Sonntag, Mai 10, 2009

TA Magazin: Gerhard Roth - Im Kopf des Gehirns

Tages Anzeiger Magazin 09.05.2009
Im Kopf des Gehirns

Der Hirnforscher Gerhard Roth über die Veranlagung zum Glück und den Sinn des Lebens
08.05.2009 von Anuschka Roshani , 1 Kommentar

Er nannte das Gehirn «eine Quelle des Bösen» und den freien Willen «eine Illusion» — weshalb er eine Revision des Strafrechts forderte. Verbrecher seien nicht individuell schuldig, sondern als psychisch Kranke zu betrachten. Die Debatte, die er damit auslöste, ist in vollem Gange. Grund genug, nachzufragen. Bei dem, der den geistes- mit dem naturwissenschaftlichen Blick vereint: Gerhard Roth ist Philosoph und Neurobiologe und leitet das Institut für Hirnforschung der Universität Bremen.


Tages Anzeiger Magazin 09.05.2009
Im Kopf des Gehirns

Der Hirnforscher Gerhard Roth über die Veranlagung zum Glück und den Sinn des Lebens
08.05.2009 von Anuschka Roshani , 1 Kommentar

Er nannte das Gehirn «eine Quelle des Bösen» und den freien Willen «eine Illusion» — weshalb er eine Revision des Strafrechts forderte. Verbrecher seien nicht individuell schuldig, sondern als psychisch Kranke zu betrachten. Die Debatte, die er damit auslöste, ist in vollem Gange. Grund genug, nachzufragen. Bei dem, der den geistes- mit dem naturwissenschaftlichen Blick vereint: Gerhard Roth ist Philosoph und Neurobiologe und leitet das Institut für Hirnforschung der Universität Bremen.

Professor Roth, ist der Mensch sein Gehirn?
Im trivialen Sinne ist er sein Gehirn. Alles, was wir sind und tun, denken und fühlen, läuft über das Gehirn. Es ist der Schnittpunkt; deshalb ist es trivial zu sagen, das Gehirn leitet mich. Wer oder was sonst? Diese Aussage sagt nichts darüber aus, welches die Ursachen für unser Denken, Fühlen und Handeln sind.

Und welche sind das?
Psychologie und Hirnforschung nehmen an, dass alle Motive im Rahmen der Entwicklung der Persönlichkeit festgelegt werden: durch Gene, Hirnentwicklung, frühkindliche Erfahrung und spätere Sozialisierung.

Gefühle entstünden ausschliesslich im Gehirn, sagen Sie. Schmerzen seien ein Konstrukt des Gehirns, Gefühle die Kurzberichte des emotionalen Gedächtnisses. Ist Leben nur eine Abfolge von Wiederholungen, die Rekapitulation eines Gefühls?
Der Mensch muss sich Erfahrungen merken. Er hat Affekte, die er nicht lernen muss, wie elementare Furcht, Wegrennen, Totstellen, mütterliche Instinkte. Daneben gibts die emotionale Konditionierung, das heisst, er muss lernen, wie er mit der Welt umgeht. Und die phylogenetisch ursprüngliche Kodierungsform sind Gefühle, das heisst, das Gehirn merkt sich, das war gut, das sollst du wieder tun, oder das war schlecht, das sollst du vermeiden. Damit das verhaltensrelevant wird, werden daran bestimmte Gefühlszustände gekoppelt. Die Emotion — Lust, Schmerz, Angst, Freude, Hoffnung — ist ein sehr effektives Gedächtnis, das unser Verhalten steuert. Das Problem ist, dass die zuständigen Zentren dieses limbischen Systems keine Details verarbeiten können, sie neigen deshalb sehr zu Generalisierungen. Wenn ich einmal vom Hund gebissen wurde, dann habe ich meist vor allen Hunden Angst. Es kommt das Hippocampus-Cortex-System dazu, das unemotional ist, aber die genauen Geschehnisse beisteuert — das ist unser zweites, unser elaboriertes, kognitives Gedächtnis. Beide interagieren stark und lenken das Verhalten.

Wie sieht die emotionale Konditionierung im ersten Lebensjahr aus?
Beim einen Kind genügt es, einmal auf die heisse Herdplatte zu langen, die Regel ist, es muss dies zwei-, dreimal erfahren, bis sich die Erfahrung eingeprägt hat. Ganz, ganz wichtig ist die averbale und später verbale Instruktion durch die Mutter. Die Mutter legt über ihre eigenen Gefühle zum grossen Teil die Gefühle des Kindes für sein Leben fest. Deshalb ist es tragisch, wenn eine Mutter teilnahmslos, etwa depressiv ist und nicht dazu fähig.

