Die Schmiergeldkultur der Banken
Von Rudolf Strahm.
www.rudolfstrahm.ch
Rudolf Strahm war vier Jahre lang Preisüberwacher.
Den Geschäftsleuten ist es klar, Bürgerinnen und Bürgern auch. In Bern gehen den Verantwortlichen mit der üblichen Verzögerung allmählich auch die Augen auf: Im Geschäftsleben herrschen zwei ganz unterschiedliche Kulturen, nämlich eine Garantiekultur in der Realwirtschaft und eine Täuschungskultur im Finanzmarkt.
In der Realwirtschaft sind die Geschäftsregeln streng geworden: Wenn ein verkaufter Artikel mangelhaft ist, wird er ausgetauscht oder als Garantieleistung repariert. Viele Anbieter haben die Garantiedauer von 1 auf 2 Jahre ausgedehnt und sichern dem Kunden eine mehrjährige Ersatzteilgarantie zu. Im Detailhandel ist....
Die Schmiergeldkultur der Banken
Von Rudolf Strahm.
www.rudolfstrahm.ch
Rudolf Strahm war vier Jahre lang Preisüberwacher.
Den Geschäftsleuten ist es klar, Bürgerinnen und Bürgern auch. In Bern gehen den Verantwortlichen mit der üblichen Verzögerung allmählich auch die Augen auf: Im Geschäftsleben herrschen zwei ganz unterschiedliche Kulturen, nämlich eine Garantiekultur in der Realwirtschaft und eine Täuschungskultur im Finanzmarkt.
In der Realwirtschaft sind die Geschäftsregeln streng geworden: Wenn ein verkaufter Artikel mangelhaft ist, wird er ausgetauscht oder als Garantieleistung repariert. Viele Anbieter haben die Garantiedauer von 1 auf 2 Jahre ausgedehnt und sichern dem Kunden eine mehrjährige Ersatzteilgarantie zu. Im Detailhandel ist eine transparente Deklaration der Herkunft, der Zusatzstoffe, der Ablauffristen vorgeschrieben. Wenn in den Gestellen von Migros oder Coop ein Paket Haferflocken mit Maden oder eine Packung mit zerquetschten Hörnli auftauchen, ist dies bereits ein Reputationsrisiko. Wenn ein Kunde reklamiert, wird ihm anstandslos Ersatz geleistet.
Wenn Maschinen exportiert werden, garantiert der Exporteur die Installation vor Ort. Wenn Schäden entstehen, übernimmt er die Haftung. Bei Pannen schickt er den Monteur ins Ausland. Der Wettbewerb zwingt ihn zur Kundenorientierung und zur Pflege seiner Reputation. Selbst Schmiergeldzahlungen stehen dank Transparency International immer stärker unter Beobachtung.
Die Finanzmärkte sind anders. Seit den Neunzigerjahren haben sie eine Täuschungskultur entwickelt, die darauf abzielt, die Risiken und die Haftung voll auf den Kunden zu überwälzen. Man analysiere einmal die Begriffe in der Banken- und Finanzszene: Die «innovativen Finanzinstrumente» haben keinen andern Zweck, als die Anleger zu täuschen. Die Grossbanken köderten die Kunden mit «Capital Return Funds», mit «Kapitalschutzprodukten» also, die versprachen, man würde schlimmstenfalls den Zins aber nie das Kapital verlieren. Jetzt wissen wir, dass solche Anlagen bei den inzwischen geschlossenen Fonds den Kunden und Pensionskassen Verluste von 30 bis 40 Prozent brachten. Oder man sprach von «Securitization» («Sichermachen», Verbriefen), aber der Kunde erhielt nicht mehr Sicherheit, sondern mehr Kursrisiken. Oder man editierte «innovative Produkte» mit dem klingenden Namen «Collateralized Debt Obligation», was übersetzt so viel wie «Verbund-Schuld-Obligation» heisst und eine Risikostreuung und eine höhere Sicherheit vortäuscht. Diese Obligationen waren mit Ramsch-Aktien unterlegt, deren Herkunft und Zusammensetzung verschleiert werden sollten. Die Liste der Verschleierungstricks liesse sich beliebig verlängern.
Die absolute Fehlentwicklung erleben wir bei den Kickbacks, Retrozessionen und Provisionen, welche die Anlageberater und die Vermögensverwalter von den Banken und Fonds heimlich erhalten. Kickbacks verführen zu höherem Risiko bei Vermögensanlagen, und der Anleger weiss oft nichts davon. Während im normalen Geschäftsleben Artikel 400 des Obligationenrechts gilt, wonach der Beauftragte jederzeit seine Einnahmen aus dem Mandat offenlegen und dem Kunden gutschreiben muss, werden bei den Banken und Vermögensverwaltern weiterhin Kickbacks ohne Offenlegung ausbezahlt. Die Finma hat mit ihrer Richtlinie vom Januar 2009 diese OR-Bestimmung ausgehebelt, indem sie gleich fünf Ausnahmemöglichkeiten einbaute.
Die gesamte Summe wird auf 5 Milliarden Franken pro Jahr geschätzt. Die Finma beziffert sie auf 3,5 Milliarden Franken, was auch so enorm hoch ist und jedenfalls alle auf dem Finanzplatz Schweiz gesamthaft bezahlten Boni an Kader und Manager übertrifft. Bei einem Test von 18 Banken in der Schweiz durch das Wirtschaftsmagazin «Bilanz» haben praktisch alle getesteten Banken die Transparenzanforderungen bezüglich der Kickbacks nicht erfüllt. Sechs Banken haben dem beauftragten Anlageprofi sogar eine Beteiligung oder die diskrete Teilung der Retrozessionen angeboten. (Der Schreibende ist Mitglied der Jury dieses Anlagetests.) Man kann solche Praktiken nicht anders als eine «Schmiergeld»-Kultur bezeichnen, abgesegnet von der Finanzmarktaufsicht, deren Präsident in seinem Verständnis von Geschäftskultur kein Unrechtsbewusstsein plagt. Für ihn sind solche Provisionen Dienstleistungsentgelte.
Manche Akteure möchten nach dem Ende der Finanzkrise möglichst rasch die «Reset»-Taste drücken und dorthin zurückkehren, wo man vor dem Absturz gestanden ist. Doch es darf kein «Reset» geben. Bei der Kickback-Praxis sind Regeln des Gesetzgebers nötig, da die in Bankinteressen befangene Finma nicht Ordnung ins Geschäftsleben zu bringen vermag. Es braucht mehr anonyme Bankentests, ähnlich wie die Warentests beim Detailhandel. Es braucht Spielregeln zu den Boni als Damm gegen die psychopathologischen Verirrungen in Gier und Macht. Und es braucht mehr Mut der Wirtschaftspresse, gegenüber der Finanzwelt jene Kundenkultur durchzusetzen, die in der Realwirtschaft gilt, nämlich Redlichkeit, Garantiepflicht und Realitätsbezug. Ohne die Berichterstattung dieser Zeitung über die Lehman-Anlageopfer und deren schnöde Behandlung hätte sich die CS nie zu einer Teilentschädigung der Geschädigten herabgelassen.
Markus Hutter, der neu gewählte FDP-Vizepräsident, ein Unternehmer aus der Realwirtschaft, hat vor drei Tagen in dieser Zeitung die Misere recht mutig offen beim Namen genannt: «Das Verhältnis zwischen Werk- und Finanzplatz stimmt nicht mehr, da braucht es Korrekturen.» Wir warten gerne auf die Korrekturen aus Bern. (Tages-Anzeiger)
Erstellt: 29.06.2009, 23:08 Uhr
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Dienstag, Juni 30, 2009
Sonntag, Juni 28, 2009
TA Magazin: Roger de Weck - Kapitalismus als Religion
Kapitalismus als Religion
Nach der Fast-Kernschmelze des Finanzsystems erleben wir die Stunde der Ingenieure, die hier eine defekte Röhre ersetzen und dort ein Ventil. Doch der Kapitalismus muss sich von Grund auf erneuern, um das verspielte Vertrauen wiederherzustellen. Ein Essay in fünf Folgen
12.06.2009 von Roger de Weck
Im Nachlass des Philosophen Walter Benjamin fand sich ein Fragment aus dem Jahr 1921, erste Notizen zu einem unvollendeten Essay: «Im Kapitalismus ist eine Religion zu erblicken, das heisst der Kapitalismus dient essenziell der Befriedigung derselben Sorgen, Qualen, Unruhen, auf die ehemals die sogenannten Religionen Antwort gaben», schrieb Benjamin. Kapitalisten würden den Kult des Zweckmässigen auf die Spitze treiben: Das Nützlichkeitsdenken «gewinnt unter diesem Gesichtspunkt seine religiöse Färbung». Doch handle es sich um eine Religion «ohne Dogma», ganz ohne Theologie, da sich die Schar der Gläubigen immer nur an das halte, was jeweils gerade nützlich sei. Einzig und allein die Praxis zähle, es sei «eine reine Kultreligion, vielleicht die extremste, die es je gegeben hat».
Das Jahr 2009 hat den Visionär des Jahres 1921 nicht widerlegt. In der Krise hat der Kapitalismus seine drei wirtschaftsliberalen Dogmen...
Kapitalismus als Religion
Nach der Fast-Kernschmelze des Finanzsystems erleben wir die Stunde der Ingenieure, die hier eine defekte Röhre ersetzen und dort ein Ventil. Doch der Kapitalismus muss sich von Grund auf erneuern, um das verspielte Vertrauen wiederherzustellen. Ein Essay in fünf Folgen
12.06.2009 von Roger de Weck
Im Nachlass des Philosophen Walter Benjamin fand sich ein Fragment aus dem Jahr 1921, erste Notizen zu einem unvollendeten Essay: «Im Kapitalismus ist eine Religion zu erblicken, das heisst der Kapitalismus dient essenziell der Befriedigung derselben Sorgen, Qualen, Unruhen, auf die ehemals die sogenannten Religionen Antwort gaben», schrieb Benjamin. Kapitalisten würden den Kult des Zweckmässigen auf die Spitze treiben: Das Nützlichkeitsdenken «gewinnt unter diesem Gesichtspunkt seine religiöse Färbung». Doch handle es sich um eine Religion «ohne Dogma», ganz ohne Theologie, da sich die Schar der Gläubigen immer nur an das halte, was jeweils gerade nützlich sei. Einzig und allein die Praxis zähle, es sei «eine reine Kultreligion, vielleicht die extremste, die es je gegeben hat».
Das Jahr 2009 hat den Visionär des Jahres 1921 nicht widerlegt. In der Krise hat der Kapitalismus seine drei wirtschaftsliberalen Dogmen — weniger Regeln, weniger Staat, weniger Rücksicht auf Verlierer — so schnell und bedenkenlos beseitigt, dass im Nachhinein klar wird: Diese Dogmen waren gar keine, sie bemäntelten nackte Interessen. Und die Interessenlage hat sich bei Ausbruch der Finanzkrise schlagartig verändert. Regulierung gilt nicht mehr als Strangulierung, der jüngst noch geschmähte Staat ist Tag und Nacht gefragt, während die Geldhäuser als Hauptverlierer (und Hauptverursacher) der Krise Schonung erwarten und erhalten. Der Staat finanziert das Finanzsystem, die öffentliche Hand hat die unsichtbare Hand des Markts abgelöst. So mutiert der Kasino- zum Staatskapitalismus, der Neoliberalismus mündet unverhofft in den Neoetatismus. Trotz gewaltiger Wirtschafts- und Wertekrise ist bislang freilich kein Anbeter des Kapitalismus vom Glauben abgefallen: weil es keinen anderen Glauben gibt. So wie der Atheist unfähig wäre, eine Religion zu begründen, so sind heutige Antikapitalisten in der grossen Verlegenheit, das System zu kritisieren, aber kein eigenes zu haben.
«Seit die sozialistische Alternative nicht mehr verfügbar ist, glaubt diese Gesellschaft an den Kapitalismus. Sie glaubt, dass er ihr Schicksal ist. Und sie glaubt, dass er die einzige Chance ist, ihr Schicksal zu gestalten», schrieb der in Basel wohnhafte Soziologe Dirk Baecker im Sammelband «Kapitalismus als Religion», den er 2003 herausgab. Nur vier Jahre später schlug das ziemlich hausgemachte Schicksal zu, und seither wird am Kapitalismus gebastelt. Es ist die Stunde der Ingenieure, die nach der Kernschmelze des Finanzsystems das Kraftwerk sanieren und erst einmal den GAU abwenden sollen. Also wird da eine undichte Röhre ersetzt, dort eine Leitung umgelegt, hier baut man Ventile ein, links soll eine neue Kontrollstation hin, rechts werden Sicherungen ausgetauscht, hüben ist eine Brandmauer im Bau, drüben ist noch Platz für einen Überlaufbehälter. Der eine Techniker will diesen Hebel betätigen, der andere jenen Hahn ab-drehen — ein hektisches Werkeln ohne Ordnungsprinzip.
Kapitalistisches Manifest
Dabei muss sich der Kapitalismus von Grund auf erneuern, um das verspielte Vertrauen wiederherzustellen. Finanztechnische Anpassungen werden nicht reichen, nötig ist eine umfassende «Reformation» (so wie Martin Luther, Jean Calvin und die anderen Reformatoren einst antraten, das morsche Christentum um-zukrempeln, zu dem es damals auch keine Alternative gab). Mit klügeren Vorschriften über die erforderlichen Eigenmittel der Banken, mit einer Aufsicht über Hedge-Fonds und sonstige Berufsspekulanten, mit technokratischen Vorkehrungen ist es nicht getan. Doch heute hegen viele genau diese Hoffnung: dass der Kapitalismus mit einer leicht revidierten Marktordnung zur Tagesordnung zurückkehren werde. Weiter wie bisher, nur ein bisschen vorsichtiger, weniger prahlerisch, eine Spur moralischer — das ist die Losung derer, die vor der Krise dermassen viel verdienten, dass sie gar nicht daran denken mögen, sich nach der Krise mit drei statt dreissig Prozent Rendite zu begnügen.
«Wodurch überwindet die Bourgeoisie ihre Krisen?», fragte Karl Marx 1848: «Dadurch, dass sie allseitigere und gewaltigere Krisen vorbereitet und die Mittel, den Krisen vorzubeugen, vermindert.» In der Tat ist das im Jahr 2009 das ungeschriebene «Kapitalistische Manifest»: Die Regierungen wollen und müssen die Überschuldungskrise durch weitere Verschuldung überwinden — gar nicht so anders als Bernie Madoff mit seinem Schneeballsystem. Das anhaltende Debakel der Finanzwelt hat ökonomische und mentale Ursachen.
Einerseits wollten Exportländer wie China, Japan, Deutschland, die Niederlande oder die Schweiz unbedingt Überschüsse erzielen, während die USA nur zu gern auf Pump lebten (wobei es ein Rätsel bleibt, dass europäische Sparapostel jahrelang das verschwenderische Amerika als Vorbild hinstellten). Das ganze Land, der amerikanische Staat und die privaten Haushalte verschuldeten sich unmässig, bis Mitte 2007 das Vertrauen schwand: das Vertrauen der ausländischen Geldgeber und schlimmer noch das Vertrauen in diese ausländischen Geldgeber, etwa in die UBS oder die deutsche Immobilienbank Hypo Real Estate, die blind den US-Häusermarkt finanziert hatten. Die Schuldenkrise zieht jetzt Abermilliarden weitere Staatsschulden nach sich. Anstelle der Bankchefs sind die Regierungschefs nun die Croupiers im Kasino.
Andererseits galt während dreier Jahrzehnte (von der Wahl der ultraliberalen Margaret Thatcher zur britischen Premierministerin 1979 bis zum Londoner G-20-Gipfeltreffen 2009, der das Ende des Ultraliberalismus besiegelte) eine Ideologie des übersteigerten Eigennutzes. Sie legitimierte, noch stärker als einst der Kolonialismus, die schiere Gier. Und da diese Gier bald sämtliche Dimensionen sprengte, wurde sie virtuell: An der Börse und auf den zügellosen Finanzmärkten war es der Sieg der Fantasie über die Substanz. Die besten Adressen verkauften «strukturierte» Fantasieprodukte. Kapitalismus und Kapitalisten entfernten sich nicht nur von der Realwirtschaft, sondern von der Realität.
Ambivalente Freiheit
Hinter all dem stand die Mutter aller Deregulierungen, die diese zwei Fehlentwicklungen ermöglichte: der Abbau fast aller Behinderungen und Kontrollen der weltweiten Kapitalströme. Das war zunächst ein Segen. Die neue Freiheit des Kapitals,überallhin zu schnellen, wo gute Geschäf-te winken, verhalf vor allem China und auch anderen Schwellenländern zu einem Wachstumsschub. Dort gediehen junge Unternehmen und eine Mittelschicht, die zuvor mangels Geld keine Chance gehabt hätten. Der Fluch aber war, dass der Kapitalismus aus dem Lot geriet. Immer mehr Kapital floss ins Kasino statt in den Auf- und Ausbau von Volkswirtschaften. Viele Regierungen förderten den Wahnsinn — indem sie die im Kasino erzielten Gewinne nicht länger besteuerten.
Trotz seinem Namen lebt dieser Kapitalismus ja nicht nur vom «Produktionsfaktor Kapital», wie es im Jargon der Ökonomen heisst, sondern ebenso sehr vom «Produktionsfaktor Arbeit». Um Güter herzustellen oder Dienstleistungen zu erbringen, braucht eine Firma sowohl Mitarbeiter als auch Geld. Sobald die Kontrollen des Kapitalverkehrs wegfielen, wurde das Geld mobiler als die Mitarbeiter. Das beweglich gewordene Kapital strömte am liebsten dorthin, wo es wenig oder gar nicht mehr besteuert wurde. Um Kapital und Kapitalisten anzulocken, verringerten oder beseitigten viele Staaten die Steuern aufs Kapital, namentlich die Kapitalgewinn-, Spekulations-, Erbschafts- und Vermögenssteuern. Zudem begünstigten Steueroasen die Steuerflucht. Kapitaleinkünfte wurden je länger, desto massiver entlastet, während der Fiskus die Arbeitseinkommen — also die Löhne und Gehälter, die ja schwerlich ins Ausland ausweichen konnten — verhältnismässig hoch belastete.
Verhärtung
All dies stärkte den Produktionsfaktor Kapital gegenüber dem Produktionsfaktor Arbeit (und beschleunigte den Niedergang der Gewerkschaften). Dreh- und Angelpunkt des Kapitalismus war nicht länger die bodenständige Industrie, sondern die Finanz mit ihren abgehobenen «Masters of the Universe». Und diese setzten sich für die Rendite aufs eigene Kapital vermessene Ziele: bis zu dreissig Prozent Erlös pro Jahr, manchmal mehr. Eine solche Messlatte veränderte die Volkswirtschaften. Branchen, die zwar solide arbeiten, aber weniger gewinnträchtig sind, mussten unter dem Druck von Banken und «Heuschrecken» besser rentieren. Brutale Sparprogramme, die oft an die Substanz gingen, aber die Fantasie der Börsianer beflügelten, waren nicht länger die Ausnahme — sie wurden zur Regel.
