit ihrer Wiederwahl im Frühjahr nimmt die Kongressregierung das Thema nun jedoch sehr viel ernster. Der neue Innenminister Chidambaram hat es ganz oben auf seine Traktandenliste gesetzt und für Anfang 2010 eine Grossoffensive gegen die Rebellen angekündigt. Über 75 000 Paramilitärs und Polizisten sollen die von den Maoisten kontrollierten Gebiete zurückerobern.

In Jharkhand, einem der am schwersten betroffenen Gliedstaaten, ist man allerdings skeptisch, dass das Naxaliten-Problem militärisch gelöst werden kann. Die Regierungen in Delhi hätten die von Adivasi (Ureinwohnern) besiedelten Gebiete im Herzen des Subkontinents jahrzehntelang vernachlässigt, sagt Jaideep Deogharia, ein Journalist in Ranchi. Im Dschungel Jharkhands sei der Staat bis heute fast gar nicht präsent. Es gebe dort weder Schulen noch Spitäler noch Gerichte. Dieses Machtvakuum habe den Vormarsch der Maoisten begünstigt und nicht der Hang zu kommunistischer Ideologie, sagt er.

Jharkhand ist in der Tat ein anschauliches Beispiel dafür, dass der wachsende Einfluss der Maoisten in Indien nicht allein ein Sicherheitsproblem darstellt, sondern politische und soziale Wurzeln hat. Der Gliedstaat (der erst seit dem Jahr 2000 existiert und vorher ein Teil Bihars war) ist reich an Bodenschätzen wie Kohle, Eisenerz, Kupfer, Bauxit und Uran. Doch deren Ausbeutung hat den Bewohnern der Region in den sechzig Jahren seit der Unabhängigkeit Indiens ausser Vertreibung und Elend kaum etwas gebracht. Das Geld aus den millionenschweren Bergbau-Kontrakten floss in die Taschen korrupter Politiker und Beamter.

Bitterarm trotz Bergbau

Eine Fahrt durch Hazaribag, einen Distrikt im Norden Jharkhands, führt das Dilemma vor Augen. Der Abbau der Rohstoffvorkommen hat in der einst idyllischen Dschungelregion deutliche Spuren hinterlassen. Eine Kohlegrube reiht sich an die nächste. Einige sind noch in Betrieb. Viele sind bereits ausgebeutet und wieder verlassen. Um sie herum ist das Land unbewohnbar geworden. Kilometerweit reihen sich riesige schwarze Krater und Erdaufschüttungen aneinander.

Laut Faisal Anurag, der seit Jahrzehnten für die Rechte der Adivasi in Jharkhand kämpft, sind in der Region seit der Erlangung der Unabhängigkeit 1947 über 2,5 Millionen Menschen wegen Minenprojekten vertrieben worden. 80 Prozent von ihnen seien Adivasi gewesen, nur 2 Prozent hätten anderswo Land zugesprochen bekommen. Der Rest sei in grossstädtischen Slums gelandet.

Die Regierung in Ranchi hat in den letzten Jahren über hundert Vereinbarungen mit indischen und ausländischen Konzernen über neue Bergbauprojekte getroffen. Doch der Widerstand der Bevölkerung wächst, und erst wenige Gruben konnten mit der Arbeit beginnen. Der Grossteil des Protests sei friedlich, sagt Dayamani Barla, die eine Volksbewegung gegen ein Eisenerzprojekt des Unternehmens ArcelorMittal anführt. Dennoch werde jeder, der sich wehre, als Maoist abgestempelt. Viele Aktivisten seien verhaftet worden, obwohl sie nichts mit den Rebellen am Hut hätten, schimpft Barla.