Produzieren glückliche Mütter glückliche Kinder und so fort?
Nicht hundertprozentig, aber man spricht von einem transgenerationellen Transfer. Der geschieht aber intuitiv. Die psychisch normale Mutter fällt in die Ammensprache, sie ist geduldig beim Füttern und so weiter, das läuft halbbewusst ab. Das prägt sich dem Kind ein, und es wird mit seinen eigenen Kindern das Gleiche tun. Aber auch Traumatisierung erzeugt Traumatisierung. Ich habe das in meiner Familie dramatisch erlebt, wo in der vierten Generation Depression weitergegeben wurde.

Sie wenden sich gegen den Erziehungsoptimismus. Warum?
Kreativität und Intelligenz zum Beispiel sind nicht wirklich anzuerziehen, sie sind hochgradig angeboren. Misst man den IQ eines Fünfjährigen, dann ist der mehr oder weniger identisch mit dem IQ, den die Person mit sechzig haben wird. Durch Förderung oder das Gegenteil, durch Vernachlässigung, lässt sich der IQ um etwa 15 bis 20 Prozentintelligenzpunkte verändern, mehr nicht. Bei psychischen Eigenschaften ist dagegen die frühe Bindungserfahrung zur Hälfte bestimmend.

Ich kann als Erwachsener gegen meine genetische oder früh festgelegte Grundausstattung nichts tun?
Ein Mensch kann ein Leben lang verändert werden, aber je älter man wird, desto geringer werden solche Möglichkeiten. Kinder dagegen sind in den ersten Lebensmonaten stark veränderbar, im Schulalter und in der Pubertät schon weniger, und als Erwachsener ändert man sich meist nur schwer und oft nur durch langanhaltende Einwirkung. Man muss gewünschte Veränderungen immer professioneller angehen, die psychischen Personalstrukturen immer raffinierter bearbeiten, über Belohnung oder mit einem Psychotherapeuten. Aber auch da gibt es grosse individuelle Unterschiede. Bei dem einen beissen sich alle die Zähne aus, ein anderer ist therapiefähiger.

Inwiefern ist man Herr seiner Motive?
Überhaupt nicht, denn Motive können nur durch Gegenmotive ausser Kraft gesetzt werden, über die wir ebenfalls keinen Einfluss haben. Man kann sehr durstig sein, aber sagt jemand, trink das Glas Wasser nicht, es ist Salzwasser: Dann wird es Leute geben, die sagen, ich trinke nichts, sonst wird der Durst schlimmer, andere werden es trinken. Ob man es tut oder nicht, hängt davon ab, wie durstig man tatsächlich ist, welche imaginativen-kognitiven Kompetenzen man im Hirn hat, wie dramatisch man sich vorstellt, was das Trinken bewirkt. Der Wille ist es ja nicht, der die Motive beeinflusst. Umgekehrt, der Wille wird von den Motiven beeinflusst. Wenn ich ohne Sauerstoffmaske auf den Mount Everest klettere, ist es nicht der Wille, der mich antreibt, sondern es sind die Motive, die meinen Willen formen und antreiben. Etwa der brennende Ehrgeiz, etwas zu machen, was vorher noch keiner gemacht hat — man ist besessen von einer Fiktion. Ein besonders willensstarker Mensch ist besonders unfrei, er hat gar keine Wahl, sich gegen seine starken Motive zu wehren.

Was hat ihn unfrei werden lassen?
Ein überehrgeiziger Mensch hat vielleicht eine ausgeprägte Ich-Schwäche, ein schweres Selbstbewusstseinsdefizit, weil er sich etwas beweisen muss. Das ist das Paradoxon bei sehr willensstarken Menschen: Sie sind fanatisch und zugleich ichschwach und müssen ihre Ich-Schwäche kompensieren. Diese kann etwa daher rühren, dass eine willfährige Mutter den Sohn vergöttert hat oder aber ihn ganz kleingemacht hat.