Der Kapitalismus verhärtete sich, zumal seit 1989 der äussere Druck ausblieb, für eine halbwegs ausgeglichene Gesellschaft zu sorgen. Nach dem Mauerfall, dem Wegfall der Sowjetunion und dem Hinfall des real existierenden Sozialismus bestand für die Oberschicht keine Gefahr mehr, dass unzufriedene Bürgerinnen und Bürger «zu den Kommunisten überlaufen» würden. Also durfte die soziale Marktwirtschaft etwas unsozialer werden, erst recht, wenn sie sich gegen aufstrebende Billiglohnländer behaupten musste, denen der soziale und der ökologische Gedanke (noch) fremd war. Der Wettlauf der Staaten um niedrigere Kapital- und Unternehmenssteuern bewirkte ohnehin eine Umverteilung von unten nach oben: von den Arbeitnehmern zu den Kapitalgebern und ihren Topmanagern, die selber Kapitalisten werden wollten. So hegten und pflegten viele Regierungen diese «globale Klasse» (Ralf Dahrendorf). Auch die öffentliche Hand bot Managern und Investoren einen «Bonus» in verschiedener Gestalt: Steuerpauschalen für Superreiche, Steuergeschenke an viel reisende Geschäftsleute (die, in London wohnhaft, nur für diejenigen Tage Steuern zahlen, die sie in der Stadt verbringen), Steuerrabatte für Hedge-Fonds-Manager, clevere Steuermodelle und sonstige Möglichkeiten der Steuervermeidung oder schlicht der Hinterziehung.
Ultraliberale, regelrecht staatsfeindliche Ideologen rechtfertigten den überhandnehmenden Steuerwettbewerb, der ja das Gegenteil eines liberalen Leistungswettbewerbs ist, mit zwei Argumenten.
Erstens: Je weniger der Staat das Kapital besteuere, desto mehr Geld bleibe übrig, welches in Unternehmen investiert werde; das schaffe Arbeitsplätze und Wohlstand. Freilich strömte ein wachsender Teil dieses Gelds in die Spekulation. Die Marktwirtschaft verkam zur Blasenwirtschaft. 1990 platzte in Japan die Immobilienblase, 1997 die Blase der fernöstlichen «Tiger-Staaten» wie Südkorea, 2000 die New-Economy- oder Dotcom-Blase und 2007 die Subprime-Blase. Zuletzt verirrte sich das überschüssige, allzu billig gewordene Geld in den Bau von Einfamilienhäusern, deren amerikanische «Eigentümer» nicht einen Cent eigenes Kapital hatten.
Zweitens: Der Staat sei ein grosser Geldverschwender; es sei gesund, ihn knapp bei Kasse zu halten, sagten die Ultraliberalen (und sagen es noch immer, obwohl sich die Finanzwelt als grössere Geldverschwenderin erwiesen hat). Jedenfalls sorge der Steuerwettbewerb dafür, dass die öffentliche Hand nicht aus dem Vollen schöpfe, sondern haushalten müsse, lautete ihre Theorie. Doch in der Praxis — im real existierenden Kapitalismus — kamen neue Kosten auf den Staat zu, auch die Globalisierung bürdete ihm zusätzliche Aufgaben auf.
Verschlankung
Weil der weltweite Wettbewerb unerbittlich wurde, mussten sich unzählige Unternehmen «verschlanken». Sie entliessen nach und nach ihre weniger produktiven Mitarbeiter, die nicht selten bei der Arbeitslosenversicherung oder später bei der Sozialhilfe landeten. Um die Wettbewerbskraft der eigenen Volkswirtschaft im globalen Kräftemessen zu erhalten, sollte der überforderte Staat ausserdem die Infrastruktur modernisieren, das Bildungswesen ausbauen, die Forschung stärker fördern. Unsummen verschlang das politische Pendant zur Globalisierung der Märkte, nämlich der amerikanische Wille zu globaler Vorherrschaft: ruinös die Kriege im Mittleren Osten und die Doktrin, wonach die US-Streitkräfte stärker sein sollen als alle anderen Armeen der Welt zusammen. Mit der Globalisierung ging auch eine neue Welle von Zuwanderern einher, deren Integration aufwendig bleibt. Noch kostenträchtiger waren ganz andere Entwicklungen der Gesellschaft, namentlich ihre Alterung, die ungeahnten Fortschritte der Medizin und der Boom der Gesundheitsversorgung. Westliche Staaten brauchten und verbrauchten nicht weniger, sondern tendenziell mehr Geld. Das bestärkte die Ultraliberalen in ihrer Staatsfeindlichkeit und in ihrem Willen, den internationa-len Steuerwettbewerb anzuheizen — um den bösen Stiefvater Staat doch noch auszuzehren.
Der Kampf gegen Staatsdefizite beherrschte lang die europäische Debatte. Und jetzt? Ultraliberale fordern, der nun wirklich hochdefizitär gewordene Staat, dem die Finanzwelt Riesenschulden und eine bleierne Wirtschaftskrise aufbürdete, solle unverdrossen die Steuern senken: um die Konjunktur anzukurbeln. In Zürich — seit den frühen Siebzigerjahren ein Hort des Ultraliberalismus — will die bürgerliche Mehrheit mitten in der Krise die Steuersätze für Spitzenverdiener verringern. Ob es gut geht oder sehr schlecht, immerzu findet sich eine Rechtfertigung für das Allheilmittel Steuerabbau. Doch wer wird eines Tages diese Riesenschulden abtragen? Vorwiegend die Arbeitnehmer. Dabei müssten die Vermögenden ihren angemessenen Beitrag leisten. Das geht aber nur, wenn die Steuern auf das Kapital wieder erhöht beziehungsweise wieder eingeführt werden (was internationale Absprachen zur Mässigung des Steuerwettbewerbs voraussetzt). Sonst wird die Masse der Lohnempfänger die Zeche zahlen.
Die breite Mittelschicht wird die Kosten der Krise tragen, solange sich der Staat mehr und mehr aus den Arbeitseinkünften finanziert und ohnehin die Abgaben auf die Arbeit laufend erhöhen muss: die Sozialabgaben. Die Wirtschaftskrise trägt dazu bei, Sozialversicherungen weiter auszuhöhlen. Mehr Lohnprozente für schlechtere Leistungen der Arbeitslosen-, der Pensions- und erst recht der Krankenkassen — das war schon vor dem Krach die Tendenz, jetzt verstärkt sie sich.
Wenn zusehends die Arbeitnehmer das Gemeinwesen finanzieren, während der Staat einen happigen Teil der Verluste von Kapitalgebern sozialisiert, dann hinkt der Kapitalismus. Das Gleichgewicht zwischen Arbeit und Kapital ist nicht nur ein soziales Gebot, sondern vor allem ein ökonomisches: Wird — wie heute — der eine Produktionsfaktor gegenüber dem anderen systematisch privilegiert, gerät die Volkswirtschaft in Schieflage. Und die Gesellschaft erst recht. Angestellte und Arbeiter ziehen aber auch dann den Kürzeren, wenn nach der Schuldenkrise der Abbau der «Krisenschulden» über eine hohe Inflation erfolgt und die Geldentwertung ihre Ersparnisse, ihre Pensionen dezimiert. Fährt der Kapitalismus fort, das Kapital zu bevorzugen und die Arbeit zu benachteiligen, wird er wirtschaftlich und politisch noch krisenanfälliger. Die Krise des Kapitals kann kapitale Staatskrisen hervorrufen.
Zwischenergebnis 1
Ein verantwortlicher Kapitalismus braucht: Mechanismen der Mässigung von Gier; ein besseres Gleichgewicht zwischen Kapital und Arbeit und namentlich den Abbau steuerlicher Privilegien für das Kapital; Schranken für den Steuerwettbewerb, der die Staaten auszehrt; eine Abkehr vom Defizitdenken in den Vereinigten Staaten und — weil per Definition die Defizite der einen die Überschüsse der anderen ausmachen — ein Ende der trügerischen Sucht nach Überschüssen in Asien und Europa.
Nächste Folge: Markt ist Macht
Roger de Weck ist Publizist und schreibt regelmässig für «Das Magazin». Dieser Text ist Teil eines Buchprojekts, das unter dem Titel «Gibt es einen anderen Kapitalismus?» erscheinen wird. «Das Magazin» publiziert in loser Folge Auszüge, der nächste Teil wird sich mit dem Thema «Markt ist Macht» beschäftigen.
Nach der Fast-Kernschmelze des Finanzsystems erleben wir die Stunde der Ingenieure, die hier eine defekte Röhre ersetzen und dort ein Ventil. Doch der Kapitalismus muss sich von Grund auf erneuern, um das verspielte Vertrauen wiederherzustellen. Ein Essay in fünf Folgen
12.06.2009 von Roger de Weck
Im Nachlass des Philosophen Walter Benjamin fand sich ein Fragment aus dem Jahr 1921, erste Notizen zu einem unvollendeten Essay: «Im Kapitalismus ist eine Religion zu erblicken, das heisst der Kapitalismus dient essenziell der Befriedigung derselben Sorgen, Qualen, Unruhen, auf die ehemals die sogenannten Religionen Antwort gaben», schrieb Benjamin. Kapitalisten würden den Kult des Zweckmässigen auf die Spitze treiben: Das Nützlichkeitsdenken «gewinnt unter diesem Gesichtspunkt seine religiöse Färbung». Doch handle es sich um eine Religion «ohne Dogma», ganz ohne Theologie, da sich die Schar der Gläubigen immer nur an das halte, was jeweils gerade nützlich sei. Einzig und allein die Praxis zähle, es sei «eine reine Kultreligion, vielleicht die extremste, die es je gegeben hat».
Das Jahr 2009 hat den Visionär des Jahres 1921 nicht widerlegt. In der Krise hat der Kapitalismus seine drei wirtschaftsliberalen Dogmen...
Kapitalismus als Religion
Nach der Fast-Kernschmelze des Finanzsystems erleben wir die Stunde der Ingenieure, die hier eine defekte Röhre ersetzen und dort ein Ventil. Doch der Kapitalismus muss sich von Grund auf erneuern, um das verspielte Vertrauen wiederherzustellen. Ein Essay in fünf Folgen
12.06.2009 von Roger de Weck
Im Nachlass des Philosophen Walter Benjamin fand sich ein Fragment aus dem Jahr 1921, erste Notizen zu einem unvollendeten Essay: «Im Kapitalismus ist eine Religion zu erblicken, das heisst der Kapitalismus dient essenziell der Befriedigung derselben Sorgen, Qualen, Unruhen, auf die ehemals die sogenannten Religionen Antwort gaben», schrieb Benjamin. Kapitalisten würden den Kult des Zweckmässigen auf die Spitze treiben: Das Nützlichkeitsdenken «gewinnt unter diesem Gesichtspunkt seine religiöse Färbung». Doch handle es sich um eine Religion «ohne Dogma», ganz ohne Theologie, da sich die Schar der Gläubigen immer nur an das halte, was jeweils gerade nützlich sei. Einzig und allein die Praxis zähle, es sei «eine reine Kultreligion, vielleicht die extremste, die es je gegeben hat».
Das Jahr 2009 hat den Visionär des Jahres 1921 nicht widerlegt. In der Krise hat der Kapitalismus seine drei wirtschaftsliberalen Dogmen — weniger Regeln, weniger Staat, weniger Rücksicht auf Verlierer — so schnell und bedenkenlos beseitigt, dass im Nachhinein klar wird: Diese Dogmen waren gar keine, sie bemäntelten nackte Interessen. Und die Interessenlage hat sich bei Ausbruch der Finanzkrise schlagartig verändert. Regulierung gilt nicht mehr als Strangulierung, der jüngst noch geschmähte Staat ist Tag und Nacht gefragt, während die Geldhäuser als Hauptverlierer (und Hauptverursacher) der Krise Schonung erwarten und erhalten. Der Staat finanziert das Finanzsystem, die öffentliche Hand hat die unsichtbare Hand des Markts abgelöst. So mutiert der Kasino- zum Staatskapitalismus, der Neoliberalismus mündet unverhofft in den Neoetatismus. Trotz gewaltiger Wirtschafts- und Wertekrise ist bislang freilich kein Anbeter des Kapitalismus vom Glauben abgefallen: weil es keinen anderen Glauben gibt. So wie der Atheist unfähig wäre, eine Religion zu begründen, so sind heutige Antikapitalisten in der grossen Verlegenheit, das System zu kritisieren, aber kein eigenes zu haben.
«Seit die sozialistische Alternative nicht mehr verfügbar ist, glaubt diese Gesellschaft an den Kapitalismus. Sie glaubt, dass er ihr Schicksal ist. Und sie glaubt, dass er die einzige Chance ist, ihr Schicksal zu gestalten», schrieb der in Basel wohnhafte Soziologe Dirk Baecker im Sammelband «Kapitalismus als Religion», den er 2003 herausgab. Nur vier Jahre später schlug das ziemlich hausgemachte Schicksal zu, und seither wird am Kapitalismus gebastelt. Es ist die Stunde der Ingenieure, die nach der Kernschmelze des Finanzsystems das Kraftwerk sanieren und erst einmal den GAU abwenden sollen. Also wird da eine undichte Röhre ersetzt, dort eine Leitung umgelegt, hier baut man Ventile ein, links soll eine neue Kontrollstation hin, rechts werden Sicherungen ausgetauscht, hüben ist eine Brandmauer im Bau, drüben ist noch Platz für einen Überlaufbehälter. Der eine Techniker will diesen Hebel betätigen, der andere jenen Hahn ab-drehen — ein hektisches Werkeln ohne Ordnungsprinzip.
Kapitalistisches Manifest
Dabei muss sich der Kapitalismus von Grund auf erneuern, um das verspielte Vertrauen wiederherzustellen. Finanztechnische Anpassungen werden nicht reichen, nötig ist eine umfassende «Reformation» (so wie Martin Luther, Jean Calvin und die anderen Reformatoren einst antraten, das morsche Christentum um-zukrempeln, zu dem es damals auch keine Alternative gab). Mit klügeren Vorschriften über die erforderlichen Eigenmittel der Banken, mit einer Aufsicht über Hedge-Fonds und sonstige Berufsspekulanten, mit technokratischen Vorkehrungen ist es nicht getan. Doch heute hegen viele genau diese Hoffnung: dass der Kapitalismus mit einer leicht revidierten Marktordnung zur Tagesordnung zurückkehren werde. Weiter wie bisher, nur ein bisschen vorsichtiger, weniger prahlerisch, eine Spur moralischer — das ist die Losung derer, die vor der Krise dermassen viel verdienten, dass sie gar nicht daran denken mögen, sich nach der Krise mit drei statt dreissig Prozent Rendite zu begnügen.
«Wodurch überwindet die Bourgeoisie ihre Krisen?», fragte Karl Marx 1848: «Dadurch, dass sie allseitigere und gewaltigere Krisen vorbereitet und die Mittel, den Krisen vorzubeugen, vermindert.» In der Tat ist das im Jahr 2009 das ungeschriebene «Kapitalistische Manifest»: Die Regierungen wollen und müssen die Überschuldungskrise durch weitere Verschuldung überwinden — gar nicht so anders als Bernie Madoff mit seinem Schneeballsystem. Das anhaltende Debakel der Finanzwelt hat ökonomische und mentale Ursachen.
Einerseits wollten Exportländer wie China, Japan, Deutschland, die Niederlande oder die Schweiz unbedingt Überschüsse erzielen, während die USA nur zu gern auf Pump lebten (wobei es ein Rätsel bleibt, dass europäische Sparapostel jahrelang das verschwenderische Amerika als Vorbild hinstellten). Das ganze Land, der amerikanische Staat und die privaten Haushalte verschuldeten sich unmässig, bis Mitte 2007 das Vertrauen schwand: das Vertrauen der ausländischen Geldgeber und schlimmer noch das Vertrauen in diese ausländischen Geldgeber, etwa in die UBS oder die deutsche Immobilienbank Hypo Real Estate, die blind den US-Häusermarkt finanziert hatten. Die Schuldenkrise zieht jetzt Abermilliarden weitere Staatsschulden nach sich. Anstelle der Bankchefs sind die Regierungschefs nun die Croupiers im Kasino.
Andererseits galt während dreier Jahrzehnte (von der Wahl der ultraliberalen Margaret Thatcher zur britischen Premierministerin 1979 bis zum Londoner G-20-Gipfeltreffen 2009, der das Ende des Ultraliberalismus besiegelte) eine Ideologie des übersteigerten Eigennutzes. Sie legitimierte, noch stärker als einst der Kolonialismus, die schiere Gier. Und da diese Gier bald sämtliche Dimensionen sprengte, wurde sie virtuell: An der Börse und auf den zügellosen Finanzmärkten war es der Sieg der Fantasie über die Substanz. Die besten Adressen verkauften «strukturierte» Fantasieprodukte. Kapitalismus und Kapitalisten entfernten sich nicht nur von der Realwirtschaft, sondern von der Realität.
Ambivalente Freiheit
Hinter all dem stand die Mutter aller Deregulierungen, die diese zwei Fehlentwicklungen ermöglichte: der Abbau fast aller Behinderungen und Kontrollen der weltweiten Kapitalströme. Das war zunächst ein Segen. Die neue Freiheit des Kapitals,überallhin zu schnellen, wo gute Geschäf-te winken, verhalf vor allem China und auch anderen Schwellenländern zu einem Wachstumsschub. Dort gediehen junge Unternehmen und eine Mittelschicht, die zuvor mangels Geld keine Chance gehabt hätten. Der Fluch aber war, dass der Kapitalismus aus dem Lot geriet. Immer mehr Kapital floss ins Kasino statt in den Auf- und Ausbau von Volkswirtschaften. Viele Regierungen förderten den Wahnsinn — indem sie die im Kasino erzielten Gewinne nicht länger besteuerten.
Trotz seinem Namen lebt dieser Kapitalismus ja nicht nur vom «Produktionsfaktor Kapital», wie es im Jargon der Ökonomen heisst, sondern ebenso sehr vom «Produktionsfaktor Arbeit». Um Güter herzustellen oder Dienstleistungen zu erbringen, braucht eine Firma sowohl Mitarbeiter als auch Geld. Sobald die Kontrollen des Kapitalverkehrs wegfielen, wurde das Geld mobiler als die Mitarbeiter. Das beweglich gewordene Kapital strömte am liebsten dorthin, wo es wenig oder gar nicht mehr besteuert wurde. Um Kapital und Kapitalisten anzulocken, verringerten oder beseitigten viele Staaten die Steuern aufs Kapital, namentlich die Kapitalgewinn-, Spekulations-, Erbschafts- und Vermögenssteuern. Zudem begünstigten Steueroasen die Steuerflucht. Kapitaleinkünfte wurden je länger, desto massiver entlastet, während der Fiskus die Arbeitseinkommen — also die Löhne und Gehälter, die ja schwerlich ins Ausland ausweichen konnten — verhältnismässig hoch belastete.
