Freitag, Januar 01, 2010

Was ist eigentlich normal?

31. Dezember 2009, Neue Zürcher Zeitung
Was ist eigentlich normal?

Wer von einer Krise redet, hat – bewusst oder nicht – eine Vorstellung von dem vor Augen, was Normalität ist

Die Rede von der Krise ist allgegenwärtig. Doch wie erkennt man eine Krise? Eine Krisendiagnose setzt stets eine Vorstellung, eine «Theorie», der Normalität voraus. – Eine kultursoziologische Exkursion in unübersichtlichem Gelände.

Von Gerhard Schulze *

Ohne Normalitätsmodelle gibt es keine Krisen. Das scheint hochtrabend ausgedrückt, wenn die Krise beispielsweise darin besteht, dass der Abfluss verstopft ist. Aber nicht jeder auf der Welt weiss überhaupt, was ein Abfluss ist. Vor einiger Zeit gingen Fotos von Männern eines Naturvolks um die Welt, die in höchster Erregung einen über ihnen kreisenden Helikopter mit Speeren und Pfeilen anzugreifen versuchten. Für uns in den Industrieländern gehört ein Helikopter zum Alltag, für diese Männer bedeutete er Krise, weil ihre Theorie des Normalen keine Helikopter kennt. Sie wissen auch nicht, was ein Abfluss ist und wie er normalerweise zu funktionieren hat. Deshalb bleiben sie gelassen, wenn der Abfluss verstopft ist, während wir die Krise kriegen. Aber was wäre, wenn umgekehrt wir aus den Zonen der Moderne plötzlich in das Urwalddorf versetzt wären? Einerseits....


31. Dezember 2009, Neue Zürcher Zeitung
Was ist eigentlich normal?

Wer von einer Krise redet, hat – bewusst oder nicht – eine Vorstellung von dem vor Augen, was Normalität ist

Die Rede von der Krise ist allgegenwärtig. Doch wie erkennt man eine Krise? Eine Krisendiagnose setzt stets eine Vorstellung, eine «Theorie», der Normalität voraus. – Eine kultursoziologische Exkursion in unübersichtlichem Gelände.

Von Gerhard Schulze *

Ohne Normalitätsmodelle gibt es keine Krisen. Das scheint hochtrabend ausgedrückt, wenn die Krise beispielsweise darin besteht, dass der Abfluss verstopft ist. Aber nicht jeder auf der Welt weiss überhaupt, was ein Abfluss ist. Vor einiger Zeit gingen Fotos von Männern eines Naturvolks um die Welt, die in höchster Erregung einen über ihnen kreisenden Helikopter mit Speeren und Pfeilen anzugreifen versuchten. Für uns in den Industrieländern gehört ein Helikopter zum Alltag, für diese Männer bedeutete er Krise, weil ihre Theorie des Normalen keine Helikopter kennt. Sie wissen auch nicht, was ein Abfluss ist und wie er normalerweise zu funktionieren hat. Deshalb bleiben sie gelassen, wenn der Abfluss verstopft ist, während wir die Krise kriegen. Aber was wäre, wenn umgekehrt wir aus den Zonen der Moderne plötzlich in das Urwalddorf versetzt wären? Einerseits würden wir uns ständig ohne Grund aufregen und andererseits im Krisenfall die Ruhe der Unverständigen an den Tag legen, weil wir nicht wüssten, was normal ist.

Kulturverfall

Aber was ist normal? Die scheinbar simple Denkoperation, das Normale zu erkennen, entpuppt sich schnell als kompliziert und fehleranfällig. Trotzdem findet sie kaum Beachtung. Im Alltag reagieren wir intuitiv, und oft genügt dies. In den grossen Krisendiskursen der Gegenwart, die sich etwa auf Wirtschaft, Bevölkerungsentwicklung, Klima oder Energieversorgung beziehen, genügt Intuition nicht. Noch nie haben so viele Menschen über so viele Krisen nachgedacht, diskutiert, eindringliche Warnungen ausgestossen, aufgerüttelt und auf Abhilfe gesonnen und etwas dagegen getan wie gegenwärtig, und ein Ende ist nicht abzusehen. Aber das intellektuelle Niveau der Debatte ist noch auf dem Stand der Eingeborenen, über deren Dorf ein Helikopter fliegt. Mit «intellektuellem Niveau» meine ich: die Deutlichkeit und Sorgfalt, mit der die Diskussionsteilnehmer über die Qualität der Auseinandersetzung wachen. Kontrollieren sie das zur Begründung herangezogene Wissen? Wie ist es überhaupt entstanden? Welches Wissen wird heimlich und oft unbewusst vorausgesetzt? Wer setzt wen unter Druck? Welche Bedeutung haben sachfremde Motive wie Eitelkeit, Geld, Bequemlichkeit und Feigheit?