Die Mütter sind immer an allem schuld, spätestens seit Freud.
Wenn eine werdende oder junge Mutter sich normal verhält, und so ist es bei rund 95 Prozent, kann sie nicht viel falsch machen, weil das gesamte Ritual zwischen Kleinkind und Mutter genetisch vorprogrammiert und über die eigene frühere Bindungserfahrung abläuft. Die 5 Prozent der Bevölkerung, die davon abweichen, müssen eine massive genetische Prädisposition und Bindungsstörungen aufweisen, etwa eine schwer depressive Mutter haben, schwer vernachlässigt oder im Mutterleib durch Drogenmissbrauch belastet worden sein. Oder sie müssen extremen psychischen Belastungen während der Schwangerschaft oder ersten Lebensmonate ausgesetzt gewesen sein: drei Wochen im Keller gelebt haben oder unter schwerem Kriegsterror.

Das hiesse, die Kriegskinder, die heute etwa Siebzigjährigen, müssten schwer traumatisiert sein. Sind sies?
Die empirische Forschung sagt, dass genetisch robuste Menschen unglaublich viel aushalten. Nur wenn solche Traumata zu genetischen Polymorphismen dazukommen, hat es einen deutlichen Effekt. Doch es ist eine Tatsche, dass rund 10 bis 20 Prozent in dieser Generation psychisch krank sind: unter Depression oder Angststörungen leiden oder gelitten haben.

Die Generation meiner Grosseltern — wo sind die mit ihren schlimmen Erfahrungen geblieben?
Man müsste annehmen, dass sie alle psychisch kaputt waren; vielleicht waren sie das auch. Aber wie gesagt, der Mensch kannviel aushalten. Man muss auch berücksichtigen: Ein Grossteil der psychisch geschädigten, sehr aggressiven Männer waren exakt jene, die im Krieg als Soldaten sprichwörtlich «ausgemerzt» wurden. Das waren die Kriegshelden — die Todeskandidaten.

Man wird nie wissen, ob sie gestört worden wären, weil sie gefallen sind?
Genau. Andererseits ist psychische Traumatisierung sehr relativ in Bezug auf die Erwartung. Wenn man mit Not, Hunger, Prügel aufwächst, und diese Umstände gelten als völlig normal, dann ist der traumatisierende Effekt viel geringer, als wenn das Elend aus heiterem Himmel kommt.

Führt erst die Bewertung zum Trauma?
Zum Teil. Wenn ich in einem gewalttätigen Milieu aufwachse, und auch all meine Geschwister und so weiter werden geprügelt, ist in der Tat die Traumatisierung viel kleiner. Das Unerwartet-Schreckliche wirkt dagegen absolut traumatisierend.

Ist es allein der Gewohnheit zu verdanken, dass es keine Spuren hinterlässt?
Ja, Belohnung wie Bestrafung sind sehr relative Angelegenheiten. Jeden Tag genug zu essen zu haben, ist für uns heute nichts Besonderes, während es vor 150 Jahren für viele ein Traum gewesen wäre. Belohnung nutzt sich enorm schnell ab, schneller noch als alle negativen Erfahrungen.Belohnung hat die höchste Verfallzeit.

Wird der Mensch böse geboren und bloss durch die Umwelt domestiziert?
Böse ist kein naturwissenschaftlicher Ausdruck, grausam vielleicht. Natürlich tragen wir alle in uns ein Wirbeltier- und Säugetiererbe. Beim Mann bedeutet das diese merkwürdige Verkopplung von Dominanz, Sexualität und Aggression, dagegen gibt es keine verlässliche Moral. Wenn du einen Kampf nicht vermeiden kannst, dann wird bis zum Tod gekämpft — und Nachsicht, Mitleid gibt es nicht.

In Zürich hat man grad herausgefunden, dass Kinder erst ab sieben Empathie entwickeln, nicht wie bisher angenommen mit etwa vier Jahren.
Das hängt davon ab, wie Sie Empathie definieren. Es gibt Untersuchungen des Leipziger Anthropologen Michael Tomasello, der sagt, auch Affen zeigen eine Vorform von Empathie, die vergleichbar ist mit der von Vierjährigen. Komplexere Empathie zeigt sich sicherlich erst später. Einiges davon ist sehr stark sozial vermittelt, einiges angeboren. Aber Tiere sind meist mitleidlos, sie machen höchstens bei den Nächstverwandten eine Ausnahme, quälen und haben noch nicht mal Spass daran, sie tun es einfach. Die frühe Bindungserfahrung baut dagegen beim Kleinkind extreme empathische Hindernisse auf, wir lernen sehr früh, bestimmte Bedürfnisbefriedigungen aufzuschieben. Es wird uns vieles streng verboten.