Verhärtung
All dies stärkte den Produktionsfaktor Kapital gegenüber dem Produktionsfaktor Arbeit (und beschleunigte den Niedergang der Gewerkschaften). Dreh- und Angelpunkt des Kapitalismus war nicht länger die bodenständige Industrie, sondern die Finanz mit ihren abgehobenen «Masters of the Universe». Und diese setzten sich für die Rendite aufs eigene Kapital vermessene Ziele: bis zu dreissig Prozent Erlös pro Jahr, manchmal mehr. Eine solche Messlatte veränderte die Volkswirtschaften. Branchen, die zwar solide arbeiten, aber weniger gewinnträchtig sind, mussten unter dem Druck von Banken und «Heuschrecken» besser rentieren. Brutale Sparprogramme, die oft an die Substanz gingen, aber die Fantasie der Börsianer beflügelten, waren nicht länger die Ausnahme — sie wurden zur Regel.
Der Kapitalismus verhärtete sich, zumal seit 1989 der äussere Druck ausblieb, für eine halbwegs ausgeglichene Gesellschaft zu sorgen. Nach dem Mauerfall, dem Wegfall der Sowjetunion und dem Hinfall des real existierenden Sozialismus bestand für die Oberschicht keine Gefahr mehr, dass unzufriedene Bürgerinnen und Bürger «zu den Kommunisten überlaufen» würden. Also durfte die soziale Marktwirtschaft etwas unsozialer werden, erst recht, wenn sie sich gegen aufstrebende Billiglohnländer behaupten musste, denen der soziale und der ökologische Gedanke (noch) fremd war. Der Wettlauf der Staaten um niedrigere Kapital- und Unternehmenssteuern bewirkte ohnehin eine Umverteilung von unten nach oben: von den Arbeitnehmern zu den Kapitalgebern und ihren Topmanagern, die selber Kapitalisten werden wollten. So hegten und pflegten viele Regierungen diese «globale Klasse» (Ralf Dahrendorf). Auch die öffentliche Hand bot Managern und Investoren einen «Bonus» in verschiedener Gestalt: Steuerpauschalen für Superreiche, Steuergeschenke an viel reisende Geschäftsleute (die, in London wohnhaft, nur für diejenigen Tage Steuern zahlen, die sie in der Stadt verbringen), Steuerrabatte für Hedge-Fonds-Manager, clevere Steuermodelle und sonstige Möglichkeiten der Steuervermeidung oder schlicht der Hinterziehung.
Ultraliberale, regelrecht staatsfeindliche Ideologen rechtfertigten den überhandnehmenden Steuerwettbewerb, der ja das Gegenteil eines liberalen Leistungswettbewerbs ist, mit zwei Argumenten.
Erstens: Je weniger der Staat das Kapital besteuere, desto mehr Geld bleibe übrig, welches in Unternehmen investiert werde; das schaffe Arbeitsplätze und Wohlstand. Freilich strömte ein wachsender Teil dieses Gelds in die Spekulation. Die Marktwirtschaft verkam zur Blasenwirtschaft. 1990 platzte in Japan die Immobilienblase, 1997 die Blase der fernöstlichen «Tiger-Staaten» wie Südkorea, 2000 die New-Economy- oder Dotcom-Blase und 2007 die Subprime-Blase. Zuletzt verirrte sich das überschüssige, allzu billig gewordene Geld in den Bau von Einfamilienhäusern, deren amerikanische «Eigentümer» nicht einen Cent eigenes Kapital hatten.
Zweitens: Der Staat sei ein grosser Geldverschwender; es sei gesund, ihn knapp bei Kasse zu halten, sagten die Ultraliberalen (und sagen es noch immer, obwohl sich die Finanzwelt als grössere Geldverschwenderin erwiesen hat). Jedenfalls sorge der Steuerwettbewerb dafür, dass die öffentliche Hand nicht aus dem Vollen schöpfe, sondern haushalten müsse, lautete ihre Theorie. Doch in der Praxis — im real existierenden Kapitalismus — kamen neue Kosten auf den Staat zu, auch die Globalisierung bürdete ihm zusätzliche Aufgaben auf.
Verschlankung
Weil der weltweite Wettbewerb unerbittlich wurde, mussten sich unzählige Unternehmen «verschlanken». Sie entliessen nach und nach ihre weniger produktiven Mitarbeiter, die nicht selten bei der Arbeitslosenversicherung oder später bei der Sozialhilfe landeten. Um die Wettbewerbskraft der eigenen Volkswirtschaft im globalen Kräftemessen zu erhalten, sollte der überforderte Staat ausserdem die Infrastruktur modernisieren, das Bildungswesen ausbauen, die Forschung stärker fördern. Unsummen verschlang das politische Pendant zur Globalisierung der Märkte, nämlich der amerikanische Wille zu globaler Vorherrschaft: ruinös die Kriege im Mittleren Osten und die Doktrin, wonach die US-Streitkräfte stärker sein sollen als alle anderen Armeen der Welt zusammen. Mit der Globalisierung ging auch eine neue Welle von Zuwanderern einher, deren Integration aufwendig bleibt. Noch kostenträchtiger waren ganz andere Entwicklungen der Gesellschaft, namentlich ihre Alterung, die ungeahnten Fortschritte der Medizin und der Boom der Gesundheitsversorgung. Westliche Staaten brauchten und verbrauchten nicht weniger, sondern tendenziell mehr Geld. Das bestärkte die Ultraliberalen in ihrer Staatsfeindlichkeit und in ihrem Willen, den internationa-len Steuerwettbewerb anzuheizen — um den bösen Stiefvater Staat doch noch auszuzehren.
Der Kampf gegen Staatsdefizite beherrschte lang die europäische Debatte. Und jetzt? Ultraliberale fordern, der nun wirklich hochdefizitär gewordene Staat, dem die Finanzwelt Riesenschulden und eine bleierne Wirtschaftskrise aufbürdete, solle unverdrossen die Steuern senken: um die Konjunktur anzukurbeln. In Zürich — seit den frühen Siebzigerjahren ein Hort des Ultraliberalismus — will die bürgerliche Mehrheit mitten in der Krise die Steuersätze für Spitzenverdiener verringern. Ob es gut geht oder sehr schlecht, immerzu findet sich eine Rechtfertigung für das Allheilmittel Steuerabbau. Doch wer wird eines Tages diese Riesenschulden abtragen? Vorwiegend die Arbeitnehmer. Dabei müssten die Vermögenden ihren angemessenen Beitrag leisten. Das geht aber nur, wenn die Steuern auf das Kapital wieder erhöht beziehungsweise wieder eingeführt werden (was internationale Absprachen zur Mässigung des Steuerwettbewerbs voraussetzt). Sonst wird die Masse der Lohnempfänger die Zeche zahlen.
Die breite Mittelschicht wird die Kosten der Krise tragen, solange sich der Staat mehr und mehr aus den Arbeitseinkünften finanziert und ohnehin die Abgaben auf die Arbeit laufend erhöhen muss: die Sozialabgaben. Die Wirtschaftskrise trägt dazu bei, Sozialversicherungen weiter auszuhöhlen. Mehr Lohnprozente für schlechtere Leistungen der Arbeitslosen-, der Pensions- und erst recht der Krankenkassen — das war schon vor dem Krach die Tendenz, jetzt verstärkt sie sich.
Wenn zusehends die Arbeitnehmer das Gemeinwesen finanzieren, während der Staat einen happigen Teil der Verluste von Kapitalgebern sozialisiert, dann hinkt der Kapitalismus. Das Gleichgewicht zwischen Arbeit und Kapital ist nicht nur ein soziales Gebot, sondern vor allem ein ökonomisches: Wird — wie heute — der eine Produktionsfaktor gegenüber dem anderen systematisch privilegiert, gerät die Volkswirtschaft in Schieflage. Und die Gesellschaft erst recht. Angestellte und Arbeiter ziehen aber auch dann den Kürzeren, wenn nach der Schuldenkrise der Abbau der «Krisenschulden» über eine hohe Inflation erfolgt und die Geldentwertung ihre Ersparnisse, ihre Pensionen dezimiert. Fährt der Kapitalismus fort, das Kapital zu bevorzugen und die Arbeit zu benachteiligen, wird er wirtschaftlich und politisch noch krisenanfälliger. Die Krise des Kapitals kann kapitale Staatskrisen hervorrufen.
Zwischenergebnis 1
Ein verantwortlicher Kapitalismus braucht: Mechanismen der Mässigung von Gier; ein besseres Gleichgewicht zwischen Kapital und Arbeit und namentlich den Abbau steuerlicher Privilegien für das Kapital; Schranken für den Steuerwettbewerb, der die Staaten auszehrt; eine Abkehr vom Defizitdenken in den Vereinigten Staaten und — weil per Definition die Defizite der einen die Überschüsse der anderen ausmachen — ein Ende der trügerischen Sucht nach Überschüssen in Asien und Europa.
Nächste Folge: Markt ist Macht
Roger de Weck ist Publizist und schreibt regelmässig für «Das Magazin». Dieser Text ist Teil eines Buchprojekts, das unter dem Titel «Gibt es einen anderen Kapitalismus?» erscheinen wird. «Das Magazin» publiziert in loser Folge Auszüge, der nächste Teil wird sich mit dem Thema «Markt ist Macht» beschäftigen.
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Freitag, Juni 26, 2009
Donnerstag, Juni 25, 2009
NZZ: Hans Vontobel - «Wir müssen uns wieder zu anderen Werten bekennen»
24. Juni 2009, Neue Zürcher Zeitung
«Wir müssen uns wieder zu anderen Werten bekennen»
Ein Gespräch mit dem 93-jährigen Doyen der Schweizer Banken, Hans Vontobel
Hans Vontobel, seit 1991 Ehrenpräsident der Vontobel Holding.
Hans Vontobel, Ehrenpräsident der Vontobel Holding, spricht im Interview mit der NZZ über Krisen, staatliche Hilfe, Regulierung und die Situation der Banken. Er hält neue Werte für nötig und sieht die freie Marktwirtschaft gefährdet, wenn diese nicht gefunden werden. Ausserdem beurteilt er die Aufweichung des Bankgeheimnisses als schmerzlich, aber nicht entscheidend.
Interview: Beat Brenner, Gerhard Schwarz
24. Juni 2009, Neue Zürcher Zeitung
«Wir müssen uns wieder zu anderen Werten bekennen»
Ein Gespräch mit dem 93-jährigen Doyen der Schweizer Banken, Hans Vontobel
Hans Vontobel, seit 1991 Ehrenpräsident der Vontobel Holding.
Hans Vontobel, Ehrenpräsident der Vontobel Holding, spricht im Interview mit der NZZ über Krisen, staatliche Hilfe, Regulierung und die Situation der Banken. Er hält neue Werte für nötig und sieht die freie Marktwirtschaft gefährdet, wenn diese nicht gefunden werden. Ausserdem beurteilt er die Aufweichung des Bankgeheimnisses als schmerzlich, aber nicht entscheidend.
Interview: Beat Brenner, Gerhard Schwarz
Herr Vontobel, alle sprechen von der grössten Krise seit der Grossen Depression der dreissiger Jahre. Wie haben Sie dieses Desaster erlebt?
Hans Vontobel: Seit ich im Geschäft bin, habe ich acht Krisen erlebt. Am meisten Befürchtungen hegte ich unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg. Doch diese Krise ist nicht eingetreten. Damals rechneten wir mit einer grossen Weltwirtschaftskrise. Die Industrie hatte grosse Kassenbestände. Bei Saurer etwa entsprach die Kassenhaltung ungefähr der Börsenkapitalisierung. Doch dank Wiederaufbau, Marshall-Plan usw. ist die Krise ausgeblieben.
Wie viele dieser acht Krisen haben Sie erwartet oder ein bisschen vorausgesehen?
Erwartet wurde von mir die Krise von 1962. Ich war Präsident der damaligen Zürcher Effektenbörse. Der Börsenvorstand gab zuhanden der Öffentlichkeit eine Warnung aus. Das wurde übel aufgenommen, es sei nicht unsere Aufgabe, zu warnen, wir hätten für Geschäfte zu sorgen. Wenig später brach die Krise aus. Die Krise, in der wir uns jetzt befinden, habe ich im Herbst 2007 erahnt. Allerdings habe ich den Grundsatz, nie zu sagen, «ich habe gesagt». Das nützt gar nichts. Zwar haben alle Krisen Gemeinsamkeiten. Aber diese Krise ist in ihrer Schwere, ihrem Umfang und ihren Ursachen ganz besonders.
Inwiefern?
Wir glaubten, wir könnten die Welt beherrschen, wir seien technisch so weit fortgeschritten, dass wir die Zahlen sozusagen im Griff hätten. Aber es kommt nicht nur auf die Zahlen an, es kommt auf den Menschen an. Für mich ist eine Konklusion aus dieser Krise, dass den Menschen wieder erhöhte Bedeutung beigemessen werden muss. Wir sollten uns im Klaren sein: Wir kommen aus diesem Schlamassel langfristig nur heraus, wenn wir uns wieder zu anderen Werten bekennen.
Das ist Ihr Credo, seit wir Sie kennen: Werte sind wichtig. Hat diese Krise bei Ihnen aber auch dazu geführt, dass Sie Ihr Weltbild korrigieren mussten?
Ich fühle mich in dieser Welt als Teil des Ganzen. Ich fühle mich sozial eingebunden, so war es vorher, so ist es jetzt, so wird es in Zukunft sein. Ich versuche, zu verstehen, wo wir wertemässig stehen und ob es ein Herauskommen aus Irr-Werten gibt. Wir befinden uns in einem ständigen Wertewandel; oft realisieren wir das erst später.
Wir sind doch in die Krise geraten, weil wir, auch die Jungen, gegen Werte wie Bescheidenheit, Masshalten und langfristiges Denken verstossen haben.
Man kann, wenn man gute Werte verliert, dafür neue gute Werte finden. Das ist eine Hoffnung. Wenn wir nicht zu neuen Werten kommen, werden wir unsere freie Marktwirtschaft, an die ich immer noch glaube, verlieren. Dann können wir zusammenpacken. Ich befürchte, dass wir in fünf Jahren wieder da sein werden, wo wir heute sind, wenn wir aus der Krise nicht wenigstens einige grundlegende Konsequenzen ziehen. Ich zweifle nicht, dass wir in den nächsten Monaten auf verschiedensten Gebieten der Wirtschaft, auch im Banksektor, eine Belebung haben werden. Aber werden wir Konsequenzen ziehen? Werden wir versuchen, uns zu neuen Werten zu bekennen? Das ist ein Prozess, der sich über Jahre hinzieht, und ich muss zuversichtlich sein.
Fanden Sie es richtig, dass man in der Schweiz die UBS mit staatlicher Hilfe gerettet hat? Oder wären Sie eher für eine schmerzhafte Strukturbereinigung gewesen?
Die grundsätzliche Frage lautet: Kann ein Staat, der sich der Allgemeinheit verpflichtet fühlt, in einer gigantischen Krise tolerieren, dass das grösste Unternehmen des Finanzsektors in Konkurs geht. Wir haben in der Schweiz die Antwort darauf bereits gegeben. Es gibt aber eine zweite, davon abhängige Frage. Sollen wir die Grösse der Dienstleistungsunternehmen irgendwie beschränken? Die grossen Industriekonzerne werden weiterbestehen. Sie wollen Gesprächspartner haben, mit denen sie auf Augenhöhe verkehren können. Vielleicht könnte dieses Problem gelöst werden, wenn im Kreditwesen vermehrt Konsortialgeschäfte zum Zug kämen.
Was halten Sie davon, Banken nicht nur in ihrem Wachstum, sondern auch mit Blick auf ihre Tätigkeit zu beschränken? Das Trenn-Banken-System hat in den USA ja nicht so schlecht funktioniert.
Da muss ich dazu sagen: Das ist nicht machbar. Am Schluss hat es eben nicht mehr funktioniert, was zu einem erheblichen Teil mit menschlichem Versagen zusammenhing. Ohne Universalbanken ist das Problem nicht lösbar. Ich spreche aus vieljähriger Praxis. Es gibt keine andere Lösung. Aber lassen Sie mich kurz auf einen anderen Punkt eingehen: Ich versuche den Überlegungen immer etwas von meiner Lebensphilosophie beizumischen. Was suchen wir in der kurzen Zeit, in der wir auf Erden sind? Wir suchen ein bisschen Glück! Was ist Glück? Glück ist sicher nicht Geld. Mehr zu haben als das, was man braucht, wenn man krank oder alt ist, ist doch nicht Glück. Und wenn man immer mehr Geld hat, ist man sicher nicht glücklicher. Ist es nicht möglich, dass der westliche Mensch zu dieser Einsicht kommt, dass Glück etwas anderes ist? Ich bin vor Jahren in einer Fernsehsendung gefragt worden: «Macht Geld glücklich?» – «Nein», habe ich gesagt. «Was ist denn Glück für Sie?» – «Wenn ich auf einer Wanderung irgendwo am Waldrand sitze, alleine, es ist ruhig, ich blicke ins Tal, es ist neblig, man hört von Weitem eine Glocke. Das ist für mich Glück!»
Man kann einwenden, es sei für Sie leicht zu behaupten, Geld mache nicht glücklich. Doch der Arbeiter, der die gleiche Wanderung macht, schlägt sich vielleicht mit Sorgen über die nächste Leasing-Rate herum. Geld macht nicht glücklich, aber das Fehlen von Geld kann unglücklich machen.
Völlig einverstanden. Doch viele haben mehr als genügend Geld. Ihnen sollte es erleichtert werden, das Geld sinnvoll auszugeben. Das führt mich zum Stiftungsrecht. Vor Jahren habe ich Anstrengungen unternommen, es zu modernisieren. Nach einigen Jahren wurde das Ziel auf Bundesebene erreicht. Allerdings ist das Stiftungsrecht noch nicht dort, wo ich es haben möchte. Man sollte es noch liberaler gestalten. So soll ein Stifter unter gewissen Voraussetzungen, während einer Anzahl von Jahren das Geld zurückrufen können – mit allen steuerlichen Nachteilen. Das wäre viel besser als die derzeitige Situation, in der das nicht möglich ist und daher der typische Schweizer gar nicht erst eine Stiftung gründet. Man muss lernen, im Wohlstand sinnvoll zu leben.
Wenn wir zurückkommen zu den jüngsten Staatsinterventionen: Wohin führen sie? Befürchten Sie nicht auch Steuererhöhungen und Inflation?
Ich befürchte vor allem, dass das, was sich an neuen Regulierungen und Gesetzen abzeichnet, uns auf Dauer erhalten bleibt. Als überzeugter Marktwirtschafter finde ich, wir sollten uns bemühen, die staatlichen Krücken möglichst rasch wieder abzugeben. Wir sollten den Unternehmen weiterhin ein Maximum an Freiheiten geben. Wir sollten aber auch zugeben, dass Exzesse vorgekommen sind, die in Zukunft vermieden werden sollten. Ich denke an Risiko- und Lohnexzesse.
