Donnerstag, Januar 07, 2010

Die Tatsachen der Lüge

1. Dezember 2009, Neue Zürcher Zeitung
Die Tatsachen der Lüge

Über die Wiederkehr des Hochstaplers in Zeiten der wirtschaftlichen Krise

Wenn Gesellschaften ihre Bodenhaftung verlieren, schlägt die Stunde des Hochstaplers. Die zwanziger Jahre waren ein Zeitalter, in dem das Aufschneidertum grassierte (und seine literarische Spiegelung fand). Heute, nach dem Platzen der New-Economy- und Subprime-Blase, wissen wir, dass wir nicht klüger sind.

Von Evelyne Polt-Heinzl

«Hochstapler gab es immer, Menschen, die unter der Vorspiegelung, mehr zu sein, anderes zu sein, als sie tatsächlich waren, vom Schein lebten.» Mit diesem Satz eröffnet Albert Ehrenstein 1925 sein Vorwort zu Thomas Schrameks authentischer Hochstaplergeschichte «Freiherr von Egloffstein». Sie erschien in der Reihe «Aussenseiter der Gesellschaft – Die Verbrechen der Gegenwart», die Rudolf Leonhard am Ende der turbulenten Inflationsjahre im Verlag «Die Schmiede» startete.

Wenn Gesellschaften radikale Erschütterungen erleben und damit tradierte Sicherheiten wegbrechen, schlägt die Stunde des Hochstaplers. Er profitiert vom Wegfall einigermassen nachprüfbarer Kriterien zur Einschätzung sozialen und ökonomischen Handelns. Das ist nach Kriegen nicht anders als in Phasen entfesselter Wirtschaftsprozesse. Es ist also kein Zufall, dass....


1. Dezember 2009, Neue Zürcher Zeitung
Die Tatsachen der Lüge

Über die Wiederkehr des Hochstaplers in Zeiten der wirtschaftlichen Krise

Wenn Gesellschaften ihre Bodenhaftung verlieren, schlägt die Stunde des Hochstaplers. Die zwanziger Jahre waren ein Zeitalter, in dem das Aufschneidertum grassierte (und seine literarische Spiegelung fand). Heute, nach dem Platzen der New-Economy- und Subprime-Blase, wissen wir, dass wir nicht klüger sind.

Von Evelyne Polt-Heinzl

«Hochstapler gab es immer, Menschen, die unter der Vorspiegelung, mehr zu sein, anderes zu sein, als sie tatsächlich waren, vom Schein lebten.» Mit diesem Satz eröffnet Albert Ehrenstein 1925 sein Vorwort zu Thomas Schrameks authentischer Hochstaplergeschichte «Freiherr von Egloffstein». Sie erschien in der Reihe «Aussenseiter der Gesellschaft – Die Verbrechen der Gegenwart», die Rudolf Leonhard am Ende der turbulenten Inflationsjahre im Verlag «Die Schmiede» startete.

Wenn Gesellschaften radikale Erschütterungen erleben und damit tradierte Sicherheiten wegbrechen, schlägt die Stunde des Hochstaplers. Er profitiert vom Wegfall einigermassen nachprüfbarer Kriterien zur Einschätzung sozialen und ökonomischen Handelns. Das ist nach Kriegen nicht anders als in Phasen entfesselter Wirtschaftsprozesse. Es ist also kein Zufall, dass diese Figur sich just in unseren Tagen auf dem Theater wie in den Medien wieder zu regen beginnt. «Schöner lügen – Hochstapler bekennen», nannte sich eine Textcollage, die Ende 2008 am Wiener Burgtheater gezeigt wurde und vor allem auf Walter Serners «Handbrevier für Hochstapler» zurückgriff, das 2007 neu aufgelegt wurde.

