Das politische Buch
NZZ Online 16.05.2009
Wer macht das Rennen?
Christoph Seidler über den neuen kalten Krieg in der Arktis
Thomas Speckmann
Das politische Buch
«Ich habe heute die Staatsflagge der Vereinigten Staaten an dieser Stelle gehisst, die nach meinen Berechnungen die nordpolare Achse der Erde ist. Ich habe im Namen des Präsidenten der Vereinigten Staaten von Amerika förmlich von der ganzen Gegend und Umgebung Besitz ergriffen. Ich hinterlasse diese Urkunde und die Flagge der Vereinigten Staaten als Besitzzeichen. Robert E. Peary von der Marine der Vereinigten Staaten.» Seit dem 6. April 1909 liegt diese Botschaft in einer Glasflasche im nordpolaren Eis. Hundert Jahre sind seit dem amerikanischen Sieg beim Wettlauf zum Nordpol vergangen. Doch das Rennen ist erneut eröffnet, dieses Mal nicht zwischen todesmutigen Abenteurern, sondern zwischen den globalen Mächten. Öl und Gas winken als Trophäen.
16. Mai 2009, Neue Zürcher Zeitung
Das politische Buch
Wer macht das Rennen?
Christoph Seidler über den neuen kalten Krieg in der Arktis
Thomas Speckmann
Das politische Buch
«Ich habe heute die Staatsflagge der Vereinigten Staaten an dieser Stelle gehisst, die nach meinen Berechnungen die nordpolare Achse der Erde ist. Ich habe im Namen des Präsidenten der Vereinigten Staaten von Amerika förmlich von der ganzen Gegend und Umgebung Besitz ergriffen. Ich hinterlasse diese Urkunde und die Flagge der Vereinigten Staaten als Besitzzeichen. Robert E. Peary von der Marine der Vereinigten Staaten.» Seit dem 6. April 1909 liegt diese Botschaft in einer Glasflasche im nordpolaren Eis. Hundert Jahre sind seit dem amerikanischen Sieg beim Wettlauf zum Nordpol vergangen. Doch das Rennen ist erneut eröffnet, dieses Mal nicht zwischen todesmutigen Abenteurern, sondern zwischen den globalen Mächten. Öl und Gas winken als Trophäen.
Die USA sind nicht gut gerüstet
Wer wird das Rennen machen? Christoph Seidler sieht Russland in der Pole-Position. Und er selbst ist es auch: Der Wissenschaftsjournalist von «Spiegel Online» legt die erste deutschsprachige Darstellung des neuen «Great Game» am Nordpol vor. Ihr etwas reisserisch geratener Titel spiegelt erfreulicherweise nicht den Stil der Studie wider. In ihr geht es deutlich seriöser zu. Nüchtern und sachlich werden die Chancen der Kontrahenten ausgelotet.
Die Vereinigten Staaten scheinen vorerst abgeschlagen: «Wenn es ein Fünfnationenrennen um den Nordpol gibt, dann sind wir gerade mal Fünfter», zitiert Seidler den US-Küstenwachen-Admiral Gene Brooks. Denn nach der förmlichen Inbesitznahme vor einem Jahrhundert ist wenig auf amerikanischer Seite geschehen. Derzeit verfügen die USA, deren Marine so gross ist wie die siebzehn nächstkleineren Flotten anderer Staaten zusammengenommen, über gerade einmal drei Eisbrecher. Und auch in der neuen Strategie zur Arktis, die noch von der Bush-Administration in den letzten Tagen ihrer Amtszeit im Januar 2009 veröffentlicht wurde, findet sich kein konkreter Hinweis auf den Bau neuer Eisbrecher. Dabei könnten Öl und Gas aus dem hohen Norden den Vereinigten Staaten ein Stück jener ökonomischen Unabhängigkeit sichern, die sie nach ihren ernüchternden Erfahrungen im Nahen und Mittleren Osten ersehnen. Doch selbst wenn der Arktis unter Barack Obama eine grössere Priorität zukommen sollte: Der Bau neuer Eisbrecher und die Errichtung arktischer Öl- und Gasförderanlagen brauchen viel Zeit. Die Früchte einer aktiveren Arktispolitik könnten erst in zehn oder fünfzehn Jahren geerntet werden.