Man könnte umgekehrt argumentieren, die Wirtschaft habe bewiesen, dass sie nicht in der Lage ist, Exzesse zu vermeiden. Daher brauche es den Staat.
Wir müssen versuchen, aus dem, was passiert ist, die Lehren zu ziehen. Es sind Exzesse vorgekommen. Was können wir tun, um solche künftig zu verhindern? Ich glaube, es wird in den nächsten Jahren ein ständiges Seilziehen zwischen den Unternehmen und dem Staat geben, der möglichst viel auf Dauer regulieren möchte. Wir müssen bereit sein, diesen Kampf mit viel Subtilität und grosser Hartnäckigkeit zu führen. Allerdings hilft es wenig, wenn sich die Banken kaum einsichtig zeigen. Und es braucht den Willen, aus der zusätzlichen staatlichen Überwachung so bald wie möglich wieder auszusteigen. Ganz zurückdrehen kann man das Rad gewiss nicht, gewisse Konsequenzen müssen gezogen werden, im Bewusstsein, dass es immer Lücken geben wird.
Es kommt auf den Menschen an, und da sind wir in den letzten Jahrzehnten bei der Auswahl der Spitzenkräfte offener geworden. Gleichzeitig haben wir vielleicht zu wenig auf den Charakter geschaut. Bis in die achtziger Jahre hinein mussten die obersten Kader der Schweizerischen Kreditanstalt Zürcher und Protestanten sein. Dazu kam ein hoher militärischer Rang. Das Militär, wie wir es früher kannten, gibt es nicht mehr. Man kannte sich, es war eine gewisse Kameraderie vorhanden. Es war ein Netzwerk, das, wie alle Netzwerke, Vor- und Nachteile hatte. Heute arbeitet jeder für sich. Und was man sieht, ist nur das Ergebnis per Ende Jahr oder Quartal. Wir müssen von diesem kurzfristigen Denken wegkommen. Da kann die Presse helfen. Ich bin vor einiger Zeit gefragt worden, was ich noch mache. Ich habe gesagt: «Unter anderem versuche ich mit unseren leitenden Mitarbeitern langfristige Überlegungen anzustellen.»
Sie müssen die treibenden Kräfte für kurzfristiges Denken aber in den eigenen Reihen suchen, unter den Finanzanalytikern.
Ich bin ganz Ihrer Ansicht, es läuft nicht zufriedenstellend. Wenn ich Zeit habe, schaue ich mir die Finanzanalysen vorher an, und zum Teil treffe ich auch die betreffenden Verfasser und stelle ihnen Fragen. Bei der Beurteilung eines Unternehmens kommt es vor allem auf das Management an. Das können viele Analytiker zu wenig beurteilen. Diese Leute werden gedrängt, Produkte zu schaffen, die verkauft werden können. Zu fragen wäre eigentlich: Ist dieses Management langfristig in der Lage, die Firma auch in schwierigen Zeiten zu führen?
Kommen wir auf ein ganz anderes Thema: Gibt es Kulturunterschiede zwischen grossen, mittleren und kleinen Banken?
Ich glaube, eine grosse Bank war zumindest in der Vergangenheit immer eine Welt für sich. Mit ihrem eigenen Stil. Ein Detail: Früher haben sich die Damen des Direktionskaders der Schweizerischen Kreditanstalt regelmässig getroffen. Es war eine gesellschaftliche Lebensweise, gepaart mit dem Bewusstsein der eigenen Sicherheit oder Überlegenheit, das mittleren Banken zwangsläufig abging. Oder eine andere Episode: Vontobel hat viele Jahre für die NZZ die Börsenberichte geschrieben, und in jungen Jahren hatte auch ich diese Aufgabe. An einem Nachmittag, die Abendausgabe der NZZ mit dem Börsenbericht war eben erschienen, erhielt ich ein Telefon. Anrufer war der Verwaltungsratspräsident einer Grossbank, der sagte: «Ich habe in der NZZ Ihren Kommentar gelesen, wonach die Aktien unseres Instituts abgebröckelt seien. Ich sage Ihnen ein für alle Mal, unsere Aktien bröckeln nicht ab.» Das war diese Selbstherrlichkeit der Grossen. Die mittleren Banken waren eher geformt von Persönlichkeiten. Sie waren nicht so gross, dass sie sich Arroganz erlauben konnten.
Welche Folgen hat die Krise für reiche Leute und deren Anlage- bzw. Beratungsbedürfnisse?
Was wir entwickeln sollten, auch auf diesen Stufen, ist eine gewisse Demut. Es gibt Rückschläge, daher ist die Risikoverteilung so wichtig. Wenn man diese pflegt, kommt man längerfristig zwar nicht zu brillanten Resultaten, man liegt immer schlecht und recht zwischen den Extremen, aber es gibt auch keinen Kollaps. Das bedingt eine gute Verteilung zwischen Aktien und Obligationen. Das bedeutet ferner, dass man nur erstklassige Papiere kauft, im Bewusstsein, dass deren Güte über Nacht ändern kann. Es bedeutet, dass man den Mut hat, zu verzichten auf das, was Mode ist. Dass man nur empfiehlt, was Kunden verstehen können. Der Kunde darf nicht an uns glauben. Der Kunde muss sich eine eigene Meinung bilden können.
Der mündige Kunde?
Ich besuche ab und zu Witwen von Freunden. Eine von ihnen sagte mir, sie verstehe zwar nicht mehr, was bei den von uns geführten Depots alles passiere, aber zum Glück sei ihr Sohn da, der mache das sehr gut. Er sei pensioniert und habe jetzt Zeit. Ich habe mir die Unterlagen vorlegen lassen, habe gesehen, dass es im Portefeuille Papiere gibt, die ich selbst nicht beurteilen kann. Ich habe den betreffenden Anlageberater kommen lassen, der sagte, dass er auch meiner Ansicht sei, aber der Bevollmächtigte, der Sohn, sei gekommen und habe gesagt, es müsse Pfeffer in diese Suppe. Das sei zu wenig sportlich. Das Abwägen zwischen Kundenerhalt und Eingehen von Risiken ist ein ewiges Thema. Schon vor dem Crash habe ich für eine Erhöhung des Obligationenanteils auf 45% bis 50% plädiert. Und in der heutigen, ungewissen Zeit erachte ich auch eine Barreserve von mindestens 10% als angebracht.
Es gibt ja viele, die jetzt sagen, mit der Krise werde der Anteil des Finanzsektors an der Volkswirtschaft sinken, das gelte auch für die Bankmargen. Verschärft werde das Ganze durch die Attacken auf das Bankgeheimnis. Teilen Sie diese Auffassung?
Wenn man weiss, wie gross der Anteil der Banken am Bruttoinlandprodukt der Schweiz ist, muss man sich schon fragen, ob das auf Dauer haltbar ist. Sollte nicht ein ausgewogeneres Verhältnis angestrebt werden – sofern wir nicht ohnehin durch die Umstände dazu gezwungen werden? Ich bin aber, was die Entwicklung des Finanzplatzes Schweiz betrifft, insgesamt nicht pessimistisch. Man spricht jetzt viel über das Bankgeheimnis, aber das befand sich schon lange auf dem Rückzug. Die Generation, die nach dem Zweiten Weltkrieg mit ihrer Schachtel Goldvreneli, die sie vor den Russen versteckt hatte, zu uns kam und ein Nummernkonto eröffnete, ist gestorben. Damals herrschte eine andere Einstellung: Man muss das Geld quasi vor dem Feind schützen; dieses Verbergen hat sich lange Zeit erhalten. Die junge Generation denkt anders, zumindest in der Schweiz. Das Nummernkonto, das nicht versteuerte Konto, weicht je länger, je mehr einer neuen Haltung. Die jungen Anleger gehen zu drei, vier Banken, geben ihnen einen bestimmten Betrag, lassen sie arbeiten und schauen auf die Performance. Das ist je länger, je mehr die Haltung der jungen Generation. Die unversteuerten Konti gehen zwangsläufig zurück. – Da ich noch sehr viel reise, stelle ich zudem fest, dass der Ruf der Schweizer Banken insgesamt weiterhin intakt ist.
Woher kommt das?
Das hat nicht nur mit dem Bankgeheimnis zu tun, sondern auch damit, dass wir, gemessen an unserer Tätigkeit, wahrscheinlich erfahrener, zuverlässiger und vielsprachiger sind als die anderen. In den Qualifikationen, die wir im Ausland bekommen, kommt das Bankgeheimnis erst an zweiter oder dritter Stelle. Die Aufweichung des Bankgeheimnisses ist sicher schmerzlich, aber nicht entscheidend. Wir müssen uns von Emotionen lösen. Die Haltung «Wir haben für alles Verträge und daher muss darüber gar nicht mehr diskutiert werden» funktioniert nicht. Wir müssen bereit sein, zu sagen, das Bankgeheimnis werde nicht nur bei Steuerbetrug aufgehoben, sondern auch bei Steuerhinterziehung. Das versehentliche Unterlassen des Einsendens eines Formulars gehört sicher nicht dazu. Da muss eine Grenze gezogen werden.
Und sonst?
Wir sollten vermehrt in die Diskussionen einfliessen lassen, dass wir und andere auch wieder einmal froh um das Bankgeheimnis sein könnten. In der nationalsozialistischen Ära haben wir vielen Menschen das Leben retten können. Auf Devisenvergehen stand damals die Todesstrafe, und wir konnten laut Gesetz keine Auskünfte erteilen. Eine solche Situation ist wieder möglich. Ich war vor einiger Zeit in Nairobi, am Flughafen. Es waren Hunderte von indischen Familien dort, mit Kindern, Familiengepäck, die wurden über Nacht ausgewiesen. Es waren jene, die Geld hatten, das hat man ihnen abgenommen. Wäre das so verwerflich gewesen, wenn diese Geschäftsleute ein Konto in der Schweiz unterhalten hätten, hätten wir dann den Behörden in Nairobi gegebenenfalls Auskunft geben müssen? Man muss doch diesen Sachverhalt vorsehen. Wir sehen immer nur diesen Sachverhalt bezogen auf Schweiz - Deutschland oder die USA.
Werfen wir noch einen Blick auf die USA und die dortigen Probleme der UBS, die jetzt mit der Forderung konfrontiert ist, Daten von 52 000 Kunden offenzulegen. Wenn es zu einem Urteil kommt, dann steht die UBS im Clinch. Was raten Sie?
Ich bin zum Glück ein Mensch, der hier nicht entscheiden muss, aber ich weise auf Folgendes hin: Wenn eine Bank in den USA eine führende Position erreichen will, ist dies nur mit amerikanischem Management möglich. Das kann ich nicht mit schweizerischem Management tun. Die amerikanischen Manager sind anders geprägt, sie haben andere Werte auch bezüglich Risiko. Es gibt die Möglichkeit, dass ich mich zurückziehe oder dass ich das Geschäft wieder neu aufbaue. Das kann ich aber nur mit amerikanischen Managern, und dann bin ich den gleichen Konfrontationen ausgeliefert wie heute. Das ganz schwierige Problem für die UBS ist natürlich auch das. Es sind, so glaube ich, im Ausland rund 75 000. Es sind in der Schweiz rund 25 000 Mitarbeiter. Da fällt es natürlich schwer, ein geografisches Gebiet, wo sich viele Mitarbeiter und viele Tätigkeiten befinden, aufzugeben. Das muss man auch sehen. Ich kann das nicht mit Sicherheit beurteilen.
Lassen Sie uns nochmals auf Ihre Bemerkung zur Grösse des Finanzplatzes zurückkommen. Erstmals hat Otto Stich 1990 mit seinem «Mokkatassen-Vergleich» solche Überlegungen geäussert und die Ansicht vertreten, der Finanzplatz sei zu gross.
Warum soll ein Sozialdemokrat nicht recht haben?
Einverstanden, aber damals hat es niemand gesagt.
Sie haben recht. Aber wir haben alle das Privilegium, unsere Meinung zu ändern.
«Wir müssen uns wieder zu anderen Werten bekennen»
Ein Gespräch mit dem 93-jährigen Doyen der Schweizer Banken, Hans Vontobel
Hans Vontobel, seit 1991 Ehrenpräsident der Vontobel Holding.
Hans Vontobel, Ehrenpräsident der Vontobel Holding, spricht im Interview mit der NZZ über Krisen, staatliche Hilfe, Regulierung und die Situation der Banken. Er hält neue Werte für nötig und sieht die freie Marktwirtschaft gefährdet, wenn diese nicht gefunden werden. Ausserdem beurteilt er die Aufweichung des Bankgeheimnisses als schmerzlich, aber nicht entscheidend.
Interview: Beat Brenner, Gerhard Schwarz
24. Juni 2009, Neue Zürcher Zeitung
«Wir müssen uns wieder zu anderen Werten bekennen»
Ein Gespräch mit dem 93-jährigen Doyen der Schweizer Banken, Hans Vontobel
Hans Vontobel, seit 1991 Ehrenpräsident der Vontobel Holding.
Hans Vontobel, Ehrenpräsident der Vontobel Holding, spricht im Interview mit der NZZ über Krisen, staatliche Hilfe, Regulierung und die Situation der Banken. Er hält neue Werte für nötig und sieht die freie Marktwirtschaft gefährdet, wenn diese nicht gefunden werden. Ausserdem beurteilt er die Aufweichung des Bankgeheimnisses als schmerzlich, aber nicht entscheidend.
Interview: Beat Brenner, Gerhard Schwarz
Herr Vontobel, alle sprechen von der grössten Krise seit der Grossen Depression der dreissiger Jahre. Wie haben Sie dieses Desaster erlebt?
Hans Vontobel: Seit ich im Geschäft bin, habe ich acht Krisen erlebt. Am meisten Befürchtungen hegte ich unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg. Doch diese Krise ist nicht eingetreten. Damals rechneten wir mit einer grossen Weltwirtschaftskrise. Die Industrie hatte grosse Kassenbestände. Bei Saurer etwa entsprach die Kassenhaltung ungefähr der Börsenkapitalisierung. Doch dank Wiederaufbau, Marshall-Plan usw. ist die Krise ausgeblieben.
Wie viele dieser acht Krisen haben Sie erwartet oder ein bisschen vorausgesehen?
Erwartet wurde von mir die Krise von 1962. Ich war Präsident der damaligen Zürcher Effektenbörse. Der Börsenvorstand gab zuhanden der Öffentlichkeit eine Warnung aus. Das wurde übel aufgenommen, es sei nicht unsere Aufgabe, zu warnen, wir hätten für Geschäfte zu sorgen. Wenig später brach die Krise aus. Die Krise, in der wir uns jetzt befinden, habe ich im Herbst 2007 erahnt. Allerdings habe ich den Grundsatz, nie zu sagen, «ich habe gesagt». Das nützt gar nichts. Zwar haben alle Krisen Gemeinsamkeiten. Aber diese Krise ist in ihrer Schwere, ihrem Umfang und ihren Ursachen ganz besonders.
Inwiefern?
Wir glaubten, wir könnten die Welt beherrschen, wir seien technisch so weit fortgeschritten, dass wir die Zahlen sozusagen im Griff hätten. Aber es kommt nicht nur auf die Zahlen an, es kommt auf den Menschen an. Für mich ist eine Konklusion aus dieser Krise, dass den Menschen wieder erhöhte Bedeutung beigemessen werden muss. Wir sollten uns im Klaren sein: Wir kommen aus diesem Schlamassel langfristig nur heraus, wenn wir uns wieder zu anderen Werten bekennen.
Das ist Ihr Credo, seit wir Sie kennen: Werte sind wichtig. Hat diese Krise bei Ihnen aber auch dazu geführt, dass Sie Ihr Weltbild korrigieren mussten?
Ich fühle mich in dieser Welt als Teil des Ganzen. Ich fühle mich sozial eingebunden, so war es vorher, so ist es jetzt, so wird es in Zukunft sein. Ich versuche, zu verstehen, wo wir wertemässig stehen und ob es ein Herauskommen aus Irr-Werten gibt. Wir befinden uns in einem ständigen Wertewandel; oft realisieren wir das erst später.
Wir sind doch in die Krise geraten, weil wir, auch die Jungen, gegen Werte wie Bescheidenheit, Masshalten und langfristiges Denken verstossen haben.
Man kann, wenn man gute Werte verliert, dafür neue gute Werte finden. Das ist eine Hoffnung. Wenn wir nicht zu neuen Werten kommen, werden wir unsere freie Marktwirtschaft, an die ich immer noch glaube, verlieren. Dann können wir zusammenpacken. Ich befürchte, dass wir in fünf Jahren wieder da sein werden, wo wir heute sind, wenn wir aus der Krise nicht wenigstens einige grundlegende Konsequenzen ziehen. Ich zweifle nicht, dass wir in den nächsten Monaten auf verschiedensten Gebieten der Wirtschaft, auch im Banksektor, eine Belebung haben werden. Aber werden wir Konsequenzen ziehen? Werden wir versuchen, uns zu neuen Werten zu bekennen? Das ist ein Prozess, der sich über Jahre hinzieht, und ich muss zuversichtlich sein.
Fanden Sie es richtig, dass man in der Schweiz die UBS mit staatlicher Hilfe gerettet hat? Oder wären Sie eher für eine schmerzhafte Strukturbereinigung gewesen?
Die grundsätzliche Frage lautet: Kann ein Staat, der sich der Allgemeinheit verpflichtet fühlt, in einer gigantischen Krise tolerieren, dass das grösste Unternehmen des Finanzsektors in Konkurs geht. Wir haben in der Schweiz die Antwort darauf bereits gegeben. Es gibt aber eine zweite, davon abhängige Frage. Sollen wir die Grösse der Dienstleistungsunternehmen irgendwie beschränken? Die grossen Industriekonzerne werden weiterbestehen. Sie wollen Gesprächspartner haben, mit denen sie auf Augenhöhe verkehren können. Vielleicht könnte dieses Problem gelöst werden, wenn im Kreditwesen vermehrt Konsortialgeschäfte zum Zug kämen.
Was halten Sie davon, Banken nicht nur in ihrem Wachstum, sondern auch mit Blick auf ihre Tätigkeit zu beschränken? Das Trenn-Banken-System hat in den USA ja nicht so schlecht funktioniert.
Da muss ich dazu sagen: Das ist nicht machbar. Am Schluss hat es eben nicht mehr funktioniert, was zu einem erheblichen Teil mit menschlichem Versagen zusammenhing. Ohne Universalbanken ist das Problem nicht lösbar. Ich spreche aus vieljähriger Praxis. Es gibt keine andere Lösung. Aber lassen Sie mich kurz auf einen anderen Punkt eingehen: Ich versuche den Überlegungen immer etwas von meiner Lebensphilosophie beizumischen. Was suchen wir in der kurzen Zeit, in der wir auf Erden sind? Wir suchen ein bisschen Glück! Was ist Glück? Glück ist sicher nicht Geld. Mehr zu haben als das, was man braucht, wenn man krank oder alt ist, ist doch nicht Glück. Und wenn man immer mehr Geld hat, ist man sicher nicht glücklicher. Ist es nicht möglich, dass der westliche Mensch zu dieser Einsicht kommt, dass Glück etwas anderes ist? Ich bin vor Jahren in einer Fernsehsendung gefragt worden: «Macht Geld glücklich?» – «Nein», habe ich gesagt. «Was ist denn Glück für Sie?» – «Wenn ich auf einer Wanderung irgendwo am Waldrand sitze, alleine, es ist ruhig, ich blicke ins Tal, es ist neblig, man hört von Weitem eine Glocke. Das ist für mich Glück!»
