Dienstag, Mai 05, 2009

NZZ: «Gorbatschew hat die Dynamik nicht erkannt» Der Eiserne Vorhang reisst – Andreas Oplatka über Ereignis und Folgen

2. Mai 2009, 10:25, NZZ Online
«Gorbatschew hat die Dynamik nicht erkannt»
Der Eiserne Vorhang reisst – Andreas Oplatka über Ereignis und Folgen

Am 2. Mai 1989 wurde in Ungarn der Eiserne Vorhang erstmals durchschnitten. Durch die Grenzöffnung kam der Zusammenbruch des Sowjetimperiums in Schwung. Die Kreml-Führung in Moskau unterschätzte die Dynamik des Geschehens völlig – das sagt Andreas Oplatka, damals Ostblock-Spezialist der NZZ.


2. Mai 2009, 10:25, NZZ Online
«Gorbatschew hat die Dynamik nicht erkannt»
Der Eiserne Vorhang reisst – Andreas Oplatka über Ereignis und Folgen

Am 2. Mai 1989 wurde in Ungarn der Eiserne Vorhang erstmals durchschnitten. Durch die Grenzöffnung kam der Zusammenbruch des Sowjetimperiums in Schwung. Die Kreml-Führung in Moskau unterschätzte die Dynamik des Geschehens völlig – das sagt Andreas Oplatka, damals Ostblock-Spezialist der NZZ.

NZZ Online: Das Jahr 1989 gilt als Zeitenwende. Was hat sich gewendet?

Andreas Oplatka: Von Zeitenwende kann man schon sprechen. 1989 brachte die Öffnung des Eisernen Vorhangs, den Fall der Mauer. Damit begann der Kollaps der Sowjetunion und des Ostblocks, auch das Ende eines Friedenssystems, das in Europa fast 50 Jahre lang gehalten hatte.

Was war die Hauptursache dieses Zusammenbruchs?

Die innere Schwäche des Ostblocks und dazu der äussere Druck des Westens, vor allem mit der Hochrüstung der USA unter Ronald Reagan. Die Wirtschaftsleistung der Ostblockländer war völlig ungenügend. Dazu kamen innere politische Probleme: Im Sommer 1989 gab es Streiks im Baltikum, Unruhen im Kaukasus, Proteste in Polen und dazu noch die Massenflucht aus der DDR nach Ungarn.

Warum verhinderten die Sowjets nicht die Grenzöffnung?

Die Führung unter Michail Gorbatschew liess es geschehen. Sie war an allen Ecken und Enden gefordert; sie mochte sich nicht darum auch noch kümmern. Gorbatschew selber sagte mir, im Politbüro habe man nie erwogen, Panzer loszuschicken. Ob man andere Optionen erwog, und welche, wollte er mir nicht sagen. Die Sowjetunion strebte damals ein Arrangement mit dem Westen an; sie brauchte eine Pause im Wettrüsten – da kamen Panzer nicht in Frage. Zudem suchte Gorbatschew Unterstützung für seine Perestroika; die erhoffte er sich von den Reformkommunisten in Polen und Ungarn.

Aber es kam anders.

Gorbatschew sah nicht voraus, dass diese Länder wesentlich weiter gehen würden, als er es sich ausgedacht hatte. Die Ungarn und Polen wollten nicht Reformkommunismus, sondern Liberalismus – eine liberale Ordnung hatten sie ja früher schon gehabt, die wollten sie wieder.

Was sagt Gorbatschew heute dazu?

Ich habe mit ihm gesprochen, er hatte 30 oder 40 Minuten Zeit. Viel hat er nicht gesagt; er meisselt vor allem an seinem eigenen Denkmal. Er möchte der Nachwelt als Friedensfürst und Vereiniger Europas in Erinnerung bleiben. Aber offenkundig haben Gorbatschew und seine Umgebung lange Zeit gar nicht erkannt, welche Dynamik mit der Öffnung der Grenzen freigesetzt wurde.

Wann hat die Kremlführung gemerkt, dass die deutsche Wiedervereinig sich nicht mehr aufhalten liess?