Wann zeigt der Mensch Empathie?
Männer kennen angeborenes Mitleid nur bei den Genverwandten oder denen, bei denen sie aufgewachsen sind. Frauen sind offensichtlich von ihrer hormonalen Ausprägung her empathischer, aber auch nur im engen sozialen Bereich. Ein Geschlechtsunterschied besteht übrigens auch bei der Gewaltausübung. Im Durchschnitt ist männliche Gewalt körperliche, impulsive Gewalt, während die von Frauen überall auf der Welt überwiegend Beziehungs- oder verbale Gewalt ist. Das lässt sich schon in Diplomatie oder Intrige ablesen. Frauen mit einem starken Antrieb zur Aggression kommen eher mit zerschnittenen Armen in die Psychiatrie, wogegen aggressive Männer in der Regel alles kurz und klein schlagen. Männliche Gewalt wird im Hypothalamus ganz anders gesteuert als weibliche.

Wie sieht es mit der Liebe aus?
Es bleibt ein grosses Fragezeichen, warum Menschen über die Sexualität und die Verliebtheit hinaus Liebe zeigen. Vermutlich dient es irgendwie der längerfristigen Bindung zugunsten der Kinderaufzucht. Ich habe gestern lange mit meiner Frau, die auch Hirnforscherin ist, darüber gesprochen: Bei den Primaten ist Liebe etwas sehr Seltenes, wenn es sie überhaupt gibt. Das, was man Liebe zwischen Erwachsenen nennt, ist sehr wahrscheinlich eine abgewandelte Beziehung der Mutter-Kind-Beziehung. Das geht ja bis in die Wortwahl hinein: «Baby», «Schätzchen» und so weiter, auch das Streicheln leitet sich von der Mutter-Kind-Beziehung ab. Man nimmt an, dass der Mensch ein verkindlichter, ein pädomorpher Affe ist. Die Mutter-Kind-Beziehung hat sich in der Evolution vermutlich unter besonderem Selektionsdruck transformiert in eine mutterkindähnliche Beziehung zwischen Erwachsenen.

Demzufolge müsste die Frau in Liebesbeziehungen immer den mütterlichen Part innehaben.
Hormonale Zusammenhänge, aber auch das Bindungssystem, deuten darauf hin, dass es eine abgeleitete Beziehung ist. Das Neuropeptid Oxytocin zum Beispiel wird nach der Geburt beim Saugen des Kindes ausgeschüttet, um eine emotionale Bindung von der Mutter zum Kind herzustellen — aber auch nach dem Sex.

Was folgert man daraus?
Sigmund Freud und Konrad Lorenz, sie alle würden sagen, die Liebesbeziehung zwischen Mann und Frau dient ganz direkt der längerfristigen Brutfürsorge.

Der Arterhaltung also. Dann müssten sich kinderlose Paare weniger lieben.
Was statistisch auch so ist: Kinderlose Paare haben grössere Schwierigkeiten. Während Kinder Paare zusammenkitten können.

Aber ebenso trennen können.
Natürlich. Man muss es ja nicht mechanistisch sehen. Da rettet sich eine primär vorhandene Liebesfähigkeit in das Erwachsenenalter hinüber, mit einem fördernden Einfluss auf die Brutfürsorge, doch es kommt ebenso vor, dass es danebengeht — der Mittelwert muss stimmen.

Lässt sich Liebesfähigkeit im Gehirn nachweisen?
Berühmte Kollegen von mir wie der Brite Semirr Zeki und der Schweizer Andreas Bartels glauben, dass sie das können. Der Ausstoss von endogenen Opiaten, Oxytocin, Phenylethylalanin und natürlich Testosteron, ist erhöht, man ist im berühmten siebten Himmel. Wobei die beiden natürlich nicht Liebe, sondern Verliebtsein gemessen haben. Liebe — die ist ja auch ohne Sex möglich — ist noch ziemlich unverstanden. Liebe ist leider schwer zu untersuchen. Sie benötigen starke Gehirnsignale, damit Sie überhaupt etwas auf dem Kernspintomografen sehen können. Und finden Sie erst mal genug Paare, die «madly in love» sind, über einen sehr langen Zeitraum. Man kann im Kernspintomografen nur die Extreme messen und muss daher eher sozialpsychologisch arbeiten als am Gehirn.