Man kann einwenden, es sei für Sie leicht zu behaupten, Geld mache nicht glücklich. Doch der Arbeiter, der die gleiche Wanderung macht, schlägt sich vielleicht mit Sorgen über die nächste Leasing-Rate herum. Geld macht nicht glücklich, aber das Fehlen von Geld kann unglücklich machen.
Völlig einverstanden. Doch viele haben mehr als genügend Geld. Ihnen sollte es erleichtert werden, das Geld sinnvoll auszugeben. Das führt mich zum Stiftungsrecht. Vor Jahren habe ich Anstrengungen unternommen, es zu modernisieren. Nach einigen Jahren wurde das Ziel auf Bundesebene erreicht. Allerdings ist das Stiftungsrecht noch nicht dort, wo ich es haben möchte. Man sollte es noch liberaler gestalten. So soll ein Stifter unter gewissen Voraussetzungen, während einer Anzahl von Jahren das Geld zurückrufen können – mit allen steuerlichen Nachteilen. Das wäre viel besser als die derzeitige Situation, in der das nicht möglich ist und daher der typische Schweizer gar nicht erst eine Stiftung gründet. Man muss lernen, im Wohlstand sinnvoll zu leben.
Wenn wir zurückkommen zu den jüngsten Staatsinterventionen: Wohin führen sie? Befürchten Sie nicht auch Steuererhöhungen und Inflation?
Ich befürchte vor allem, dass das, was sich an neuen Regulierungen und Gesetzen abzeichnet, uns auf Dauer erhalten bleibt. Als überzeugter Marktwirtschafter finde ich, wir sollten uns bemühen, die staatlichen Krücken möglichst rasch wieder abzugeben. Wir sollten den Unternehmen weiterhin ein Maximum an Freiheiten geben. Wir sollten aber auch zugeben, dass Exzesse vorgekommen sind, die in Zukunft vermieden werden sollten. Ich denke an Risiko- und Lohnexzesse.
Man könnte umgekehrt argumentieren, die Wirtschaft habe bewiesen, dass sie nicht in der Lage ist, Exzesse zu vermeiden. Daher brauche es den Staat.
Wir müssen versuchen, aus dem, was passiert ist, die Lehren zu ziehen. Es sind Exzesse vorgekommen. Was können wir tun, um solche künftig zu verhindern? Ich glaube, es wird in den nächsten Jahren ein ständiges Seilziehen zwischen den Unternehmen und dem Staat geben, der möglichst viel auf Dauer regulieren möchte. Wir müssen bereit sein, diesen Kampf mit viel Subtilität und grosser Hartnäckigkeit zu führen. Allerdings hilft es wenig, wenn sich die Banken kaum einsichtig zeigen. Und es braucht den Willen, aus der zusätzlichen staatlichen Überwachung so bald wie möglich wieder auszusteigen. Ganz zurückdrehen kann man das Rad gewiss nicht, gewisse Konsequenzen müssen gezogen werden, im Bewusstsein, dass es immer Lücken geben wird.
Es kommt auf den Menschen an, und da sind wir in den letzten Jahrzehnten bei der Auswahl der Spitzenkräfte offener geworden. Gleichzeitig haben wir vielleicht zu wenig auf den Charakter geschaut. Bis in die achtziger Jahre hinein mussten die obersten Kader der Schweizerischen Kreditanstalt Zürcher und Protestanten sein. Dazu kam ein hoher militärischer Rang. Das Militär, wie wir es früher kannten, gibt es nicht mehr. Man kannte sich, es war eine gewisse Kameraderie vorhanden. Es war ein Netzwerk, das, wie alle Netzwerke, Vor- und Nachteile hatte. Heute arbeitet jeder für sich. Und was man sieht, ist nur das Ergebnis per Ende Jahr oder Quartal. Wir müssen von diesem kurzfristigen Denken wegkommen. Da kann die Presse helfen. Ich bin vor einiger Zeit gefragt worden, was ich noch mache. Ich habe gesagt: «Unter anderem versuche ich mit unseren leitenden Mitarbeitern langfristige Überlegungen anzustellen.»
Sie müssen die treibenden Kräfte für kurzfristiges Denken aber in den eigenen Reihen suchen, unter den Finanzanalytikern.
Ich bin ganz Ihrer Ansicht, es läuft nicht zufriedenstellend. Wenn ich Zeit habe, schaue ich mir die Finanzanalysen vorher an, und zum Teil treffe ich auch die betreffenden Verfasser und stelle ihnen Fragen. Bei der Beurteilung eines Unternehmens kommt es vor allem auf das Management an. Das können viele Analytiker zu wenig beurteilen. Diese Leute werden gedrängt, Produkte zu schaffen, die verkauft werden können. Zu fragen wäre eigentlich: Ist dieses Management langfristig in der Lage, die Firma auch in schwierigen Zeiten zu führen?
Kommen wir auf ein ganz anderes Thema: Gibt es Kulturunterschiede zwischen grossen, mittleren und kleinen Banken?
Ich glaube, eine grosse Bank war zumindest in der Vergangenheit immer eine Welt für sich. Mit ihrem eigenen Stil. Ein Detail: Früher haben sich die Damen des Direktionskaders der Schweizerischen Kreditanstalt regelmässig getroffen. Es war eine gesellschaftliche Lebensweise, gepaart mit dem Bewusstsein der eigenen Sicherheit oder Überlegenheit, das mittleren Banken zwangsläufig abging. Oder eine andere Episode: Vontobel hat viele Jahre für die NZZ die Börsenberichte geschrieben, und in jungen Jahren hatte auch ich diese Aufgabe. An einem Nachmittag, die Abendausgabe der NZZ mit dem Börsenbericht war eben erschienen, erhielt ich ein Telefon. Anrufer war der Verwaltungsratspräsident einer Grossbank, der sagte: «Ich habe in der NZZ Ihren Kommentar gelesen, wonach die Aktien unseres Instituts abgebröckelt seien. Ich sage Ihnen ein für alle Mal, unsere Aktien bröckeln nicht ab.» Das war diese Selbstherrlichkeit der Grossen. Die mittleren Banken waren eher geformt von Persönlichkeiten. Sie waren nicht so gross, dass sie sich Arroganz erlauben konnten.
Welche Folgen hat die Krise für reiche Leute und deren Anlage- bzw. Beratungsbedürfnisse?
Was wir entwickeln sollten, auch auf diesen Stufen, ist eine gewisse Demut. Es gibt Rückschläge, daher ist die Risikoverteilung so wichtig. Wenn man diese pflegt, kommt man längerfristig zwar nicht zu brillanten Resultaten, man liegt immer schlecht und recht zwischen den Extremen, aber es gibt auch keinen Kollaps. Das bedingt eine gute Verteilung zwischen Aktien und Obligationen. Das bedeutet ferner, dass man nur erstklassige Papiere kauft, im Bewusstsein, dass deren Güte über Nacht ändern kann. Es bedeutet, dass man den Mut hat, zu verzichten auf das, was Mode ist. Dass man nur empfiehlt, was Kunden verstehen können. Der Kunde darf nicht an uns glauben. Der Kunde muss sich eine eigene Meinung bilden können.
Der mündige Kunde?
Ich besuche ab und zu Witwen von Freunden. Eine von ihnen sagte mir, sie verstehe zwar nicht mehr, was bei den von uns geführten Depots alles passiere, aber zum Glück sei ihr Sohn da, der mache das sehr gut. Er sei pensioniert und habe jetzt Zeit. Ich habe mir die Unterlagen vorlegen lassen, habe gesehen, dass es im Portefeuille Papiere gibt, die ich selbst nicht beurteilen kann. Ich habe den betreffenden Anlageberater kommen lassen, der sagte, dass er auch meiner Ansicht sei, aber der Bevollmächtigte, der Sohn, sei gekommen und habe gesagt, es müsse Pfeffer in diese Suppe. Das sei zu wenig sportlich. Das Abwägen zwischen Kundenerhalt und Eingehen von Risiken ist ein ewiges Thema. Schon vor dem Crash habe ich für eine Erhöhung des Obligationenanteils auf 45% bis 50% plädiert. Und in der heutigen, ungewissen Zeit erachte ich auch eine Barreserve von mindestens 10% als angebracht.
Es gibt ja viele, die jetzt sagen, mit der Krise werde der Anteil des Finanzsektors an der Volkswirtschaft sinken, das gelte auch für die Bankmargen. Verschärft werde das Ganze durch die Attacken auf das Bankgeheimnis. Teilen Sie diese Auffassung?
Wenn man weiss, wie gross der Anteil der Banken am Bruttoinlandprodukt der Schweiz ist, muss man sich schon fragen, ob das auf Dauer haltbar ist. Sollte nicht ein ausgewogeneres Verhältnis angestrebt werden – sofern wir nicht ohnehin durch die Umstände dazu gezwungen werden? Ich bin aber, was die Entwicklung des Finanzplatzes Schweiz betrifft, insgesamt nicht pessimistisch. Man spricht jetzt viel über das Bankgeheimnis, aber das befand sich schon lange auf dem Rückzug. Die Generation, die nach dem Zweiten Weltkrieg mit ihrer Schachtel Goldvreneli, die sie vor den Russen versteckt hatte, zu uns kam und ein Nummernkonto eröffnete, ist gestorben. Damals herrschte eine andere Einstellung: Man muss das Geld quasi vor dem Feind schützen; dieses Verbergen hat sich lange Zeit erhalten. Die junge Generation denkt anders, zumindest in der Schweiz. Das Nummernkonto, das nicht versteuerte Konto, weicht je länger, je mehr einer neuen Haltung. Die jungen Anleger gehen zu drei, vier Banken, geben ihnen einen bestimmten Betrag, lassen sie arbeiten und schauen auf die Performance. Das ist je länger, je mehr die Haltung der jungen Generation. Die unversteuerten Konti gehen zwangsläufig zurück. – Da ich noch sehr viel reise, stelle ich zudem fest, dass der Ruf der Schweizer Banken insgesamt weiterhin intakt ist.
Woher kommt das?
Das hat nicht nur mit dem Bankgeheimnis zu tun, sondern auch damit, dass wir, gemessen an unserer Tätigkeit, wahrscheinlich erfahrener, zuverlässiger und vielsprachiger sind als die anderen. In den Qualifikationen, die wir im Ausland bekommen, kommt das Bankgeheimnis erst an zweiter oder dritter Stelle. Die Aufweichung des Bankgeheimnisses ist sicher schmerzlich, aber nicht entscheidend. Wir müssen uns von Emotionen lösen. Die Haltung «Wir haben für alles Verträge und daher muss darüber gar nicht mehr diskutiert werden» funktioniert nicht. Wir müssen bereit sein, zu sagen, das Bankgeheimnis werde nicht nur bei Steuerbetrug aufgehoben, sondern auch bei Steuerhinterziehung. Das versehentliche Unterlassen des Einsendens eines Formulars gehört sicher nicht dazu. Da muss eine Grenze gezogen werden.
Und sonst?
Wir sollten vermehrt in die Diskussionen einfliessen lassen, dass wir und andere auch wieder einmal froh um das Bankgeheimnis sein könnten. In der nationalsozialistischen Ära haben wir vielen Menschen das Leben retten können. Auf Devisenvergehen stand damals die Todesstrafe, und wir konnten laut Gesetz keine Auskünfte erteilen. Eine solche Situation ist wieder möglich. Ich war vor einiger Zeit in Nairobi, am Flughafen. Es waren Hunderte von indischen Familien dort, mit Kindern, Familiengepäck, die wurden über Nacht ausgewiesen. Es waren jene, die Geld hatten, das hat man ihnen abgenommen. Wäre das so verwerflich gewesen, wenn diese Geschäftsleute ein Konto in der Schweiz unterhalten hätten, hätten wir dann den Behörden in Nairobi gegebenenfalls Auskunft geben müssen? Man muss doch diesen Sachverhalt vorsehen. Wir sehen immer nur diesen Sachverhalt bezogen auf Schweiz - Deutschland oder die USA.
Werfen wir noch einen Blick auf die USA und die dortigen Probleme der UBS, die jetzt mit der Forderung konfrontiert ist, Daten von 52 000 Kunden offenzulegen. Wenn es zu einem Urteil kommt, dann steht die UBS im Clinch. Was raten Sie?
Ich bin zum Glück ein Mensch, der hier nicht entscheiden muss, aber ich weise auf Folgendes hin: Wenn eine Bank in den USA eine führende Position erreichen will, ist dies nur mit amerikanischem Management möglich. Das kann ich nicht mit schweizerischem Management tun. Die amerikanischen Manager sind anders geprägt, sie haben andere Werte auch bezüglich Risiko. Es gibt die Möglichkeit, dass ich mich zurückziehe oder dass ich das Geschäft wieder neu aufbaue. Das kann ich aber nur mit amerikanischen Managern, und dann bin ich den gleichen Konfrontationen ausgeliefert wie heute. Das ganz schwierige Problem für die UBS ist natürlich auch das. Es sind, so glaube ich, im Ausland rund 75 000. Es sind in der Schweiz rund 25 000 Mitarbeiter. Da fällt es natürlich schwer, ein geografisches Gebiet, wo sich viele Mitarbeiter und viele Tätigkeiten befinden, aufzugeben. Das muss man auch sehen. Ich kann das nicht mit Sicherheit beurteilen.
Lassen Sie uns nochmals auf Ihre Bemerkung zur Grösse des Finanzplatzes zurückkommen. Erstmals hat Otto Stich 1990 mit seinem «Mokkatassen-Vergleich» solche Überlegungen geäussert und die Ansicht vertreten, der Finanzplatz sei zu gross.
Warum soll ein Sozialdemokrat nicht recht haben?
Einverstanden, aber damals hat es niemand gesagt.
Sie haben recht. Aber wir haben alle das Privilegium, unsere Meinung zu ändern.
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Mittwoch, Juni 24, 2009
Tages Anzeiger :23.06.09 Kriegstreiber Bush und Blair auf der Anklagebank
Tages Anzeiger Online 23.06.09
Kriegstreiber Bush und Blair auf der Anklagebank
Von Martin Kilian, Washington.
Die Vorgeschichte des Irakkriegs wird im britischen Parlament für rote Köpfe sorgen. Ein Thema ist das brisante Memorandum eines Beraters des damaligen Ministerpräsidenten Tony Blair.
Morgen wird das Parlament in London inmitten von geplanten Protesten von Kriegsgegnern beraten, ob die offizielle Untersuchung der Hintergründe der britischen Teilnahme an George W. Bushs Einmarsch im Irak öffentlich oder hinter verschlossenen Türen stattfinden soll.
Die Vorgänge in London werden sehr aufmerksam in Washington....
Tages Anzeiger Online 23.06.09
Kriegstreiber Bush und Blair auf der Anklagebank
Von Martin Kilian, Washington.
Die Vorgeschichte des Irakkriegs wird im britischen Parlament für rote Köpfe sorgen. Ein Thema ist das brisante Memorandum eines Beraters des damaligen Ministerpräsidenten Tony Blair.
Morgen wird das Parlament in London inmitten von geplanten Protesten von Kriegsgegnern beraten, ob die offizielle Untersuchung der Hintergründe der britischen Teilnahme an George W. Bushs Einmarsch im Irak öffentlich oder hinter verschlossenen Türen stattfinden soll.
Die Vorgänge in London werden sehr aufmerksam in Washington verfolgt werden: Während in der amerikanischen Hauptstadt eine umfassende Abrechnung mit dem Krieg auf Grund politischen Widerstands kaum zu erwarten ist, könnte in London die schmutzige Wäsche des Kriegs im Irak vor aller Augen gewaschen werden.
Zwar hatte sich Premier Gordon Brown auf Druck seines Vorgängers Tony Blair zunächst gegen eine öffentliche Untersuchung gesperrt, doch will Brown nach scharfen Protesten einlenken. George W. Bush und präsidialen Mitarbeiter wie der damaligen Sicherheitsberaterin Condolezza Rice könnte die Ausleuchtung des britischen Kriegseintritts einmal mehr politische Peinlichkeiten bescheren.
Unter anderem wird sich die Londoner Untersuchung mit einem brisanten Memorandum befassen, das beim Besuch Blairs im Weissen Haus am 31. Januar 2003 entstand – knapp zwei Monate vor Beginn des Kriegs also.
Das 2006 erstmals in Grossbritannien publizierte Memorandum basiert auf den Notizen von Blairs aussenpolitischem Berater David Manning, der den Gesprächen zwischen Bush und Blair an jenem Januartag beiwohnte. Ein öffentliche Prüfung dieses Memorandums dürfte in Washington neuerliche Forderungen nach einer umfassenden Aufarbeitung der Vorgeschichte des Einmarschs im Irak auslösen.
Das Memorandum, dessen Authentizität weder in London noch in Washington bestritten wurde, belegt unter anderem, dass die Entscheidung zum Krieg im Januar 2003 bereits gefallen war, obwohl Bush wie Blair beteuerten, man werde der Diplomatie bei den Vereinten Nationen eine letzte Chance geben.
Saddam Hussein provozieren
Da die Uno-Inspekteure zu diesem Zeitpunkt noch immer keine Spur der vermeintlichen irakischen Massenvernichtungswaffen gefunden hatten, schlug Bush bei der Begegnung mit Blair vor, Saddam Hussein zu provozieren und dadurch einen Vorwand für eine Intervention zu erhalten.
Bush wollte den Aufzeichnungen Mannings zu Folge ein amerikanisches U2-Aufklärungsflugzeug in den Farben der Uno in den irakischen Luftraum entsenden. Falls Saddam das Flugzeug angreife, verletze er Uno-Resolutionen und liefere den Anlass zum Krieg, so Bush.
Auf Blairs Verlangen nach einer zweiten Uno-Resolution, die einen Einmarsch legitimieren sollte, antwortete Bush laut dem Memorandum, die Vereinigten Staaten würden «ihr gesamtes Gewicht für eine zweite Resolution verwenden» und widerstrebenden Nationen notfalls «drohen».
Tatsächlich ordnete das Weisse Haus noch am selben Tag die elektronischen Spione der «National Security Agency» in Fort Meade nahe Washington an, die Telefone und Emails von Uno-Delegationen auszuspähen, die sich im Sicherheitsrat einem Krieg widersetzten.