Jung, smart, dynamisch

In der Realität war der Hochstapler schon 2000 im Umfeld der New-Economy-Blase wieder aufgetaucht. Das offensiv vermarktete Erfolgsetikett ihrer Akteure, das im Übrigen erstmals die Inflationsgewinnler der zwanziger Jahre für sich reklamierten, lautete «jung, smart, dynamisch». Einige wenige dieser «schillernden» Figuren, wie sie im Wirtschaftsteil gerne tituliert werden, landeten nach dem Platzen der Blase vor Gericht, der Rest fügte sich ins zunehmend deregulierte Börsenspiel unauffällig ein. Die Literatur hat diese Zusammenhänge klarer erkannt, als die Wirtschaftsforscher sie wahrhaben wollten. Der Ex-Broker in Paul Divjaks Roman «Kinsky» (2007) oder der Börsenguru Max in Marlene Streeruwitz' Roman «Kreuzungen» (2008) sind beide, wie viele der heutigen Profiteure im Dschungel der Derivatgeschäfte, Quereinsteiger von unten. Sie begannen ihre Karrieren als Hochstapler mit zweifelhaften Luftgeschäften im grossen Stil, und es erging ihnen wie in der Realität: Einige können sich wie Max durchsetzen und darauf vertrauen, dass späterhin keiner mehr nach der Herkunft der ersten Million fragt; andere bewältigen den Aufstieg nicht und stürzen rasch wieder ab wie Kinsky.

Das bevorzugte Aktionsfeld des Hochstaplers sind immer Boombranchen, wo das Geschäftsgebaren tendenziell ausser Kontrolle gerät. Das generiert einen Handlungsraum, in dem ohne Fundament agiert werden kann. Wer die Erwartungshaltungen und (Bild-)Vorstellungen dieses Feldes besonders kühn und selbstgewiss bedient, hat gute Chancen auf Erfolg, unabhängig von seinem realen Standing. «Ein phantastischer Lügner ist jener Lügner, dessen Lügen zu den Tatsachen stimmen», sagt Vinzenz in Robert Musils Komödie «Vinzenz oder die Freundin bedeutender Männer» (1924), der mit dem Gestus der Hochstapelei experimentiert. «In dieser wahrhaftig sträflichen Unordnung», so Vinzenz, «lasse einfach auch ich manchmal ein kleines Kügelchen rollen; und das Merkwürdigste ist: in welcher . . . Richtung Du auch eine solche kleine Handlung abgehen lässt, sie kommt immer gut durch die Wirklichkeit durch, als wäre sie dort geradezu erwartet worden.»

Auch der Kulturbetrieb ist ein mögliches Operationsgebiet, das hat Daniel Kehlmann bereits 2003 in seinem Roman «Ich und Kaminski» vorgeführt: Sein Kunstkritiker ist ein «veritabler Hochstapler ohne Bildung und ohne einschlägige Kenntnisse», so formulierte ein Kritiker, allerdings erst im Jahr 2009. Kehlmanns Roman könnte man als Satire abtun, doch es gibt auch gerichtsanhängige Fallgeschichten. Im Frühjahr 2005 tauchte in Österreich ein Mann namens Peter Kafka auf, der sich als deutscher Countertenor ausgab und in Wien als Intendant auftrat: Er plante im Garten des traditionsreichen Wiener Palais Schwarzenberg ein Arien-Potpourri als gigantische Sommeroper aufzuziehen, engagierte den Regisseur Wolfgang Ritzberger, ein Orchester, ein ganzes Schock von Sängern, setzte die Proben in gediegenen Konzertsälen an, bestellte aufwendige Kostüme und ein üppiges Catering. Der Vorverkauf lief an, doch die Premiere kam nicht zustande. Der Intendant entpuppte sich gewissermassen als idealtypischer Quereinsteiger, dessen Qualifikation in einer abgebrochenen Bäckerlehre und einem selbstbewussten Auftreten bestand. Das erfuhr man allerdings erst nach seiner Flucht. Zurück blieben ein düpiertes Ensemble und ein Schaden von 420 000 Euro. Interessanterweise fiel im Jahr 2005 nie der Begriff Hochstapler, wiewohl Peter Kafka idealtypisch diesem Typus entsprach. Man berichtete damals generell nicht allzu ausführlich über den Fall, wohl auch, weil er die Frage nach Praktiken des Kulturbetriebs und seiner Neigung zu «Eventisierung» und Geschäftemacherei mit in den Raum stellte.