«Jharkhand ist ein kleiner Staat. Wenn hier über hundert neue Gruben entstehen, bleibt kein Land für die Adivasi übrig», so ereifert sich die quirlige Frau. «Die Stämme leben im Einklang mit der Natur und ernähren sich fast ausschliesslich von Produkten aus dem Dschungel. Wenn man sie von dort vertreibt, verlieren sie ihre Lebensgrundlage und ihre Identität.» Die Adivasi wollten ihr Land deshalb nicht aufgeben, nicht einmal, wenn sie dafür entschädigt würden, sagt Barla. Im Moment bekämen sie jedoch gar nichts. Die Regierung spreche zwar bei jedem Projekt von Kompensation und Rehabilitation, doch dies seien nur leere Worte.

Himmelschreiende Korruption

Eine Reihe von Wirtschaftsexperten hingegen ist der Ansicht, dass die Ausbeutung der Bodenschätze eine Chance darstellt. Wenn das Potenzial genutzt würde, um die Region zu entwickeln, wäre nichts dagegen einzuwenden, meint ein Berater eines multinationalen Bergbauunternehmens, der nicht namentlich genannt werden möchte. Es sei jedoch höchst problematisch, dass der Allgemeinheit von dem vielen Geld, das Firmen in Form von Lizenzen und Steuern bezahlten, kaum etwas zugutekomme.

In den fünf Jahren seit seiner Unabhängigkeit hat sich Jharkhand bereits den Ruf des korruptesten Staates in ganz Indien geschaffen. Wie nirgendwo sonst im Land haben sich die Politiker hier selbst bereichert. Madhu Koda etwa, der zwischen 2006 und 2008 Chefminister war, soll in seiner kurzen Amtszeit nicht weniger als 40 Milliarden Rupien (etwa 900 Millionen Franken) in die Taschen gesteckt haben. Gegen Koda läuft derzeit ein Verfahren, doch viele andere bereichern sich ungehindert weiter.

«Die himmelschreiende Korruption und der rücksichtslose Umgang der Behörden mit den Adivasi haben den Maoisten Zulauf verschafft», sagt Sashi Bushan Pathak, ein Dorflehrer und Sympathisant der Naxaliten in Hazaribag. Die Maoisten versprächen den Stämmen Autonomie und den Schutz ihrer politischen und kulturellen Rechte. Damit hätten sie viele Adivasi für sich gewinnen können.

Politische Lösung nötig

Der Polizeichef von Hazaribag, M. S. Bhatia, stimmt dieser Einschätzung zu. Der aus dem Punjab stammende Sikh ist seit zehn Jahren in Jharkhand stationiert und betrachtet die Naxaliten im Gegensatz zu vielen Militärs und Polizeioffizieren in Delhi nicht nur als ein Problem von Recht und Ordnung. Die Regierung müsse eine politische Lösung suchen, fordert er. Mit militärischen Mitteln allein könnten die Maoisten nicht besiegt werden.

Die Maoisten hätten grossen Einfluss in Hazaribag, gesteht der Polizeichef ein. Sie würden im Distrikt «Steuern» erheben, Volksgerichte abhalten und Leute zwangsrekrutieren. Die Bevölkerung müsse sich mit den Rebellen arrangieren. Kaum jemand kooperiere mit den Sicherheitskräften aus Angst vor Repressionsmassnahmen. Doch nicht nur in abgelegenen Distrikten im Dschungel haben die Maoisten heute das Sagen. Auch in vielen Vierteln der Hauptstadt Ranchi zahlen Ladenbesitzer Abgaben an die Rebellen, und selbst Regierungsbeamte müssen einen Teil ihres Diwali-Geldes (eine Art 13. Monatslohn, den Staatsangestellte zum hinduistischen Feiertag Diwali bekommen) abgeben.

«Alle in Jharkhand tätigen Firmen entrichten Abgaben, in der Regel etwa 10 Prozent des Umsatzes», berichtet der Bergbauunternehmer Deepak Kumar. «Dafür beschützen die Maoisten unsere Gruben und unsere Arbeiter.» Das Wirtschaftsklima in Jharkhand sei eine Katastrophe. Die Regierung vergebe Lizenzen für den Abbau von Rohstoffen, sorge in den Bergbaugebieten aber nicht für Recht und Ordnung. Als Unternehmer müsse man sich irgendwie in das System einfügen, so rechtfertigt Kumar die Tatsache, dass auch er den Rebellen jeden Monat eine Tüte voller Geldscheine übergibt.