Ein anderer Plan, der in Mannings Memorandum indes nicht erwähnt wird, sah vor, irakische Oppositionelle aus ihrem Exil mit Helikoptern in den Süden des Irak zu fliegen, wo sie auf einem Militärstützpunkt nahe der Grenze zu Saudiarabien einen Aufstand gegen Saddam ausrufen sollten. Ein irakischer Gegenangriff, so die Schlussfolgerung des Weissen Hauses, brächte den Diktator automatisch mit Uno-Resolutionen in Konflikt und lieferte mithin einen Kriegsgrund. (Tagesanzeiger.ch/Newsnetz)
Erstellt: 23.06.2009, 07:37 Uhr
Kriegstreiber Bush und Blair auf der Anklagebank
Von Martin Kilian, Washington.
Die Vorgeschichte des Irakkriegs wird im britischen Parlament für rote Köpfe sorgen. Ein Thema ist das brisante Memorandum eines Beraters des damaligen Ministerpräsidenten Tony Blair.
Morgen wird das Parlament in London inmitten von geplanten Protesten von Kriegsgegnern beraten, ob die offizielle Untersuchung der Hintergründe der britischen Teilnahme an George W. Bushs Einmarsch im Irak öffentlich oder hinter verschlossenen Türen stattfinden soll.
Die Vorgänge in London werden sehr aufmerksam in Washington....
Tages Anzeiger Online 23.06.09
Kriegstreiber Bush und Blair auf der Anklagebank
Von Martin Kilian, Washington.
Die Vorgeschichte des Irakkriegs wird im britischen Parlament für rote Köpfe sorgen. Ein Thema ist das brisante Memorandum eines Beraters des damaligen Ministerpräsidenten Tony Blair.
Morgen wird das Parlament in London inmitten von geplanten Protesten von Kriegsgegnern beraten, ob die offizielle Untersuchung der Hintergründe der britischen Teilnahme an George W. Bushs Einmarsch im Irak öffentlich oder hinter verschlossenen Türen stattfinden soll.
Die Vorgänge in London werden sehr aufmerksam in Washington verfolgt werden: Während in der amerikanischen Hauptstadt eine umfassende Abrechnung mit dem Krieg auf Grund politischen Widerstands kaum zu erwarten ist, könnte in London die schmutzige Wäsche des Kriegs im Irak vor aller Augen gewaschen werden.
Zwar hatte sich Premier Gordon Brown auf Druck seines Vorgängers Tony Blair zunächst gegen eine öffentliche Untersuchung gesperrt, doch will Brown nach scharfen Protesten einlenken. George W. Bush und präsidialen Mitarbeiter wie der damaligen Sicherheitsberaterin Condolezza Rice könnte die Ausleuchtung des britischen Kriegseintritts einmal mehr politische Peinlichkeiten bescheren.
Unter anderem wird sich die Londoner Untersuchung mit einem brisanten Memorandum befassen, das beim Besuch Blairs im Weissen Haus am 31. Januar 2003 entstand – knapp zwei Monate vor Beginn des Kriegs also.
Das 2006 erstmals in Grossbritannien publizierte Memorandum basiert auf den Notizen von Blairs aussenpolitischem Berater David Manning, der den Gesprächen zwischen Bush und Blair an jenem Januartag beiwohnte. Ein öffentliche Prüfung dieses Memorandums dürfte in Washington neuerliche Forderungen nach einer umfassenden Aufarbeitung der Vorgeschichte des Einmarschs im Irak auslösen.
Das Memorandum, dessen Authentizität weder in London noch in Washington bestritten wurde, belegt unter anderem, dass die Entscheidung zum Krieg im Januar 2003 bereits gefallen war, obwohl Bush wie Blair beteuerten, man werde der Diplomatie bei den Vereinten Nationen eine letzte Chance geben.
Saddam Hussein provozieren
Da die Uno-Inspekteure zu diesem Zeitpunkt noch immer keine Spur der vermeintlichen irakischen Massenvernichtungswaffen gefunden hatten, schlug Bush bei der Begegnung mit Blair vor, Saddam Hussein zu provozieren und dadurch einen Vorwand für eine Intervention zu erhalten.
Bush wollte den Aufzeichnungen Mannings zu Folge ein amerikanisches U2-Aufklärungsflugzeug in den Farben der Uno in den irakischen Luftraum entsenden. Falls Saddam das Flugzeug angreife, verletze er Uno-Resolutionen und liefere den Anlass zum Krieg, so Bush.
Auf Blairs Verlangen nach einer zweiten Uno-Resolution, die einen Einmarsch legitimieren sollte, antwortete Bush laut dem Memorandum, die Vereinigten Staaten würden «ihr gesamtes Gewicht für eine zweite Resolution verwenden» und widerstrebenden Nationen notfalls «drohen».
Tatsächlich ordnete das Weisse Haus noch am selben Tag die elektronischen Spione der «National Security Agency» in Fort Meade nahe Washington an, die Telefone und Emails von Uno-Delegationen auszuspähen, die sich im Sicherheitsrat einem Krieg widersetzten.
Ein anderer Plan, der in Mannings Memorandum indes nicht erwähnt wird, sah vor, irakische Oppositionelle aus ihrem Exil mit Helikoptern in den Süden des Irak zu fliegen, wo sie auf einem Militärstützpunkt nahe der Grenze zu Saudiarabien einen Aufstand gegen Saddam ausrufen sollten. Ein irakischer Gegenangriff, so die Schlussfolgerung des Weissen Hauses, brächte den Diktator automatisch mit Uno-Resolutionen in Konflikt und lieferte mithin einen Kriegsgrund. (Tagesanzeiger.ch/Newsnetz)
Erstellt: 23.06.2009, 07:37 Uhr
Montag, Juni 22, 2009
NZZ Folio: Männer und Frauen - Das Experiment - Eine genetische Vorliebe für Polizeiautos
NZZ Folio 10/08 - Das Experiment - Eine genetische Vorliebe für Polizeiautos
Welche Eigenschaft macht das Spielzeugauto für männliche Affen so anziehend?
1992 testete die Psychologin Melissa Hines die Neigung männlicher und weiblicher Affen, mit Puppen, Bällen und Spielzeugautos zu spielen. Das Resultat: Affen spielen politisch nicht korrekt.
Von Reto U. Schneider
Vor jedem Geburtstag stehen aufgeschlossene Eltern vor demselben Problem: Sollen sie ihrem Sohn....
NZZ Folio 10/08 - Das Experiment - Eine genetische Vorliebe für Polizeiautos
Welche Eigenschaft macht das Spielzeugauto für männliche Affen so anziehend?
1992 testete die Psychologin Melissa Hines die Neigung männlicher und weiblicher Affen, mit Puppen, Bällen und Spielzeugautos zu spielen. Das Resultat: Affen spielen politisch nicht korrekt.
Von Reto U. Schneider
Vor jedem Geburtstag stehen aufgeschlossene Eltern vor demselben Problem: Sollen sie ihrem Sohn den Betonmischer mit Profilreifen, Wassertank und Auslaufblechen kaufen, obwohl er eben erst den Kippsattelzug mit Zwillingsbereifung bekommen hat? Wäre es nicht an der Zeit, seine Fürsorge weg vom Hubstapler in Richtung Puppe zu lenken? Und das Mädchen? Sollte man ihm nicht den «Bob der Baumann»-Werkzeugkasten beliebt machen statt das dritte Fashion-Fever-Abendkleid für Barbie?
Wenig ist in einem Kinderleben so stabil wie die Vorlieben der Geschlechter für bestimmte Spielsachen. Lange Zeit vermutete man dahinter ausschliesslich die Sozialisation. Knaben imitieren Männer, Mädchen Frauen, die Werbung tut den Rest, so dass kein Knabe in der Nähe eines rosaroten Plüschponys gesehen werden will. Doch kann das die ganze Erklärung sein? Die Psychologin Melissa Hines zweifelte daran.
Als sie in den 1990er Jahren an der University of California in Los Angeles tätig war, zeigten Hines Studien, dass Mädchen, die wegen einer Störung vor der Geburt zu viel des männlichen Sexualhormons Testosteron produziert hatten, später eine Vorliebe für Helikopter und Feuerwehrautos entwickelten.
Doch gegen die Idee, Spielzeugvorlieben bei Kindern könnten auch hormonell bedingt sein, erwuchs erheblicher Widerstand. Einerseits war unklar, warum diese Vorlieben hätten angeboren sein sollen, andererseits war die Sache politisch: Viele Frauen unterstrichen die Forderung nach Gleichberechtigung mit dem Argument, typisch männliche oder weibliche Verhaltensweisen seien ausschliesslich das Resultat gesellschaftlicher Einflüsse. Da wäre es politisch äusserst unkorrekt gewesen, wenn sich Frauen schon als kleine Mädchen genetisch zum Kochherd hingezogen gefühlt hätten.
Es war Hines Kollegin Margaret Kemeny, die sie auf die entscheidende Idee brachte, wie sich die Sache klären liesse: Warum die Vorlieben für Spielzeug nicht dort messen, wo jeder Einfluss konservativer Eltern und knalliger Werbung ausgeschlossen werden kann – bei Affen? Also entwarfen Hines und ihre Mitarbeiterin Gerianne M. Alexander ein Experiment, das sie 1992 auf der Affenstation der Universität in Sepulveda durchführten: Sie präsentierten 88 Gelbgrünen Meerkatzen – 44 Weibchen und 44 Männchen – in Gruppen nacheinander sechs verschiedene Spielsachen und beobachteten, mit welchen sie am längsten spielten. Die Beliebtheit der Spielsachen war in früheren Studien bestimmt worden. Es waren zwei typisch männliche – ein Ball und ein Polizeiauto –, zwei typisch weibliche – eine Puppe und ein Kochtopf – und zwei neutrale – ein Bilderbuch und ein Plüschhund.
Die Resultate waren klar: Die männlichen Affen spielten doppelt so lange mit dem Ball und dem Polizeiauto wie die weiblichen, diese wiederum doppelt so lange mit der Puppe und dem Kochtopf wie die männlichen. Bilderbuch und Plüschhund waren ähnlich beliebt. Bis auf kleine Unterschiede zeigten die Affen also ähnliches Verhalten wie Menschenkinder. Wie Knaben spielten männliche Affen grundsätzlich häufiger mit Objekten als Mädchen und Weibchen.
Was das alles zu bedeuten hat, ist noch unklar, zumal die Forscher bei den Affen nicht dieselbe Methode anwenden konnten wie bei Kindern, die bei solchen Tests jeweils alleine sind und denen zwei Spielzeuge gleichzeitig zur Auswahl angeboten werden. Sicher scheint, dass die Vorliebe der Geschlechter für unterschiedliches Spielzeug nicht nur von Eltern und Fernsehspots bestimmt wird, sondern auch einen biologischen Anteil hat. Wie unpopulär diese Erkenntnis ist, erfuhren Hines und Alexander, als sie das Ergebnis publizieren wollten: Zehn Jahre dauerte es, bis sie eine Fachzeitschrift fanden, die ihren Artikel 2002 druckte. Sechs Jahre später wiesen andere Forscher bei männlichen Rhesusaffen eine Vorliebe für Spielzeug mit Rädern und eine Abneigung gegen Plüschtiere nach.
Die grosse Frage bleibt: Woher kommen diese unterschiedlichen Vorlieben? Wie konnte sich das männliche und das weibliche Gehirn dahin entwickeln, Dinge zu mögen, die es noch gar nicht gab, als dieses Gehirn von den Kräften der Evolution geformt wurde? Welche Eigenschaft eines Tiefladers macht ihn für ein männliches Gehirn attraktiv? Darüber wird im Moment eifrig spekuliert. Sind es die beweglichen Teile? Oder ist es gar nicht das Spielzeug selbst, sondern, was man damit tun kann? Mit einer Puppe kann man nicht am Boden herumfahren.
In der Wissenschaft sind es fast nur Frauen, die sich mit diesen Fragen auseinandersetzen. Ihre früheren Schulkollegen konstruieren derweil wohl Autos oder spielen Fussball.
Reto U. Schneider ist stellvertretender Redaktionsleiter von NZZ Folio.
Welche Eigenschaft macht das Spielzeugauto für männliche Affen so anziehend?
1992 testete die Psychologin Melissa Hines die Neigung männlicher und weiblicher Affen, mit Puppen, Bällen und Spielzeugautos zu spielen. Das Resultat: Affen spielen politisch nicht korrekt.
Von Reto U. Schneider
Vor jedem Geburtstag stehen aufgeschlossene Eltern vor demselben Problem: Sollen sie ihrem Sohn....
NZZ Folio 10/08 - Das Experiment - Eine genetische Vorliebe für Polizeiautos
Welche Eigenschaft macht das Spielzeugauto für männliche Affen so anziehend?
1992 testete die Psychologin Melissa Hines die Neigung männlicher und weiblicher Affen, mit Puppen, Bällen und Spielzeugautos zu spielen. Das Resultat: Affen spielen politisch nicht korrekt.
Von Reto U. Schneider
Vor jedem Geburtstag stehen aufgeschlossene Eltern vor demselben Problem: Sollen sie ihrem Sohn den Betonmischer mit Profilreifen, Wassertank und Auslaufblechen kaufen, obwohl er eben erst den Kippsattelzug mit Zwillingsbereifung bekommen hat? Wäre es nicht an der Zeit, seine Fürsorge weg vom Hubstapler in Richtung Puppe zu lenken? Und das Mädchen? Sollte man ihm nicht den «Bob der Baumann»-Werkzeugkasten beliebt machen statt das dritte Fashion-Fever-Abendkleid für Barbie?
Wenig ist in einem Kinderleben so stabil wie die Vorlieben der Geschlechter für bestimmte Spielsachen. Lange Zeit vermutete man dahinter ausschliesslich die Sozialisation. Knaben imitieren Männer, Mädchen Frauen, die Werbung tut den Rest, so dass kein Knabe in der Nähe eines rosaroten Plüschponys gesehen werden will. Doch kann das die ganze Erklärung sein? Die Psychologin Melissa Hines zweifelte daran.
Als sie in den 1990er Jahren an der University of California in Los Angeles tätig war, zeigten Hines Studien, dass Mädchen, die wegen einer Störung vor der Geburt zu viel des männlichen Sexualhormons Testosteron produziert hatten, später eine Vorliebe für Helikopter und Feuerwehrautos entwickelten.
Doch gegen die Idee, Spielzeugvorlieben bei Kindern könnten auch hormonell bedingt sein, erwuchs erheblicher Widerstand. Einerseits war unklar, warum diese Vorlieben hätten angeboren sein sollen, andererseits war die Sache politisch: Viele Frauen unterstrichen die Forderung nach Gleichberechtigung mit dem Argument, typisch männliche oder weibliche Verhaltensweisen seien ausschliesslich das Resultat gesellschaftlicher Einflüsse. Da wäre es politisch äusserst unkorrekt gewesen, wenn sich Frauen schon als kleine Mädchen genetisch zum Kochherd hingezogen gefühlt hätten.
Es war Hines Kollegin Margaret Kemeny, die sie auf die entscheidende Idee brachte, wie sich die Sache klären liesse: Warum die Vorlieben für Spielzeug nicht dort messen, wo jeder Einfluss konservativer Eltern und knalliger Werbung ausgeschlossen werden kann – bei Affen? Also entwarfen Hines und ihre Mitarbeiterin Gerianne M. Alexander ein Experiment, das sie 1992 auf der Affenstation der Universität in Sepulveda durchführten: Sie präsentierten 88 Gelbgrünen Meerkatzen – 44 Weibchen und 44 Männchen – in Gruppen nacheinander sechs verschiedene Spielsachen und beobachteten, mit welchen sie am längsten spielten. Die Beliebtheit der Spielsachen war in früheren Studien bestimmt worden. Es waren zwei typisch männliche – ein Ball und ein Polizeiauto –, zwei typisch weibliche – eine Puppe und ein Kochtopf – und zwei neutrale – ein Bilderbuch und ein Plüschhund.
Die Resultate waren klar: Die männlichen Affen spielten doppelt so lange mit dem Ball und dem Polizeiauto wie die weiblichen, diese wiederum doppelt so lange mit der Puppe und dem Kochtopf wie die männlichen. Bilderbuch und Plüschhund waren ähnlich beliebt. Bis auf kleine Unterschiede zeigten die Affen also ähnliches Verhalten wie Menschenkinder. Wie Knaben spielten männliche Affen grundsätzlich häufiger mit Objekten als Mädchen und Weibchen.
Was das alles zu bedeuten hat, ist noch unklar, zumal die Forscher bei den Affen nicht dieselbe Methode anwenden konnten wie bei Kindern, die bei solchen Tests jeweils alleine sind und denen zwei Spielzeuge gleichzeitig zur Auswahl angeboten werden. Sicher scheint, dass die Vorliebe der Geschlechter für unterschiedliches Spielzeug nicht nur von Eltern und Fernsehspots bestimmt wird, sondern auch einen biologischen Anteil hat. Wie unpopulär diese Erkenntnis ist, erfuhren Hines und Alexander, als sie das Ergebnis publizieren wollten: Zehn Jahre dauerte es, bis sie eine Fachzeitschrift fanden, die ihren Artikel 2002 druckte. Sechs Jahre später wiesen andere Forscher bei männlichen Rhesusaffen eine Vorliebe für Spielzeug mit Rädern und eine Abneigung gegen Plüschtiere nach.
Die grosse Frage bleibt: Woher kommen diese unterschiedlichen Vorlieben? Wie konnte sich das männliche und das weibliche Gehirn dahin entwickeln, Dinge zu mögen, die es noch gar nicht gab, als dieses Gehirn von den Kräften der Evolution geformt wurde? Welche Eigenschaft eines Tiefladers macht ihn für ein männliches Gehirn attraktiv? Darüber wird im Moment eifrig spekuliert. Sind es die beweglichen Teile? Oder ist es gar nicht das Spielzeug selbst, sondern, was man damit tun kann? Mit einer Puppe kann man nicht am Boden herumfahren.
In der Wissenschaft sind es fast nur Frauen, die sich mit diesen Fragen auseinandersetzen. Ihre früheren Schulkollegen konstruieren derweil wohl Autos oder spielen Fussball.
Reto U. Schneider ist stellvertretender Redaktionsleiter von NZZ Folio.
Sonntag, Juni 21, 2009
NZZ: Arnold Hottinger - «Die Iraner brauchen einen Führer»
NZZ Online: 16.06.2009
«Die Iraner brauchen einen Führer»
Arnold Hottinger über die äusserst fragile Lage in Iran
Für eine Öffnung in Iran ist es noch zu früh, sagt der frühere Nahostkorrespondent der NZZ. Im Gespräch erläutert er, weshalb die Iraner einen Führer brauchen und weshalb der unterlegene Kandidat Moussavi nicht das Zeug dafür hat.
Der Wächterrat hat den Wahlsieg Ahmadinejads nur wenige Stunden nach Urnenschluss veröffentlicht. Ist das in einem Staat mit über 60 Millionen Einwohnern überhaupt möglich?