Russland hingegen hält nach Seidlers Analyse alle Trümpfe in der Hand: Moskau ist für einen Wettlauf in der Arktis gut gerüstet. Es verfügt nicht nur über tiefseefähige Tauchboote, sondern vor allem über ein halbes Dutzend grosser Eisbrecher, die jederzeit auf arktische Patrouillenfahrt gehen können. In den kommenden Jahren sollen drei bis vier atomgetriebene Schiffe hinzukommen. Auch die russische Infrastruktur in der Region ist – allen Problemen mit Abwanderung und Finanzschwächen zum Trotz – vergleichsweise gut ausgebaut: Während im kanadischen Hafenort Churchill heute lediglich tausend Menschen leben, hat das russische Murmansk noch immer rund dreihunderttausend Einwohner. Hinzu kommen weitere Hafenstädte entlang der nördlichen Küste, die teils per Bahn, teils über schiffbare Flüsse mit dem Binnenland verbunden sind. Seidler bringt das Dilemma des Westens auf den Punkt: «Russland muss gewiss einen grossen Teil seiner Infrastruktur im Norden wieder in Schuss bringen, doch Kanada zum Beispiel muss sie überhaupt erst aufbauen.»
Im Auftrag des norwegischen Schifffahrtsverbandes wagt das Beratungsunternehmen Econ Pöyry einen Blick in die Zukunft: Auf der politischen Bühne stehen sich drei grosse Handelsblöcke gegenüber: die Nordamerikanische Union unter Führung der USA, eine noch vergrösserte Europäische Union und die von China dominierte Zone des Asiatischen Handelsvertrages. U-Boote jagen durch das mittlerweile fast eisfreie Nordpolarmeer. Zwischen den Inseln Nordkanadas kreuzen amerikanische Kriegsschiffe. Von Freihandel, Klimaschutz und anderen lang debattierten politischen Zielen vom Anfang des Jahrtausends ist kaum mehr etwas zu spüren. Der Kampf um Ressourcen hat sich massiv verstärkt. Der Nahe Osten ist politisch noch instabiler als heute. Die Handelsblöcke haben sich nach alternativen Fördermöglichkeiten umgesehen. Allerdings kann jedes der drei Lager beinahe ausschliesslich auf Lieferungen aus dem eigenen Bereich der aufgeteilten Polarregion hoffen. In vielen Teilen der Arktis hat das Militär die Kontrolle übernommen.
Militärische Auseinandersetzungen?
Kann das «Arctic Great Game», so der Titel dieses norwegischen Gedankenspiels, friedlich gespielt oder beendet werden? Seidler scheint in seiner Skepsis nicht allein: Die britischen Kollegen der Zeitschrift «Jane's Intelligence Review» warnen vor der Gefahr von militärischen Auseinandersetzungen ab dem Jahr 2020. Die Stiftung Wissenschaft und Politik in Berlin hat ähnliche Befürchtungen: «Symbolische Machtdemonstrationen Russlands und anderer Staaten in der Arktis zeigen, dass Grossmachtkonkurrenz um Rohstoffe und Verkehrswege in den europäischen Raum zurückkehren könnten.»
Wie ernst derlei Szenarien genommen werden, zeigt allein die Aufrüstung von Norwegen und Kanada. Oslo will die modernste Küstenwache der Welt aufbauen. Ottawas Armee trainiert bereits regelmässig arktische Kampfeinsätze. Es scheint, als ob die Arktisanrainerstaaten es Robert E. Peary nachtun wollten. Er rief vor hundert Jahren: «Endlich am Pol. Der Preis von drei Jahrhunderten. Mein Traum und Ziel seit zwanzig Jahren. Endlich mein!»
Christoph Seidler: Arktisches Monopoly. Der Kampf um die Rohstoffe der Polarregion. Deutsche Verlagsanstalt, München 2009. 288 S., Fr. 34.90, € 19.95.
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Mittwoch, Mai 20, 2009
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