Volle Kriegskassen

Der Mittvierziger, dessen Familie seit Generationen im Bergbau tätig ist, weiss, dass mit den Maoisten nicht zu spassen ist. Vor fünf Jahren wurde er entführt, weil eine Zahlung nicht ordnungsgemäss über die Bühne gegangen war. Er habe damals Geld an eine andere kriminelle Gruppe bezahlt, die sich als Maoisten ausgegeben habe, erklärt er. Die Polizei kam den Entführern auf die Spur und umzingelte das Haus, in dem Kumar festgehalten wurde. Während einer mehrstündigen Schiesserei konnte der Unternehmer fliehen, was allerdings nicht bedeutete, dass er damit dem Einflussbereich der Maoisten entkommen wäre. «Natürlich sind sie wiedergekommen, und ich habe für den Vorfall bezahlt. Seither weiss ich genau, wem ich das Geld zu übergeben habe», fügt er hinzu.

Die Führungsriege der Maoisten sei in den letzten Jahren sehr reich geworden, meint der Journalist Jaideep. Viele Kader hätten angefangen, in Ranchi Immobilien zu kaufen und ihre Kinder zur Ausbildung ins Ausland zu schicken. Laut dem Polizeichef Bhatia treiben die Maoisten allein in Jharkhand jährlich etwa eine Milliarde Rupien (umgerechnet 24 Millionen Franken) ein. Damit könnten sie Waffen kaufen und massenweise Kämpfer aus armen Bevölkerungsschichten anheuern.

Innenminister Chidambaram habe das Problem erkannt und wolle es mit einer Offensive lösen, sagt Bhatia. Eine solche birgt seiner Ansicht nach aber einige Gefahren. «Die Infrastruktur hier ist schlecht, unser Informantennetz ebenfalls. Im Dschungelkrieg sind uns die Naxaliten weit überlegen.» Ausserdem sei es schwierig, zwischen Zivilisten und maoistischen Kämpfern zu unterscheiden, und die Gefahr, dass bei einer Offensive viele Unschuldige ums Leben kämen, sei gross. Die Regierung müsse die Region entwickeln, fordert Bhatia. Wenn die Menschen hier Jobs hätten und Schulen für ihre Kinder, würden die Naxaliten schnell an Anziehungskraft verlieren.

Auch Pathak ist überzeugt, dass eine Offensive kontraproduktiv sei, weil sie nur mehr Unterdrückung bringe. Bereits heute kämen in Jharkhand viele unschuldige Dörfler bei Polizeiaktionen ums Leben, kritisiert er. Zudem seien unter fadenscheinigen Begründungen etwa 4000 Zivilisten verhaftet worden.

Fragwürdiges Doppelspiel

Hinter vorgehaltener Hand äussern viele Gesprächspartner in Jharkhand den Verdacht, dass die Regierung in Ranchi gar kein Interesse an einer Lösung des Naxaliten-Problems habe, weil dieses einen willkommenen Vorwand für die Vertreibung der Adivasi aus dem rohstoffreichen Dschungelgebiet liefere. Während man vorgebe, den Kampf gegen die Maoisten zu führen, kümmere man sich hinter den Kulissen darum, die Taschen mit Geld aus Bergbau-Kontrakten zu füllen. Nicht nur Aktivisten, sondern auch Vertreter der Bergbauindustrie sind überzeugt, dass viele Lokalpolitiker mit den Maoisten unter einer Decke stecken. Laut Journalisten in Ranchi kaufen sich die Politiker im Wahlkampf nicht selten sogar die Unterstützung der Naxaliten.

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