Analogien zur Zwischenkriegszeit

Dass der Begriff heute wieder rascher zur Hand ist, hat mit dem Ausbruch der Wirtschaftskrise zu tun, die Analogien zur Zwischenkriegszeit wachrief, und das war eben eine Blütezeit des Hochstaplers. Um das zu recherchieren, kann man die damaligen Zeitungen durchblättern oder die Epochenromane lesen. Eine klassische Fallgeschichte liefert etwa Hermann Broch im dritten Teil seiner «Schlafwandler»-Trilogie mit der Figur des Deserteurs und Luftgeschäftemachers Huguenau. Die dichtesten Epochenporträts stammen mitunter allerdings nicht von den kanonisierten Autoren, was durchaus auch im Sinne einer Kanon-Revision nützliche Folgen haben könnte.

Literarisch ist der Hochstapler jedenfalls organischer Bestandteil im Bild der «Goldenen Zwanziger Jahre». Seine Orte sind die Verkehrsflächen des Luxuskonsums, die immer proportional zur Möglichkeit des «schnellen grossen Geldes» an Bedeutung gewinnen, denn die Befriedigung der Aufgestiegenen liegt im Zurschaustellen ihres neuen Reichtums. Was in unserer Zeit das hochpreisige In-Lokal ist, war damals die Hotelbar. Die Welt der Mondänen im Getriebe der Nobelhotels, hier ist der Hochstapler zu Hause; alle Akteure dieses Biotops haben Geld oder auch nicht, jedenfalls wahren sie den Schein. Wie sie dazu gekommen sind, ja sogar, ob es im Moment des Zusammentreffens überhaupt noch vorhanden ist, kursiert allenfalls als Gerücht. In Maria Peteanis oft verfilmtem Roman «Der Page vom Dalmasse Hotel» (1933) wispern sich die beiden Hochstaplerinnen, die sich als reiche Amerikanerinnen ausgeben und einen soliden preussischen Gutsherrn angeln wollen, einmal ängstlich zu: «Hoffentlich ist er kein Hochstapler.»

«Auf Herkunft kann er sich nicht berufen – wird seine aufgedeckt, verliert er seine soziale Existenz», meinte Helmut Lethen über den Hochstapler der zwanziger Jahre. Das gilt für jenen Sozialtypus, den Thomas Mann mit seinem Felix Krull beschreibt: der ehrgeizige junge Mann aus einer Bankrotteursfamilie, der in dienender Funktion in einem Pariser Hotel landet und sich hier Identität und Vermögen eines Marquis aneignet. Eine bemerkenswerte Adaption des Themas hat 2008 Aravind Adiga mit seinem Indien-Roman «Der weisse Tiger» vorgelegt: Die sozialen Verwerfungen der Globalisierungsprozesse im Schwellenland Indien bieten vielfältige Nischen für Hochstapler und Zwischenexistenzen. Adigas Aufsteiger beginnt als Chauffeur eines Provinzmagnaten, jede Form von Demütigung steckt er weg – aber wie Krull lernt er viel über die Mechanismen der Macht; seinem Karriere-Start muss er freilich auch ein wenig gewaltsam nachhelfen.

Auf Herkunft kann der Hochstapler sich nicht berufen – das ist dort nicht richtig, wo gerade die Herkunft und das mit ihr aufgesogene symbolische Kapital vornehmen bis präpotenten Verhaltens seine operative Basis darstellen, also zum Beispiel bei den 1918 deklassierten Aristokraten. Ihnen war oft wenig geblieben ausser ihrem Namen und ihrem Gehabe, vielleicht das eine oder andere Repräsentationsutensil. Damit ausgestattet bildeten sie ein breites Rekrutierungsfeld für die Hochstapler der Zeit. Das ideale Umfeld schuf die gesellschaftliche Deregulierung, die märchenhafte Aufstiege und ebensolche Abstürze möglich macht und damit die Erkennbarkeit der Sozialcharaktere reduziert. Wer sich gediegen benimmt, kann ein armer Schlucker und Betrüger sein, wer ungehobelt daherkommt, ein Oligarch. Ganz ähnlich hat das jüngst der langjährige Kellner eines Wiener Nobelrestaurants beschrieben.