16. Juni 2009, 16:36, NZZ Online
«Die Iraner brauchen einen Führer»
Arnold Hottinger über die äusserst fragile Lage in Iran
Für eine Öffnung in Iran ist es noch zu früh, sagt der frühere Nahostkorrespondent der NZZ. Im Gespräch erläutert er, weshalb die Iraner einen Führer brauchen und weshalb der unterlegene Kandidat Moussavi nicht das Zeug dafür hat.
Der Wächterrat hat den Wahlsieg Ahmadinejads nur wenige Stunden nach Urnenschluss veröffentlicht. Ist das in einem Staat mit über 60 Millionen Einwohnern überhaupt möglich?
Die ganze Auszählung war höchst verdächtig. Man hat auch den Eindruck, es ist etwas geregelt worden. Nicht nur, dass es so schnell ging, sondern auch, dass die Resultate überall gleich sind. Ich kann mir beispielsweise nicht erklären, wie Kandidat Rezai bloss ein Prozent der Stimmen erhalten konnte. Der gleiche Kandidat kam bei früheren Wahlen immerhin auf 17 Prozent.
Warum sind bis heute keine Wahlresultate aus den Bezirken und Städten veröffentlicht worden?
Eben, die ganze Geschichte ist zweifellos überhastet gemacht worden. Und das muss einen Grund haben. Offenbar wurde ein Befehl gegeben, ein bestimmtes Resultat zu erreichen.
Was könnte denn dieser Grund gewesen sein?
Die Revolutionswächter hören auf Khamenei. Und Khamenei wollte offensichtlich Ahmadinejad noch einmal haben. Das ist keine Frage. Er hat sich schon im Vorfeld der Wahlen deutlich für Ahmadinejad geäussert. Warum er ihn nochmals wollte, ist wahrscheinlich innenpolitischer Natur. Er hat Angst vor Lockerungen des politischen Systems. Moussavi ist zwar kein eigentlicher Reformer. Aber er wäre eben doch eine Art Alternative zu Ahamdinejad gewesen. Und all diese Leute, die eine Alternative wollten, haben sich hinter Moussavi gestellt. Das genügte schon, um Khamenei Angst einzujagen. Man muss bedenken, dass die Studentenunruhen von 1999 ein schwerer Schlag gegen das Regime waren. Da hat es mal richtig gewackelt. Und zwar viel mehr, als es im Ausland wahrgenommen wurde. Das Regime hat danach beschlossen, dass es nie mehr soweit kommen dürfe. Denn jede Öffnung würde gleich weiter ausgehöhlt.
Es ist ja kein Geheimnis, dass Moussavi kein richtiger Reformer ist. Er hatte während seiner Zeit als Ministerpräsident mehrere umstrittene Gesetze verabschiedet.
Es gibt aber sehr viele Politiker des zweiten und dritten Rangs, die damals noch ungeheuer gläubige Revolutionäre waren. Doch haben sie in der Zwischenzeit ihre Haltung revidiert. Der bekannteste unter ihnen ist zweifellos Ayatollah
Muntazeri, einst Stellvertreter Khomeinis, der heute ein klarer Opponent des Systems ist und daher völlig isoliert lebt. Auch er war damals ein Mitläufer, der das tat, was Khamenei wollte. Moussavi hatte aber stets eine Linkstendenz, auch als Ministerpräsident. Er wird auch erkannt haben, dass es ein Mitspracherechts des Volks braucht.
Ali Khamenei hat die Überprüfung des Wahlresultats angeordnet. Was bedeutet die konkret?
Ich fürchte, das ist bloss ein taktisches Manöver. Denn der Wächterrat, der die Überprüfung nun durchführen muss, wird von Khamenei an der kurzen Leine geführt. Das ganze dient bloss zur Beruhigung der Leute, nach dem Motto: «Wenn ihr alle reklamiert, dann leiten wir eine Untersuchung ein.» Mit dem Resultat, dass es dann heisst, alles sei in Ordnung gewesen. Das ist aber eine persönliche Einschätzung. Ob es tatsächlich so herauskommt, weiss ich nicht.
Wird es den geistlichen Führern gelingen, die Proteste gegen das Regime einzudämmen?
Das halte ich für wahrscheinlich, weil die Revolutionswächter alles daran setzen werden, dass Ruhe einkehrt. Ihre Macht im Staate kommt einem Imperium gleich. Sie bilden eine aufsteigende Linie im politischen System. Sie sind nicht bloss eine militärisch-politische Macht, sondern bauen auch an einem wirtschaftlichen Sonderimperium. Die Front heisst Khamenei plus Revolutionswächter gegen die politischen Ayatollahs, die einsehen, dass es mit Ahmedinejad kein Weiterkommen gibt. Es wird aber eine gewaltsame Ruhe sein, die den Leuten aufgedrängt wird.
Gibt es Parallelen zur Islamischen Revolution von 1979?
Der grosse Unterschied zu 1979 besteht darin, dass es heute keinen Führer gibt. Moussavi ist ein Anlass gewesen, sich Gehör zu verschaffen. Aber er ist zweifellos nicht der begeisternde Führer, wie es damals Khomeini gewesen ist. Die Revolutionswächter und Khamenei wissen sehr genau, dass sie einen potenziellen Führer vermeiden müssen. Wo immer sich einer zeigt, der zum Führer oder zum Sprecher einer ganzen Bevölkerungsgruppe werden könnte, wird er sofort eingesperrt.
Haben die jungen Iranerinnen und Iraner nicht genug von diesem totalitären Regime?
Man hat zweifellos gesehen, dass die junge Generation genug davon hat. Jene Leute, die das nicht mehr wollen, sind diese, die sich hinter Moussavi gestellt haben. Aber ob sie damit durchkommen, ist die grosse Frage. Sie brauchen einen Chef, einen Führer, der sie begeistert und hinter den sie sich aufreihen können. Als Khomeini frisch an der Macht war, fragte ich einen persischen Archäologen: «Jetzt habt ihr doch gerade erst den Schah vertrieben, und schon schafft ihr euch mit Khomeini einen neuen Führer.» So seien die Perser halt, lautete seine Antwort kurz und knapp. Das ist in der Tradition des Landes. Aber bei Moussavi sind solche Führertendenzen nicht auszumachen. Diesen Gefahren möchte er sich kaum aussetzen.
Dann ist das erst der Beginn eines Wandels, der Zeit braucht...
Manche sagen, es gebe immer noch viele Leute, die den Wandel von 1979 erlebt haben zu Skeptikern wurden. Sie sagen, sie wollen nicht noch eine weitere Revolution. Erst wenn die junge Generation zu jener wird, die in der Mehrzahl ist und die die Revolution Geschichte ist, dann kann ein neuer Schub eintreten. Zentral dabei bleibt, wie schnell sich ein neuer Führer findet. Anders ist es, wenn Khamenei stirbt. Er ist auf Lebzeiten Irans Oberhaupt. Der Kampf um seine Nachfolge könnte dannmal eine Öffnung mit sich bringen. Doch wir müssen uns auf einen langen und sehr komplexen Prozess einstellen.
Das Gespräch mit Arnold Hottinger führte Andrea Hohendahl.
«Die Iraner brauchen einen Führer»
Arnold Hottinger über die äusserst fragile Lage in Iran
Für eine Öffnung in Iran ist es noch zu früh, sagt der frühere Nahostkorrespondent der NZZ. Im Gespräch erläutert er, weshalb die Iraner einen Führer brauchen und weshalb der unterlegene Kandidat Moussavi nicht das Zeug dafür hat.
Der Wächterrat hat den Wahlsieg Ahmadinejads nur wenige Stunden nach Urnenschluss veröffentlicht. Ist das in einem Staat mit über 60 Millionen Einwohnern überhaupt möglich?
16. Juni 2009, 16:36, NZZ Online
«Die Iraner brauchen einen Führer»
Arnold Hottinger über die äusserst fragile Lage in Iran
Für eine Öffnung in Iran ist es noch zu früh, sagt der frühere Nahostkorrespondent der NZZ. Im Gespräch erläutert er, weshalb die Iraner einen Führer brauchen und weshalb der unterlegene Kandidat Moussavi nicht das Zeug dafür hat.
Der Wächterrat hat den Wahlsieg Ahmadinejads nur wenige Stunden nach Urnenschluss veröffentlicht. Ist das in einem Staat mit über 60 Millionen Einwohnern überhaupt möglich?
Die ganze Auszählung war höchst verdächtig. Man hat auch den Eindruck, es ist etwas geregelt worden. Nicht nur, dass es so schnell ging, sondern auch, dass die Resultate überall gleich sind. Ich kann mir beispielsweise nicht erklären, wie Kandidat Rezai bloss ein Prozent der Stimmen erhalten konnte. Der gleiche Kandidat kam bei früheren Wahlen immerhin auf 17 Prozent.
Warum sind bis heute keine Wahlresultate aus den Bezirken und Städten veröffentlicht worden?
Eben, die ganze Geschichte ist zweifellos überhastet gemacht worden. Und das muss einen Grund haben. Offenbar wurde ein Befehl gegeben, ein bestimmtes Resultat zu erreichen.
Was könnte denn dieser Grund gewesen sein?
Die Revolutionswächter hören auf Khamenei. Und Khamenei wollte offensichtlich Ahmadinejad noch einmal haben. Das ist keine Frage. Er hat sich schon im Vorfeld der Wahlen deutlich für Ahmadinejad geäussert. Warum er ihn nochmals wollte, ist wahrscheinlich innenpolitischer Natur. Er hat Angst vor Lockerungen des politischen Systems. Moussavi ist zwar kein eigentlicher Reformer. Aber er wäre eben doch eine Art Alternative zu Ahamdinejad gewesen. Und all diese Leute, die eine Alternative wollten, haben sich hinter Moussavi gestellt. Das genügte schon, um Khamenei Angst einzujagen. Man muss bedenken, dass die Studentenunruhen von 1999 ein schwerer Schlag gegen das Regime waren. Da hat es mal richtig gewackelt. Und zwar viel mehr, als es im Ausland wahrgenommen wurde. Das Regime hat danach beschlossen, dass es nie mehr soweit kommen dürfe. Denn jede Öffnung würde gleich weiter ausgehöhlt.
Es ist ja kein Geheimnis, dass Moussavi kein richtiger Reformer ist. Er hatte während seiner Zeit als Ministerpräsident mehrere umstrittene Gesetze verabschiedet.
Es gibt aber sehr viele Politiker des zweiten und dritten Rangs, die damals noch ungeheuer gläubige Revolutionäre waren. Doch haben sie in der Zwischenzeit ihre Haltung revidiert. Der bekannteste unter ihnen ist zweifellos Ayatollah
Muntazeri, einst Stellvertreter Khomeinis, der heute ein klarer Opponent des Systems ist und daher völlig isoliert lebt. Auch er war damals ein Mitläufer, der das tat, was Khamenei wollte. Moussavi hatte aber stets eine Linkstendenz, auch als Ministerpräsident. Er wird auch erkannt haben, dass es ein Mitspracherechts des Volks braucht.
Ali Khamenei hat die Überprüfung des Wahlresultats angeordnet. Was bedeutet die konkret?
Ich fürchte, das ist bloss ein taktisches Manöver. Denn der Wächterrat, der die Überprüfung nun durchführen muss, wird von Khamenei an der kurzen Leine geführt. Das ganze dient bloss zur Beruhigung der Leute, nach dem Motto: «Wenn ihr alle reklamiert, dann leiten wir eine Untersuchung ein.» Mit dem Resultat, dass es dann heisst, alles sei in Ordnung gewesen. Das ist aber eine persönliche Einschätzung. Ob es tatsächlich so herauskommt, weiss ich nicht.
Wird es den geistlichen Führern gelingen, die Proteste gegen das Regime einzudämmen?
Das halte ich für wahrscheinlich, weil die Revolutionswächter alles daran setzen werden, dass Ruhe einkehrt. Ihre Macht im Staate kommt einem Imperium gleich. Sie bilden eine aufsteigende Linie im politischen System. Sie sind nicht bloss eine militärisch-politische Macht, sondern bauen auch an einem wirtschaftlichen Sonderimperium. Die Front heisst Khamenei plus Revolutionswächter gegen die politischen Ayatollahs, die einsehen, dass es mit Ahmedinejad kein Weiterkommen gibt. Es wird aber eine gewaltsame Ruhe sein, die den Leuten aufgedrängt wird.
Gibt es Parallelen zur Islamischen Revolution von 1979?
Der grosse Unterschied zu 1979 besteht darin, dass es heute keinen Führer gibt. Moussavi ist ein Anlass gewesen, sich Gehör zu verschaffen. Aber er ist zweifellos nicht der begeisternde Führer, wie es damals Khomeini gewesen ist. Die Revolutionswächter und Khamenei wissen sehr genau, dass sie einen potenziellen Führer vermeiden müssen. Wo immer sich einer zeigt, der zum Führer oder zum Sprecher einer ganzen Bevölkerungsgruppe werden könnte, wird er sofort eingesperrt.
Haben die jungen Iranerinnen und Iraner nicht genug von diesem totalitären Regime?
Man hat zweifellos gesehen, dass die junge Generation genug davon hat. Jene Leute, die das nicht mehr wollen, sind diese, die sich hinter Moussavi gestellt haben. Aber ob sie damit durchkommen, ist die grosse Frage. Sie brauchen einen Chef, einen Führer, der sie begeistert und hinter den sie sich aufreihen können. Als Khomeini frisch an der Macht war, fragte ich einen persischen Archäologen: «Jetzt habt ihr doch gerade erst den Schah vertrieben, und schon schafft ihr euch mit Khomeini einen neuen Führer.» So seien die Perser halt, lautete seine Antwort kurz und knapp. Das ist in der Tradition des Landes. Aber bei Moussavi sind solche Führertendenzen nicht auszumachen. Diesen Gefahren möchte er sich kaum aussetzen.
Dann ist das erst der Beginn eines Wandels, der Zeit braucht...
Manche sagen, es gebe immer noch viele Leute, die den Wandel von 1979 erlebt haben zu Skeptikern wurden. Sie sagen, sie wollen nicht noch eine weitere Revolution. Erst wenn die junge Generation zu jener wird, die in der Mehrzahl ist und die die Revolution Geschichte ist, dann kann ein neuer Schub eintreten. Zentral dabei bleibt, wie schnell sich ein neuer Führer findet. Anders ist es, wenn Khamenei stirbt. Er ist auf Lebzeiten Irans Oberhaupt. Der Kampf um seine Nachfolge könnte dannmal eine Öffnung mit sich bringen. Doch wir müssen uns auf einen langen und sehr komplexen Prozess einstellen.
Das Gespräch mit Arnold Hottinger führte Andrea Hohendahl.
Samstag, Juni 20, 2009
Donnerstag, Juni 18, 2009
Spiegel Online: Deutschland - Zwangsarbeit in den 50er Jahre - Misshandelte Heimkinder fordern 25 Milliarden Euro Entschädigung
SPIEGEL ONLINE
13. Juni 2009, 12:57 Uhr
ZWANGSARBEIT IN FÜNFZIGER JAHREN
Misshandelte Heimkinder fordern 25 Milliarden Euro Entschädigung
Sie wurden erniedrigt, geschlagen und zu Schwerstarbeit gezwungen - und das vor allem in kirchlichen Einrichtungen im Deutschland der fünfziger und sechziger Jahre. Jetzt fordern die Mitglieder des Vereins ehemaliger Heimkinder ein Entschädigung von 25 Milliarden Euro.
München - Am Montag und Dienstag soll die Forderung....
SPIEGEL ONLINE
13. Juni 2009, 12:57 Uhr
ZWANGSARBEIT IN FÜNFZIGER JAHREN
Misshandelte Heimkinder fordern 25 Milliarden Euro Entschädigung
Sie wurden erniedrigt, geschlagen und zu Schwerstarbeit gezwungen - und das vor allem in kirchlichen Einrichtungen im Deutschland der fünfziger und sechziger Jahre. Jetzt fordern die Mitglieder des Vereins ehemaliger Heimkinder ein Entschädigung von 25 Milliarden Euro.
München - Am Montag und Dienstag soll die Forderung der ehemaligen Heimkinder bei der dritten Sitzung des Runden Tischs Heimerziehung vorgetragen werden. Die Einrichtung dieses Gremiums unter Leitung der früheren Bundestagsvizepräsidentin Antje Vollmer war vom Bundestag Ende 2008 beschlossen worden, nachdem das Ausmaß der Menschenrechtsverletzungen sichtbar geworden war. Viele Heimkinder wurden in den fünfziger und sechziger Jahren vor allem in kirchlichen Heimen geschlagen, erniedrigt und zu Schwerstarbeit gezwungen wurden. Im Februar hatten sich zur ersten Sitzung des Runden Tischs Vertreter der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) und der Deutschen Bischofskonferenz für die Auswüchse entschuldigt.
Doch der Verein ehemaliger Heimkinder (VEH) will, dass darüber hinaus ein Entschädigungsfonds über 25 Milliarden Euro eingerichtet wird. "Auch wenn die Forderung auf den ersten Blick hoch erscheint, ist sie angesichts der großen Zahl der Betroffenen und der Schwere des erlittenen Unrechts, das ganze Biografien zerstört hat, maßvoll", erklärte VEH-Anwalt Gerrit Wilmans. "Auch im internationalen Vergleich liegt die Forderung bezogen auf den Einzelfall absolut im Schnitt." Die VEH-Vorsitzende Monika Tschapek-Güntner erklärte: "Jede dieser Taten ist eines zivilisierten Staates unwürdig und ist gleichermaßen zu entschädigen, unabhängig davon, wo sie geschehen ist."
Die Entschädigung soll dem VEH zufolge nicht vorwiegend vom Steuerzahler getragen werden. Verantwortlich seien in erster Linie die meist kirchlichen Heimträger sowie die beteiligten Betriebe, die von der Zwangsarbeit profitiert hätten.
Der VEH fordert neben der Entschädigung auch einen rentenversicherungsrechtlichen Ausgleich für die Zwangsarbeit sowie sofortige Verbesserungen der Rahmenbedingungen für die Behandlung der Traumata, unter denen viele ehemalige Heimkinder leiden. Der VEH verweist darauf, dass in Irland und Kanada Klagen von Heimkindern bereits zu Zahlungen in Milliardenhöhe geführt haben.
Vertreter der Heimkinder hatten von Kirche und Staat bereits im Februar bei der ersten Sitzung des Runden Tischs eine Entschädigung, worauf Vollmer allerdings zurückhaltend reagiert hatte.
ase/AP
13. Juni 2009, 12:57 Uhr
ZWANGSARBEIT IN FÜNFZIGER JAHREN
Misshandelte Heimkinder fordern 25 Milliarden Euro Entschädigung
Sie wurden erniedrigt, geschlagen und zu Schwerstarbeit gezwungen - und das vor allem in kirchlichen Einrichtungen im Deutschland der fünfziger und sechziger Jahre. Jetzt fordern die Mitglieder des Vereins ehemaliger Heimkinder ein Entschädigung von 25 Milliarden Euro.
München - Am Montag und Dienstag soll die Forderung....