Die Krisendiskurse der Gegenwart sind häufiger und intensiver, gleichzeitig dürftiger und dogmatischer geworden. Zu besichtigen ist ein Kulturverfall im Bereich der Argumentation über mehrere Jahrzehnte hinweg. Aber warum ist dies so? Warum stockt methodische Selbstbeobachtung und Selbstkontrolle, das Kerngeschäft der Moderne, gerade dort, wo es um das tief verwurzelte menschliche Grundanliegen geht, mit Schwierigkeiten und Störungen fertig zu werden? Es liegt vor allem an der Theorie des Normalen, an der keiner vorbeikommt, wenn von Krise die Rede ist.

Das übersehene Selbstverständliche

Das erste Problem mit unseren Theorien des Normalen besteht darin, dass wir sie gar nicht erst zum Thema machen, obwohl nur sie Krisen definieren. So kommt das Wichtigste nicht zur Sprache. Wenn die Theorie schweigt, schläft die Skepsis. Das Normalitätsmodell wird zur Selbstverständlichkeit und entlastet vom Nachdenken. Man benutzt das Selbstverständliche implizit und vergisst es.

Dafür gibt es gewiss gute Gründe: Wir müssen uns auf das Wesentliche konzentrieren und können uns nicht mit Banalitäten aufhalten. Was etwa unter Gesundheit zu verstehen sei? Das ist doch jedem klar: Schmerzfreiheit, volle Beweglichkeit, Unversehrtheit, Lebensbejahung, Arbeitsfähigkeit, voll funktionierende Organe. Doch zwischen unstrittiger Gesundheit und eindeutiger Krankheit verläuft eine Grauzone. Vieles, was einmal als krank gegolten hat, gehört nach heutigem Verständnis zum Normalbereich, etwa Homosexualität, Linkshändigkeit, Hysterie. Andere Symptome, von denen die frühere Medizin nichts wusste oder die sie nicht interessierten, gelten heute als Krankheitszeichen, etwa allergische Reaktionen, Demenz oder das Burnout-Syndrom.

Ein zu hoher Cholesterinspiegel beispielsweise gilt als Krisenindikator. Er soll Mitverursacher von Herz-Kreislauf-Erkrankungen sein, Anzeichen eines aus dem Ruder gelaufenen Stoffwechsels, Hinweis auf falsche Ernährung und eine belastende Lebensführung. Aber: Wer hat das eigentlich mit welchen Methoden untersucht? Wie klar waren die Ergebnisse? Und wer hat das Intervall abgegrenzt, nach dem der Arzt sich richtet: ab hier zu niedrig, ab dort zu hoch?

Noch komplizierter werden Theorien des Normalen, wenn sie sich nicht auf Organismen beziehen, sondern auf soziale oder psychische Tatbestände. Auch hierbei handelt es sich zwar um Erfahrungstatsachen, aber um solche besonderer Art. Sie verändern sich, sie tauchen auf und verschwinden wieder, sie lassen sich nur über das fehleranfällige Medium der Sprache erschliessen und haben nicht den Charakter von Zuständen, sondern von wiederholten Episoden: Man muss sie als Muster aus einer Mehrzahl von Abläufen herausdestillieren.

Beispiele für die Psychologisierung und Kulturalisierung des Gesundheitsbegriffs stehen regelmässig in der Zeitung: Soundso viel Prozent der Menschen leiden unter «Stress», «Fettsucht», «Borderline-Syndrom», «Abhängigkeit» (von Drogen, Alkohol, Computerspielen, Konsum . . .), «Konzentrationsstörungen» und was die Phantasie sonst noch hergibt an Pathologien, die das gesetzte Normalitätsschema überschreiten und vorwiegend in einem psychosozialen Rahmen definiert sind. Wer hier zu diskutieren anfangen will, stösst schnell auf die eminenten Diskursprobleme kultureller Phänomene, gegen welche der gute alte Blutfettwert mit seiner impliziten Theorie des Normalen wie ein Fels der Begründungssicherheit wirkt.