Diese sozialen Unschärfen, wie sie typisch sind im Gefolge von Kriegen oder Krisen, macht sich der Hochstapler aus einst gutem Hause zunutze. «Es ist wahr, dass unser Nachtpublikum nicht first class ist. Aber – que voulez-vous – nur schlechtes Publikum bringt Geld in die Bude», klagt der Direktor in Vicki Baums «Menschen im Hotel» (1929) ausgerechnet dem Baron Gaigern. Der aber ist ein Hochstapler par excellence: Er sieht prächtig aus, «hat was vom Kintopp», gibt sich je nach Situation sorglos, jovial oder herrisch; sein Herkunftskontext ist sein Kapital, auch wenn ihm die ökonomische Basis weggebrochen ist und er gerade einen Juwelenraub vorbereitet.

Otto Soyka, der zu Unrecht völlig vergessene Autor psychologischer Thriller, analysiert in seinen Romanen der zwanziger Jahre die Verschränkung von wirtschaftlicher Zerrüttung und sozialen Verhaltensweisen wie kaum ein anderer, und er ist ein genauer Beobachter der neuen Ausdrucksformen der (Geld-)Macht. In turbulenten Zeiten, wo Kurseinbrüche über Nacht Existenzen vernichten können, klammern sich die Menschen dankbar an das scheinbar Evidente, eine überzeugend vorgespielte «soziale Geste» wird bereitwillig akzeptiert. Das hat auch mit der flächendeckenden medialen Berichterstattung über die Usancen in der Welt der Reichen und Schönen zu tun.

«Wir leben im Zeitalter der Geste. Der gebildete Mensch von heute hat die Welt nicht erlebt, sondern er hat hauptsächlich von ihr gelesen. Er erwartet Romanszenen von der Wirklichkeit und ist stets bereit, mitzuspielen», heisst es in Soykas Roman «Eva Morsini – die Frau, die war . . .» (1923). Einer der Akteure des Buches kidnappt die zum Tode verurteilte Eva Morsini aus dem Justizpalast, just als sie zur Hinrichtung geführt wird. Das Ganze läuft recht simpel ab: Der Befreier hat sich ein stadtbekanntes Fahrzeug der regierenden Macht besorgt, prescht in den Hof des Justizgebäudes hinein, wedelt mit einem Papier, auf dem nichts steht, und schon geht's mit der Delinquentin an Bord Richtung Regierungspalast bzw. haarscharf dran vorbei und in die Freiheit. Jede der Spielfiguren ist im Rückblick überzeugt, richtig gehandelt zu haben, schliesslich war der fremde Herr eindeutig ein hoher Regierungsvertreter.

Auch die Dichter . . .

Soyka hat auch das Gegenteil eines Hochstaplers durchgespielt, sein «Geldfeind» (1923) ist ein über Nacht zu Reichtum gekommener kleiner Angestellter, der niemandem davon erzählt. Der abgründigste Tiefstapler aber ist der ältliche Liftboy Ignaz mit den «bierhellen Kontrollaugen» in Joseph Roths «Hotel Savoy» (1924). Seine Position als Organisator der hausinternen Mobilität nutzt er schamlos zur Sozialkontrolle über die Lebensumstände der Hotelgäste. Der lebenstüchtige Kroate Zwonimir lehnt Fahrstuhl wie Ignaz kategorisch ab. Beide sind ihm unheimlich, und er geht die Treppen lieber zu Fuss. Zwar bleibt das Fahrstuhlunglück aus, aber Ignaz ist nicht Ignaz, sondern der geheimnisvolle Hotelbesitzer selbst. Im Hotel wie in der Wirtschaftskrise werden die Sozialrollen diffus, wie dem schwebenden Lift fehlt ihnen die Erdung im Alltag.

Eine Erdung in nachprüfbaren Kriterien wird mitunter auch im Literaturbetrieb zum Problem. Deshalb, so Albert Ehrenstein, seien «unter den Dichtern . . . mehr Hochstapler als sonstwo», denen nur «die korrupte Literaturpolizei dieses Adelsprädikat verleiht».

Evelyne Polt-Heinzl lebt und arbeitet als Literaturwissenschafterin sowie als Kuratorin in Wien. Zuletzt erschien im Brandstätter-Verlag der Band «Abenteuer Bibliothek. Ein Ort des Wissens und der Fantasie».

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