Wenn der Charakter im Hirn lokalisierbar ist, wird es eines Tages so etwas Ähnliches geben wie einen neurologischen Fingerabdruck?
Viele Kollegen arbeiten wie wir an Studien, wo Vulnerabilitäten gemessen werden, zum Beispiel die Gefährdung für bestimmte psychische Erkrankungen. Wir versuchen Frühindikatoren zu finden. Damit man etwa bei einem Fünfzehnjährigen schon sagen kann, der ist gefährdet, irgendwann zum Gewaltstraftäter zu werden.

Wie beängstigend, wenn ich das einem so früh vorhersagen kann.
Das können Sie sogar oft schon bei einem Fünfjährigen vorhersagen. Studien über Gewaltstraftäter zeigen, dass nahezu alle von ihnen in früher Jugend, das heisst im Kindergarten, auffällig wurden und eine hohe Übereinstimmung in einigen wenigen biologischen, individual- und sozialpsychologischen Merkmalen besitzen.

Welche sind das?
Erstens ähneln sie sich hinsichtlich der individuellen genetischen Prädisposition für Gewaltbereitschaft, einer Hirnschädigung und neurophysiologischen Defiziten, dies ist aber schwach ausgeprägt. Gendefekte brauchen den Anstoss durch Umweltereignisse, um zu Fehlsteuerungen im Gehirn zu führen. Solche schädigenden Ereignisse sind die erwähnte vorgeburtliche oder frühe nachgeburtliche psychische Traumatisierung. Dieser zweite Faktor ist stark und widerspricht somit dem biologischen Determinismus. Drittens haben sie Gewalt im engeren Lebensbereich erlebt, insbesondere in den ersten drei Lebensjahren. Wenn diese drei Faktoren zusammenkommen, besteht eine hohe Wahrscheinlichkeit, dass der junge Mensch zum Gewalttäter wird. Dies lässt sich leicht bei Tests und bei Besuchen in den Familien feststellen.

Darf man einen Fünfjährigen, Jahre bevor er vielleicht zum Gewalttäter wird, als solchen abstempeln?
Ist es nicht unmoralischer, ihn seinem Schicksal zu überlassen? Bei psychischen Erkrankungen ist es doch moralisch geboten, früh gegenzusteuern. Moralisch unsittlich ist es bloss, wenn ich erkläre, aus dem wird eh nichts. Wenn ich ihn aufgebe. Und ist es etwas anderes, wenn ich feststelle, das Kind hat ein Loch im Herzen und es wird darunter später leiden? Man muss sich abgewöhnen, die Psyche als etwas anderes als den Körper zu betrachten. Bei einer ansteckenden Krankheit machen Sie sich strafbar, wenn Sie diese nicht melden — bei der Psyche ist es ein Tabu, darüber auch nur zu sprechen.

Sie gehen weiter und plädieren dafür, das Strafrecht ganz neu zu denken, weil das bisherige Verständnis von Schuld nicht aufrechtzuerhalten sei.
Das ist im Strafrecht gar kein neuer Gedanke! Da die persönlichkeitsprägenden Faktoren in einem Alter bestimmt werden, in dem niemand schuldfähig ist, können die Täter bei ihrem späteren Tun auch nicht im traditionellen Sinne schuldig werden. Will man dennoch am Begriff der Schuld festhalten, was viele, auch fortschrittliche Strafrechtler, als unverzichtbar ansehen, so kann dies nur im Sinne der Verletzung staatlich-gesellschaftlicher Normen geschehen: Der Staat nimmt sich das Recht, Normen aufzustellen und deren Übertretung zu ahnden. Da bei uns Schuld eng mit dem Rache- und Sühnegedanken verbunden ist, wird es dauern, bis Prävention und Therapie im Umgang mit Straftätern im Vordergrund stehen werden.