Krankheit ist nur ein Krisenbeispiel von vielen, und im Vergleich zu anderen versteckten Theorien des Normalen scheint Gesundheit ein Thema zu sein, über das man sich noch ganz gut verständigen könnte, würde man es ernsthaft diskutieren. Die dargestellten Schwierigkeiten treten jedoch bei ausnahmslos allen Krisendiskursen auf, und dies umso schärfer, je weniger das Körpermodell der Krise passt.

Das Körpermodell

Unsere Alltagserfahrung wirkt machtvoll in den Wissenschaftsbetrieb hinein. Krisen, sei es der Wirtschaft, der Bevölkerung, der Kultur oder des Klimas, werden als «Krankheiten» verstanden. Der dabei logisch vorausgesetzte Begriff von Gesundheit ist in die Vorstellung eines pulsierenden und atmenden Organismus gekleidet, der auf jede Irritation eine passende Systemantwort bereithält, seine Stoffwechselvorgänge abwickelt und im Fliessgleichgewicht dahinlebt. Der Erdkörper, der Volkskörper, der Wirtschaftskörper, der Kulturkörper: Darüber beugt sich das Konsilium der Experten, die unter dem Diktat ihres somatischen Deutungsschemas zu Erdmedizinern, Volksheilern, Wirtschaftsschamanen und Kulturhomöopathen werden. Ein Buch von Jürgen Dahl aus den neunziger Jahren trägt den Titel «Die Verwegenheit der Ahnungslosen». Auf dem Umschlag sieht man einen Mann, der entschlossen auf einen Abgrund zumarschiert – mit verbundenen Augen. Die Botschaft ist klar: Sofort stehenbleiben! Erst einmal über die Folgen jedes weiteren Schritts nachdenken! Risikobewusstsein statt Draufgängertum! Die Erde ist krank und therapiebedürftig. Schon im Erscheinungsjahr seines Buchs war Dahl damit kein Rufer in der Wüste mehr, sondern nur einer von vielen Sängern im Chor der Besorgten. Das Motiv des Warnens und Alarmiertseins wurde zum Kristallisationskern eines langlebigen Genres von Sachbüchern, zum Zeitgeist, zum Leitmotiv der Risikogesellschaft.

Wäre zu Hause bleiben besser?

Doch irgendwo müssen die seit Beginn der Moderne gewonnenen fünfunddreissig zusätzlichen Lebensjahre herkommen, die in den Rhein zurückgekehrten Fische, die verbesserte Luft in den Ballungszentren, das ausgebliebene Waldsterben. Ganz so ahnungslos, wie der Buchtitel von Jürgen Dahl suggeriert, sind wir also nicht geblieben, und ganz so verwegen schon gar nicht. So gesehen, wird Dahls Umschlagbild zur Kippfigur: Wer ist hier ahnungslos und verwegen: der Patient Moderne – oder seine Ärzte?

Mut gilt kaum noch als Tugend. Spiegelbildlich dazu ist die Wertschätzung von Bedenken und Befürchtungen gestiegen. Lange Zeit rühmten sich Politiker der Klugheit ihres Handelns, seit einigen Jahrzehnten werben sie auch mit der Klugheit des Nichthandelns. Risikodiskurse haben den Horizont der in Betracht gezogenen Handlungsmöglichkeiten um das Unterlassen erweitert. Das ist vernünftig – in Grenzen. Es wird unvernünftig, wenn das Unterlassen überhandnimmt. Vor dem Hintergrund der Vision eines Weltfriedens ohne Menschen entfalten sich Risikodiskurse vom Zungenschlag der tadelnd eingeräumten letzten Chance: Wenn du nicht verschwinden willst, Mensch, dann reiss dich baldigst am Riemen!