Erst im Januar 1990 realisierten sie die Tragweite des Geschehens. Da stellten sie fest, dass der Ostblock in der bisherigen Form und namentlich die DDR nicht mehr zu halten war. Das sagen westliche Diplomaten und auch Insider aus dem Kreml von damals, etwa Alexander Jakowlew als ehemaliges Mitglied des Politbüros.

Auch die Kreml-Gucker im Westen waren überrascht.

Das stimmt. Praktisch niemand hat den plötzlichen Zusammenbruch der Sowjetmacht vorausgesehen, so schnell und so umfassend. Im Lauf von 1989 wurde aber klar, dass die Dinge sich in diese Richtung bewegten, und dass die Entwicklung unumkehrbar war. Aber eine deutsche Wiedervereinigung schien auch Ende 1989 noch fast undenkbar.

Warum kam der Anfang vom Ende gerade in Ungarn?

Ungarn war freier als andere Länder im Ostblock. Das Regime liess die Leute einigermassen in Ruhe; sie hatten private Geschäfte, sie konnten reisen. In dieser Atmosphäre entstand in den achtziger Jahren eine ziemlich starke Oppositionsbewegung.

Woher kam die relative Freiheit?

Die Ungarn hatten 1956 ihren Aufstand gewagt. Es gab Kämpfe und ein paar tausend Tote. Diese Sprache wurde in Moskau verstanden, das machte Eindruck. Der gewaltlose Widerstand in der Tschechoslowakei 1968 dagegen erschien, so bewundernswürdig er war, den Sowjets nur als Zeichen der Schwäche. In der DDR oder in Rumänien war an Freiheit oder auch nur an kleine Freiheiten schon gar nicht zu denken.

Und was führte dann zum Schnitt im Zaun?

Die ungarische Regierung wollte den Eisernen Vorhang einrollen. Es war eine ziemlich einfache Anlage, ohne Starkstrom und Minen und Selbstschussanlagen, aber sie war ziemlich kaputt, und der Unterhalt wurde der Regierung zu teuer. Und die Wachtmannschaften waren überfordert wegen der vielen Pannen und Fehlalarme – sie waren die ersten, die den Abbau wünschten.

Also ein finanzielles Motiv?

Ja, aber nicht nur. Der Zaun wurde eigentlich gar nicht mehr gebraucht, jedenfalls nicht für die Ungarn. Die erhielten seit Anfang 1988 Pässe und konnten legal ausreisen, auch in den Westen. Der Zaun war nur noch zur Bewachung von Bürgern aus andern Ostblockstaaten gut, und das hielt die ungarische Führung nicht für ihre Aufgabe.

Wurde Moskau denn vorgängig informiert?

Ja, die ungarische Führung sondierte intensiv in Moskau; sie waren vorsichtig. Gorbatschew selbst sagte zum ungarischen Regierungschef Miklos Nemeth, er sehe im Abbau der Grenzanlagen kein Problem. Und er versicherte ihm, solange er auf seinem Stuhl sitze, werde es kein neues 1956 geben – obwohl einige genau das möchten, fügte er hinzu.

Wie ging man dann vor?

Der erste Schnitt durch den Zaun erfolgte am 2. Mai 1989. Die Anordnung dazu liess man einen kleinen Beamten im Innenministerium unterschreiben – so sicher war sich die Führung in Budapest denn doch nicht. Der offizielle Regierungsbeschluss zum Abbau des Zauns folgte erst am 18. Mai, und der Abbau ging dann sehr schnell voran. Die Grenzbewachung wurde aber zuerst noch weitergeführt; erst am 22. August beschloss das Kabinett, sie einzustellen. Das war nach dem sogenannten Grenzpicknick mit Flüchtlingen aus der DDR vom 19. August.

Aber der offizielle Zaunschnitt erfolgte doch erst am 27. Juni?

Das war eine Public-Relations-Inszenierung des ungarischen Aussenministers Gyula Horn, mit dem österreichischen Aussenminister Alois Mock zusammen. Zu dem Zeitpunkt war der Grenzzaun aber grösstenteils schon demontiert. Die Politiker hatten Mühe, überhaupt noch ein intaktes Stück Zaun von hundert Meter Länge zu finden, das sie vor den Kameras durchschneiden konnten. Horn wollte als Grenzöffner in die Geschichte eingehen; doch sprach er sich noch Mitte August im Ministerrat gegen die Einstellung der Grenzbewachung aus.