Wie sind Phänomene wie das Dritte Reich, ein Volk aus Folterknechten, aus Ihrer Sicht zu erklären?
Die Hirnforschung kann das sicher nicht hinreichend erklären, aber es gibt ausreichend sozialpsychologische Untersuchungen, dass unbeteiligte Leute, die nichts davon hatten, noch zu den Opfern hingingen und nachtraten. Die Erklärung, die ich mit Kollegen gerade dafür entwickle, nennen wir «Freisetzungshypothese». Wir unterscheiden drei Gruppen von Menschen: erstens die einen, die den Anlass zur Grausamkeit suchen. Die Sadisten oder Psychopathen. Diese waren unter den Nazis übrigens nicht beliebt, das wollten die nicht. Die zweite Gruppe sind die, die mit keinem Druck dazu zu bringen sind. Ein winziger Teil hat damals widerstanden, weniger als tausend Leute im ganzen Dritten Reich. Die grösste und dritte Gruppe waren die, die sich am Anfang geweigert haben — die Ärzte im KZ, die Aufseher, die Wehrmacht —,sie alle haben eine Zeitlang gebraucht, bis sie Dinge taten, die an Grässlichkeit nicht zu überbieten waren. Das bedeutet, dass Gewalt erst aus Opportunismus, aus Eigensucht, dann aber aus der Lust an Grausamkeit und aus Allmachtsgefühlen heraus, die in uns allen stecken, aber extrem tabuisiert werden, freigesetzt wird. Die meisten Kinder sind ab und zu grausam, kleine Tierquäler. Das aber wird bei den meisten von ihnen später gesellschaftlich überformt, zivilisiert.

Durch Erziehung zur Moral?
Durch Einsicht, Gewohnheit, Erziehung — keine Ahnung. Aber leider wird es nicht ganz beseitigt, sondern schlummert in den Tiefen unserer Psyche. Die grösste Versuchung ist das Allmachtsgefühl: dass man plötzlich ungestraft Dinge tun darf, die bisher absolut verboten waren. Nicht nur als Mann Männer zu töten, sondern auch Frauen und Kinder. Dieses Verlangen muss so tief in uns sitzen, dass wir unter ganz besonderen Umständen alle zivilisatorischen, moralischen Hemmnisse überwinden. Das nutzen militaristische und diktatorische Systeme schonungslos aus.

Der Mensch ist doch von Natur aus böse.
Nein, von Natur aus hat er bestimmte Antriebe, die einmal biologisch sinnvoll waren und heute gegen andere Antriebe als Hemmnis wirken. Auch junge Tiere kriegen beigebracht, dass man seine Geschwister nicht umbringt. Angeboren ist die Balance; wenn aber ein Faktor wegfällt, bleibt der andere übrig. Man könnte umgekehrt auch lammfromm werden.

Wodurch kippt das Gleichgewicht?
Indem andere Motive durch Erfahrung oder Erziehung sehr stark werden, etwa Eigennutz.

Sie betonten eben, dass viele Täter im Dritten Reich nichts davon hatten.
Die hatten meist keinen finanziellen Vorteil, aber natürlich den Lustgewinn. Machtausübung ist ein indirekter, aber sehr starker Lustgewinn. Doch das ist alles noch hypothetisch, auch wenn diese «Freisetzungshypothese» erklären könnte, wie man fast jeden zum Gewalttäter machen kann, wenn man es geschickt anstellt. Die Fakten allerdings sprechen für sie.

Dafür weiss man heute, glückliche Menschen sind nicht glücklicher, weil sie mehr Glück haben. Hängt mein Glück demnach nicht von objektivierbaren Erfahrungen ab?
Es gibt dazu hochinteressante Untersuchungsergebnisse: Es gibt schwache und starke Optimisten und schwach und stark Ängstliche, und das sind sie in aller Regel mit sechs Jahren genau wie mit sechzig. Das gehört zum Temperament eines Menschen, das sehr konstant bleibt. Sie werden ein sehr ängstliches Kind nicht zum Optimisten machen, selbst wenn es viel Glück und Erfolg hat. Während ein optimistischer Mensch erleben kann, was er will, er wird immer sagen, anderen stösst das vielleicht zu, mir doch nicht. Dem unverwüstlichen Optimisten stirbt die Frau weg, er ist echt traurig, und nach einiger Zeit erholt er sich davon, hat vielleicht einen neuen Partner. Wogegen der Pessimist sein Leben lang Trauer trägt. Dieser Cocktail im Hinblick darauf, wie ich auf die Welt schaue, wird früh gemischt. Diese Eigenschaft, dem Schicksal zu trotzen oder an ihm zu zerbrechen, nennt sich Resilienz.

Sollte man sich die Sehnsucht nach Glück besser abschminken?
Zum Teil. Ein Mensch, der gesund ist, einigen Erfolg hat und ein gutes Familienleben, der wird glücklicher sein als ein Mensch mit gleicher genetischer Ausrüstung, der das nicht hat. Aber es gibt auch die Milliardäre, die todunglücklich sind, weil sie nur drei statt zwanzig Milliarden haben. Erfolg und Glück hängen nicht fest zusammen. Es gibt eine starke genetische Temperamentvorgabe. Doch es ist nachweislich so, Menschen in Diktaturen sind unglücklicher als in Demokratien. Aber auch in Demokratien können sie unglücklich sein.