Pascals berühmter Ratschlag wird neu interpretiert: Würden alle Leute zu Hause in ihrem Zimmer bleiben, so schrieb er sinngemäss, wäre alles Unheil von der Welt verbannt. Die Risikogesellschaft sagt: Ihr könnt die Wohnung verlassen, wenn alle Risiken analysiert und minimiert sind. Wenn nicht, bleibt gefälligst zu Hause. In dieser «Philosophie» verstecken sich fundamentale Fehler. Ohne ein Minimum von Verwegenheit und Ahnungslosigkeit ist menschliches Überleben ebenso gefährdet wie durch ein Übermass. Vorsicht soll Risiken reduzieren, aber sie ist selbst potenziell riskant. Totale Risikovermeidung ist gefährlich. Ein Stillstand der Moderne wäre eine Katastrophe. Bis zu einem gewissen Grad sind Verwegenheit und Ahnungslosigkeit unser Schicksal.

Der Klimatologe Stephen H. Schneider allerdings, ein ehemaliger Berater von Al Gore, plädiert für bewusste Irreführung: «Auf der einen Seite sind wir als Wissenschafter an die wissenschaftliche Methode ethisch gebunden, was bedeutet, dass wir alle Zweifel, alle Differenzierungen, das ganze Wenn und Aber mit einschliessen. Auf der anderen Seite würden wir gerne die Welt verbessern. Um das zu schaffen, brauchen wir eine breite Unterstützung, müssen wir die öffentliche Aufmerksamkeit gewinnen. Darum müssen wir Schreckensszenarien verbreiten, schlichte, dramatisierende Stellungnahmen abgeben, und die Zweifel, die wir möglicherweise haben, kaum erwähnen. Diese ethische Doppelverpflichtung kann nicht auf eine bestimmte Formel gebracht werden.»

Das nennt man doppelte Moral. Was bleibt, ist die skeptische Prüfung von Argumenten. Letztlich hat Karl Popper das letzte Wort: Alles Wissen ist Vermutungswissen. Niemand ist im Besitz sicheren Wissens, die Meinungsführer der Krisendiskurse so wenig wie ihre Kritiker. Aber wundert es jemand, dass Gewissheit gerade dann besonders gut gedeiht, wenn viele Fragen offen sind? Wenn die Gegenpartei angreift, darf man keine Schwäche zeigen. Auf diese Weise wird aus wissenschaftlicher Methode unversehens soziale Strategie.

Eine List der Vernunft?

Unter solchen Umständen setzt sich das zum gegebenen Zeitpunkt mächtigere Paradigma erst einmal mit der gleichen Zwangsläufigkeit durch wie ein Sumoringer auf der Wippschaukel. Am anderen Ende der Schaukel zappelt der Skeptiker mit den Beinen in der Luft: für zu leicht befunden. Schon oft in der Geschichte der Wissenschaft wurde der soziale, machtbasierte Geltungsanspruch von Theorien mit ihrer sachlichen Begründetheit verwechselt. «Weltweiter Expertenkonsens» – das ist heute der Name des Sumoringers. «Im Übrigen sind wir natürlich jederzeit offen für Kritik.» An diesem rhetorischen Schutzanzug perlt erst einmal alles ab.

Wie kommt es dann, dass sich dennoch in der Geschichte der Wissenschaft so oft die besseren Argumente durchgesetzt haben, wie lange es auch immer gedauert haben mag? Liegt die Erklärung darin, dass argumentative Selbstbeobachtung und Erkenntnistheorie, einmal «entdeckt», nicht mehr aus dem kollektiven Gedächtnis verschwinden, unverlierbar wie die Schrift, die Sesshaftigkeit, das Rad? Wenn es sich so verhält, ist auch in den merkwürdigsten Kapriolen unserer Krisendiskurse die List der Vernunft am Werk. Zugegeben, das ist spekulativ, und es ist obendrein optimistisch. Stimmen kann es trotzdem.

* Prof. Dr. Gerhard Schulze lehrt und forscht als Soziologe an der Universität Bamberg. Bekannt geworden ist er mit seiner erstmals 1992 erschienenen kultursoziologischen Studie «Die Erlebnisgesellschaft» (Campus-Verlag). Weitere Buchpublikationen: «Die beste aller Welten. Wohin bewegt sich die Gesellschaft im 21. Jahrhundert?» sowie «Die Sünde. Das schöne Leben und seine Feinde». Beide Essays sind bei Hanser verlegt worden.

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