Trotzdem, der Auftritt hatte Wirkung.

Ja, die psychologische Wirkung war da. Das westdeutsche Fernsehen berichtete darüber. Das sahen die Leute in der DDR. So kam es zur grossen Abwanderungswelle: 50 000 Ostdeutsche reisten bis Anfang November über Ungarn durch den offenen Zaun in den Westen. Mit der Demontage des Zaunes und der Freigabe der Grenze Anfang September wurde das gesamteuropäische Geschehen beschleunigt.

Welche Rolle spielten die deutschen Politiker, in Ost-Berlin und in Bonn?

Der ostdeutsche Parteichef Erich Honecker wollte bei einem Ostblock-Gipfeltreffen Anfang Juli noch heftig gegen das Vorgehen der Ungarn protestieren. Aber er hatte eine Nierenkolik und konnte die Brandrede nicht halten, die er vorbereitet hatte -- das war ein günstiger Zufall der Geschichte. In Bonn ist die eine oder andere Einzelheit in der Rolle des damaligen Bundeskanzlers Helmut Kohl nicht ganz klar. Er wollte mir keine Auskunft geben. Er hatte eine wichtige, mehrstündige Unterredung mit den Ungarn, mit Ministerpräsident Nemeth und Aussenminister Horn, am 25. August auf Schloss Gymnich bei Bonn; in seinen Memoiren spricht er darüber, aber Dokumente über diese Unterredung durfte ich nicht sehen; das Protokoll wird bis heute geheim gehalten. Auch vom damaligen Aussenminister Hans-Dietrich Genscher konnte ich es nicht erhalten, obwohl er sich in unserer Unterredung auf diese Aufzeichnungen berief.

Was ist jetzt die Bilanz, zwanzig Jahre nach diesen Ereignissen?

Es gab eine starke Umgestaltung der Gesellschaft, mit Gewinnern und Verlierern. Gewinner waren die Angehörigen des Mittelstands, Leute mit einer Berufsbildung. Sie erlebten einen unerhörten Aufschwung. In den letzten zwanzig Jahren wurde mehr aufgebaut und modernisiert als in den fünfzig Jahren zuvor. Und Gewinner insbesondere ist die jüngere Generation.

«Man konnte sich plötzlich Verbesserungen vorstellen»

Und die Verlierer?

Ich verkenne nicht, dass es auch Verlierer gegeben hat. Vor allem ältere Leute, die in den neuen Verhältnisse nicht mehr Fuss fassen konnten. Und auch die Roma: Viele hatten als ungelernte Hilfsarbeiter in wenig produktiven Industriekombinaten eine Stelle; solche Stellen fielen weg, als die Betriebe modernisiert oder geschlossen wurden.

Was hat sich in den Köpfen verändert?

Das Leben in manchen ehemaligen Ostblockländern erhielt eine ganz neue Qualität: persönliche Freiheit, Bürgerrechte, Menschenwürde – daran hat man sich inzwischen gewöhnt, man erwähnt es schon kaum mehr. Und man konnte sich plötzlich Veränderungen, Verbesserungen vorstellen. Unter dem alten Regime wusste man: Es ist so, wie es ist, wir haben, was wir haben, mehr wird es nie sein. Jetzt hat man Chancen, die man packenkann; es kann aufwärts gehen. Allerdings kann es auch abwärts gehen, wie man jetzt sieht; die Wirtschaftskrise trifft die ehemaligen Ostblockländer besonders hart. Aber es ist jetzt ein dynamischer Zustand, nicht mehr ein statischer wie vorher.

Interview: awy.

Von Andreas Oplatka ist soeben das Buch «Der erste Riss in der Mauer» erschienen, bei Zsolnay in Wien. Er untersucht darin den Abbruch des Eisernen Vorhangs in Ungarn und das Handeln der Akteure, gestützt auf Interviews mit direkt beteiligten Personen und auf ausgedehnte Archivrecherchen. – Andreas Oplatka war Redaktor und Korrespondent der NZZ. Heute lehrt er an der deutschsprachigen Andrassy Universität in Budapest und an der Universität Wien.

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