Schweizer zählen zu den glücklichsten Menschen weltweit. Liegt das am guten Genpool?
Es könnte auch die sozial vermittelte Erwartung im Leben dafür verantwortlich sein. Menschen, die sich realistische Ziele stecken und sie verfolgen, allerdings nicht verbissen, das sind die glücklichsten. Dass sie so sind, ist weithin Schicksal. Aber wenn sie in einer Gesellschaft aufwachsen, wo die Natur schön ist und sie im richtigen Mass gefordert werden, sind sie schon mal auf der sicheren Seite. In der Gesellschaft dagegen, in der es immer heisst, du musst reich und berühmt werden oder du musst möglichst viel Sex haben, sonst hast du dein Leben verfehlt, wirst du nicht glücklich. Es ist der grosse Kontext, der modulierend auf Temperament und Persönlichkeit wirkt, in bestimmten Grenzen.

Gibt es tatsächlich einen Suchtcharakter? Könnte ich mir theoretisch dreimal Heroin spritzen und würde nicht süchtig, wenn ich keine Sucht-Prädisposition habe?
Nicht nur theoretisch, auch praktisch. Es hängt vom körpereigenen Belohnungs-, vom Dopaminsystem ab. Man kann nicht jeden drogenabhängig machen; die Droge muss in einem prägenden Augenblick als starke Belohnung empfunden werden, es muss eine psychische Bedürfnissituation geben. Sie brauchen ein starkes Erlebnis — das tut mir jetzt gut, und dann werden Sie konditioniert im Suchtgedächtnis.

Man sagt, das Gehirn unterliege einem Deutungszwang, es müsse etwa in Wolken Muster erkennen. Ist die Suche nach dem Sinn des Lebens absurd, weil wir eh nur unserem biologischen Programm folgen? Gibt es gar keinen Sinn, müssen wir ihn aber suchen, weil unser Gehirn uns so konditioniert?
Wir haben ein elementares Bedürfnis nach Sinn. Auch einige Tiere haben das offenbar, zum Beispiel Schimpansen und Elefanten. Alles andere liegt im Unklaren. Dass die meisten Menschen an ein höheres Wesen glauben, also die Sehnsucht nach Gott, beweist weder seine Existenz noch seine Nichtexistenz. Wenn es Gott gäbe, könnte er uns die Sehnsucht eingegeben haben, das glauben religiöse Menschen, aber es könnte auch eine biologisch sinnvolle Einbildung sein. Für all die religiösen Erfahrungen hat man recht plausible naturwissenschaftliche Erklärungen. Man kann religiöse Zustände, plötzliche Erleuchtungen etwa, sogar experimentell induzieren. Es folgt nur nicht zwingend logisch daraus, dass es ein höheres Wesen nicht gibt, aber das werden wir Zeit unseres Lebens nicht erfahren. Ich halte es für sehr unwahrscheinlich, dass ein Leben nach dem Tod der konventionellen Paradiesvorstellung gleicht. Aber ich kann es nicht wie den Regen beweisen.

Bitte noch mal zurück zum Leben vor dem Leben, in die Embryonalphase: Warum kann sich mein Gehirn an diese Phase nicht erinnern?
Zumindest nicht bewusst. Damit bewusste Erinnerung möglich ist, müssen Hippocampus und Grosshirnrinde einen bestimmten Ausreifungszustand erreicht haben, den sie da noch nicht haben.

Aber welcher biologische Zweck steckt hinter dem Vergessen?
Es könnte ein Schutz sein oder einfach daran liegen, dass das Gehirn diese Verknüpfungen nicht schneller leisten kann. Der Mensch kommt unfertig auf die Welt. Er wächst extrem langsam, was den Vorteil hat, dass er lange Zeit plastisch ist. Lernfähig, weil sich sein Gehirn so langsam entwickelt. Man kann kein grosses, voll verdrahtetes Gehirn mit einem Jahr haben, das geht physiologisch nicht. Wir werden schlicht deshalb so früh geboren, weil unser Kopf mit unserem Gehirn noch durchs weibliche Becken gehen muss.

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