SPIEGEL ONLINE
13. Juni 2009, 12:57 Uhr
ZWANGSARBEIT IN FÜNFZIGER JAHREN
Misshandelte Heimkinder fordern 25 Milliarden Euro Entschädigung
Sie wurden erniedrigt, geschlagen und zu Schwerstarbeit gezwungen - und das vor allem in kirchlichen Einrichtungen im Deutschland der fünfziger und sechziger Jahre. Jetzt fordern die Mitglieder des Vereins ehemaliger Heimkinder ein Entschädigung von 25 Milliarden Euro.
München - Am Montag und Dienstag soll die Forderung der ehemaligen Heimkinder bei der dritten Sitzung des Runden Tischs Heimerziehung vorgetragen werden. Die Einrichtung dieses Gremiums unter Leitung der früheren Bundestagsvizepräsidentin Antje Vollmer war vom Bundestag Ende 2008 beschlossen worden, nachdem das Ausmaß der Menschenrechtsverletzungen sichtbar geworden war. Viele Heimkinder wurden in den fünfziger und sechziger Jahren vor allem in kirchlichen Heimen geschlagen, erniedrigt und zu Schwerstarbeit gezwungen wurden. Im Februar hatten sich zur ersten Sitzung des Runden Tischs Vertreter der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) und der Deutschen Bischofskonferenz für die Auswüchse entschuldigt.
Doch der Verein ehemaliger Heimkinder (VEH) will, dass darüber hinaus ein Entschädigungsfonds über 25 Milliarden Euro eingerichtet wird. "Auch wenn die Forderung auf den ersten Blick hoch erscheint, ist sie angesichts der großen Zahl der Betroffenen und der Schwere des erlittenen Unrechts, das ganze Biografien zerstört hat, maßvoll", erklärte VEH-Anwalt Gerrit Wilmans. "Auch im internationalen Vergleich liegt die Forderung bezogen auf den Einzelfall absolut im Schnitt." Die VEH-Vorsitzende Monika Tschapek-Güntner erklärte: "Jede dieser Taten ist eines zivilisierten Staates unwürdig und ist gleichermaßen zu entschädigen, unabhängig davon, wo sie geschehen ist."
Die Entschädigung soll dem VEH zufolge nicht vorwiegend vom Steuerzahler getragen werden. Verantwortlich seien in erster Linie die meist kirchlichen Heimträger sowie die beteiligten Betriebe, die von der Zwangsarbeit profitiert hätten.
Der VEH fordert neben der Entschädigung auch einen rentenversicherungsrechtlichen Ausgleich für die Zwangsarbeit sowie sofortige Verbesserungen der Rahmenbedingungen für die Behandlung der Traumata, unter denen viele ehemalige Heimkinder leiden. Der VEH verweist darauf, dass in Irland und Kanada Klagen von Heimkindern bereits zu Zahlungen in Milliardenhöhe geführt haben.
Vertreter der Heimkinder hatten von Kirche und Staat bereits im Februar bei der ersten Sitzung des Runden Tischs eine Entschädigung, worauf Vollmer allerdings zurückhaltend reagiert hatte.
ase/AP
Mittwoch, Juni 17, 2009
NZZ: Die Früchte des Zorns - Wenn der Wirtschaftsboom endet, brechen für China politisch raue Zeiten an
15. Juni 2009, Neue Zürcher Zeitung
Die Früchte des Zorns
Wenn der Wirtschaftsboom endet, brechen für China politisch raue Zeiten an
Während der Stern Amerikas sinkt, wird China als neue Weltmacht gehandelt. Ein Interview mit dem chinesischen Schriftsteller Yu Hua über die Folgen des Tiananmen-Massakers von 1989 zeigt, dass der wirtschaftliche Boom durch Geschichtsleugnung und Korruption erkauft und die Stabilität des Landes fragil ist. Mit Yu Hua sprach Andreas Breitenstein.
15. Juni 2009, Neue Zürcher Zeitung
Die Früchte des Zorns
Wenn der Wirtschaftsboom endet, brechen für China politisch raue Zeiten an
Während der Stern Amerikas sinkt, wird China als neue Weltmacht gehandelt. Ein Interview mit dem chinesischen Schriftsteller Yu Hua über die Folgen des Tiananmen-Massakers von 1989 zeigt, dass der wirtschaftliche Boom durch Geschichtsleugnung und Korruption erkauft und die Stabilität des Landes fragil ist. Mit Yu Hua sprach Andreas Breitenstein.
Es jährt sich dieser Tage der 20. Jahrestag des Studentenmassakers auf dem Tiananmenplatz in Peking. Was bedeutet Ihnen dieses Datum heute?
Yu Hua: Für Chinesen sind solche runden Jubiläen von einiger Bedeutung. Deswegen habe ich auch im April schon einen Aufsatz zum Jahrestag verfasst. In den zwanzig Jahren, die seit 1989 vergangen sind, hatte ich eigentlich nichts in dieser Hinsicht geleistet. Die Niederschrift war für mich erlösend. Es war mir allerdings die ganze Zeit klar, dass der Artikel in China nicht würde erscheinen können. Es war das erste Mal, dass ich etwas Derartiges zu Papier gebracht habe. Aber ich denke, irgendwann wird es so weit sein, dass solches publiziert werden kann. Die Ereignisse vom 4. Juni waren ein Wendepunkt in der chinesischen Geschichte. China war ja ein sozialistisches Land, und sozialistische Länder haben die Besonderheit, dass die Menschen stark an der Politik Anteil nehmen. Natürlich nur in der Richtung, die von der Regierung vorgegeben ist. Diese Anteilnahme ist damals konzentriert zum Ausbruch gekommen, und zwar in einer Weise, die den Vorgaben der Herrschenden diametral zuwiderlief. In gewisser Weise war es eine politische Begeisterung, die aus der Zeit der Kulturrevolution stammte. Es war wie eine innere Befreiung. Seither allerdings ist es gründlich vorbei mit dem politischen Enthusiasmus.
Verändertes Wertesystem
Was waren die Folgen der Niederschlagung der studentischen Demokratiebewegung?
Das gesamte Wertesystem der Chinesen hat sich verändert. Es gibt heute keine anderen Ziele mehr neben dem, reich zu werden. Der idealistische Wahn der Kulturrevolution ist also umgeschlagen in die Manie des Geldverdienens. Der wirtschaftliche Aufschwung, den China seit den neunziger Jahren genommen hat, war die logische Folge dieses verrückten Strebens nach Reichtum. Ein anderes kommt dazu: Da der 4. Juni 1989 in China seit zwanzig Jahren totgeschwiegen wird, wissen die jüngeren Menschen gar nicht, was damals passiert ist. Die Eltern, die damals womöglich mit dabei waren, haben kein Interesse daran, den Kindern etwas zu erzählen. Zum einen, weil sie selbst starkem Druck ausgesetzt waren, zum andern, weil sie meinen, es könnte für die Kinder sogar schädlich sein, davon zu wissen. Das war auch der Grund, warum ich diesen Artikel geschrieben habe, der mittlerweile (am 31. Mai) in der «New York Times» erschienen ist und viel Zustimmung erfahren hat. Ich wollte mich an die jüngere Generation wenden.
Waren Sie auf dem Tiananmenplatz mit dabei?
Ja sicher, ich habe in Peking an vielen Demonstrationen teilgenommen, allerdings nicht an der vom 3./4. Juni, die mit Gewalt beendet wurde. Damals war ich in einer Familienangelegenheit im Süden unterwegs. Auf dem Rückweg nach Peking habe ich in den frühen Morgenstunden über den Zugfunk die Nachricht von der Niederschlagung des «konterrevolutionären Aufstands» erfahren, wie das damals genannt wurde.
Hatte die 89er Demokratiebewegung überhaupt eine Chance?
Es war von Anfang an klar, dass diese Bewegung nicht erfolgreich sein würde. 1989 war das elfte Jahr der Reform- und Öffnungspolitik von Deng Xiaoping. Damals waren die Bauern die Hauptnutzniesser. Und die Arbeiter, die erst im Lauf der neunziger Jahre wegen des massenhaften Bankrotts der grossen Staatsbetriebe arbeitslos wurden, waren noch nicht Opfer der neuen Politik. Mit andern Worten waren die gesellschaftlichen Widersprüche noch nicht so zugespitzt. Den Zorn, der heute in der chinesischen Gesellschaft nistet, gab es damals noch gar nicht, sondern lediglich ein Gefühl der Unzufriedenheit. Die Losung, unter der sich viele Bürger damals der Studentenbewegung anschlossen, war keineswegs Demokratie. Man wandte sich vielmehr gegen Korruption und Nepotismus. Anfang April war der Vorsitzende der Kommunistischen Partei, Hu Ya Bang, der wegen seiner Demokratisierungsbemühungen beliebt war, gestorben. In der Halle des Volkes gab es eine offizielle Trauerfeier, bei der Deng Xiaoping und die kommunistische Führung anwesend waren. Auf dem Tiananmenplatz vor dem Gebäude hatten sich mehrere zehntausend trauernde Studenten versammelt und eine Petition abgefasst, die sie dem Ministerpräsidenten Li Peng überreichen wollten. Drei Studentenvertreter knieten stundenlang vor der grossen Halle des Volkes, doch es fand sich niemand, der die Petition entgegengenommen hätte. Viele Studenten, die dieser Szene beiwohnten, brachen in Tränen aus, viele andere, darunter auch Pekinger Bürger, machte die arrogante Haltung der Regierenden zornig. Es kam dann zu Auseinandersetzungen zwischen zwei Faktionen innerhalb der KP. Auf der einen Seite der Generalsekretär Zhao Ziyang, der einen gemässigten Kurs verfolgte, auf der anderen die Hardliner. Zhao Ziyangs Staatsbesuch in Korea bot ihnen die Gelegenheit, diesen abzusetzen. Im offiziellen Parteiorgan erschien ein scharfer Leitartikel, der die Studentenaktion als konterrevolutionär geisselte. Noch einmal stieg der Zorn, doch noch wäre die Sache friedlich zu regeln gewesen. Als dann aber im Mai der Ausnahmezustand verhängt wurde, war die Chance vertan. Dabei hat keiner der auf dem Tiananmenplatz Versammelten je damit gerechnet, dass die Soldaten tatsächlich das Feuer eröffnen würden. Die Demonstrationen wurden zunächst als geplante konterrevolutionäre Provokation hingestellt. Ein paar Monate später sprach man nur noch von einem politischen Sturm, danach war von den blutigen Ereignissen überhaupt keine Rede mehr. Seither ist in China eine ganze Generation in Unwissenheit über dieses geschichtliche Ereignis aufgewachsen.
Die KP Chinas hat damals jene Legitimität verloren, die sie seither verzweifelt durch eine boomende Wirtschaft zurückzugewinnen sucht.
Das kann man so sagen, denn auf den Juni 1989 folgte Chinas rasanter wirtschaftlicher Aufstieg, und alle Menschen, ob Linke oder Rechte, vergassen darüber alles andere. Damals waren die Studenten ja ausgezogen, um gegen die Korruption zu protestieren. Dabei war die damalige Korruption nichts im Vergleich zu dem, was heute abläuft. Zwar wird in China Korruption allgemein verabscheut, doch haben die Leute gut damit leben gelernt. Denn die Wirtschaft wächst ständig, seit dreissig Jahren um jährlich mehr als neun Prozent. Gegenüber diesem rasanten Fortschritt erscheint alles andere als «Peanuts». Allerdings kann es nicht ewig so weitergehen mit dem Wirtschaftswunder. Es kommt der Tag, wo es schwindet, wir sind inzwischen so weit. Und genau dies ist die Zeit, in der das Verleugnete und Vernachlässigte wieder in den Mittelpunkt rückt. Heute sind die Empfindlichkeiten anders als 1989: Man darf nicht vergessen, dass die freiheitlich gesinnten Studenten der achtziger Jahre alle die Katastrophe der Kulturrevolution erlebt hatten. Sie wussten, was ein Leben in Armut bedeutet, und sie erkannten, dass die Unfreiheit, in der sie leben mussten, der Grund für diese Armut war. Die heutige Studentengeneration ist aufgewachsen in einer Zeit des Aufschwungs. Sie hat keine Ahnung von Armut, sie erfreut sich absoluter persönlicher Freiheit. Die Jungen können alles machen, solange sie nicht die Partei direkt angreifen oder ihre Herrschaft in Frage stellen. China ist schon ein seltsames Land: Auf der einen Seite leben wir immer noch unter der Diktatur einer Partei, die mit administrativen Massnahmen alles bestimmen kann, auf der anderen Seite aber sind wir viel freier als im Westen. So können wir andere nach Herzenslust verleumden, ohne dass wir zur Verantwortung gezogen werden. Nur die Regierung kritisieren geht nicht. Nun aber stagniert die Wirtschaft, so dass viele Wanderarbeiter nach Hause geschickt werden. Doch auch viele Uni-Absolventen finden keine Arbeit. Es gibt im Moment rund sieben Millionen arbeitslose Hochschulabsolventen. Und Ende Juni kommen weitere sechs Millionen auf den Arbeitsmarkt. Für viele Kinder aus armen Familien ist das Hochschulstudium der einzige Weg des Aufstiegs. Inzwischen wollen viele von ihnen gar nicht mehr an der Zulassungsprüfung teilnehmen.
Wirtschaftswunder und Gewalt
Heisst das, dass sich etwas zusammenbraut?
Das ist schwer vorauszusagen. Aber wenn diese Hochschulabsolventen ein paar harte Jahre durchgemacht haben, werden sie sich in ihrem Denken jenem der 89er Generation annähern.
Viele Länder Ostasiens haben in jüngster Zeit den Weg einer rasenden Modernisierung eingeschlagen. Einen traumatisierten politischen Willen zum Vergessen hat es dazu gar nicht gebraucht.
Es gibt einen wesentlichen Unterschied zu Japan, Südkorea oder Taiwan. Die Entwicklungen dort finden unter den Bedingungen politischer Transparenz statt. In China jedoch herrscht das Gegenteil. Nehmen Sie etwa die Bautätigkeit: Wenn man ein altes städtisches Wohngebiet abreissen und etwas Neues bauen möchte, ist das in Südkorea gar nicht so einfach. Wenn die Eigentümer oder Mieter nicht zustimmen, sind den Behörden die Hände gebunden. Ganz anders in China, da entscheidet die Regierung, dass abgerissen wird. Und dann wird abgerissen! Setzt sich jemand zur Wehr, kommt die Polizei, und kaum ist die Verhaftung erfolgt, sind auch schon die Bagger da. In unserem Wirtschaftswunder steckt eine Menge Gewalt.
Vielleicht sind die meisten Leute, die da umgesiedelt werden, gar nicht so unglücklich. Ihr Lebensstandard erhöht sich sprunghaft in den modernen Überbauungen, in die sie umgesiedelt werden.
Gewiss, es ist wohl sogar die Mehrheit, die ganz gern in modernen Wohnungen lebt. Aber China ist eine Gesellschaft, wo das Gute und das Schlechte untrennbar miteinander verbunden sind. Auf der einen Seite bewirkt der zentralistische Dirigismus der Regierung, dass der wirtschaftliche Fortschritt ungeahnt schnell ist. Auf der anderen Seite kommt es aber auch zu einer ungeahnten Zuspitzung ökonomischer Widersprüche. Jetzt, wo Sand im Getriebe der Wirtschaft ist, werden viele soziale Probleme zum Ausbruch kommen.
Ist Chinas Grundübel nicht die Wurzellosigkeit? Die Kulturrevolution hat das Land brutal von der konfuzianischen Tradition abgeschnitten und eine haltlose Gesellschaft hinterlassen. Heute sucht man im Nationalismus einen Anker. Wie kann China zu seinen Wurzeln zurückfinden?
Am Anfang der Öffnungspolitik hat Deng Xiaoping einen berühmten Satz gesagt: «Wir müssen für unseren Weg über den Fluss die Stellen aussuchen, wo wir Steine finden, auf die wir treten können.» Und so, wie das in den letzten dreissig Jahren gegangen ist, sind wir ständig auf der Suche nach solchen Trittsteinen gewesen. Wir haben nie gewusst, wo der nächste Stein ist, wo wir Halt finden. Es ist schon erstaunlich, dass in dieser Zeit nicht viel mehr Leute ertrunken sind. Und wir wissen auch nicht, ob sich bald vor uns ein Abgrund auftut, in den wir hineinstürzen werden. Das hat insgesamt zu einer dramatischen Sicht auf die Dinge geführt: Die Regierung erzählt immer etwas von grossen Zielen, aber in Wirklichkeit tasten wir uns im Ungewissen voran. Es gibt ja noch einen anderen bekannten Satz von Deng nach dem Ende der Kulturrevolution: «Es ist ganz gleich, ob eine Katze schwarz oder weiss ist. Solange sie Mäuse fängt, ist sie eine gute Katze.» Was heisst: Ob man es nun Sozialismus oder Kapitalismus nennt, Hauptsache, es bringt Geld. Deswegen ist das System, mit dem wir es zurzeit in China zu tun haben, weder Sozialismus noch Kapitalismus. Oder anders gesagt: Es ist beides, Kapitalismus und Sozialismus.
Was ist denn das Kommunistische an der KP heutzutage? Die Ideologie ist doch längst implodiert.
Niemand redet mehr vom Kommunismus. Nur unsere Funktionäre noch. Doch auch sie glauben nicht mehr daran. In der Schule wird der Kommunismus nach aussen hin weiter propagiert. Aber die Kinder hören gar nicht zu. Sie leben ja in einer Umgebung, die solche Lehren auf Schritt und Tritt ad absurdum führt.
Keine alternative Kraft
Es gibt ja noch ein anderes China – Taiwan, das sich aus diktatorischen Verhältnissen herausgearbeitet hat. Und auch Südkorea hat eine Militärdiktatur abgeworfen. Es gibt Modelle dafür, eine Tyrannei friedlich zu überwinden.
Sicher gibt es das. Aber ich sehe für China keinen gangbaren Weg. Die Kommunistische Partei übt nach wie vor die absolute Kontrolle aus. Und es gibt keine Kraft, welche sie als Führungskraft ersetzen könnte. Sobald sich eine solche zeigen würde, würde sie sofort liquidiert werden.
Können Sie sich ein demokratisches China überhaupt vorstellen? China hat ja so gut wie keine demokratische Tradition.
Es kommt darauf an, was man unter Demokratie versteht. Für die absolute Mehrheit der chinesischen Bevölkerung ist die Freiheit, die sie heute geniesst, genug. Ihr Massstab ist die Kulturrevolution, nicht der Westen. Ich halte es nicht für sehr realistisch, für China ein westliches Demokratiemodell zu postulieren. Das liegt daran, dass die Vergangenheit Chinas und die Vergangenheit des Westens eben doch zu unterschiedlich sind. Auch gibt es grosse Unterschiede zwischen orientalischer Demokratie und okzidentaler Demokratie. Nehmen wir Indien und Pakistan, die ja als Demokratien gelten. Da liegt die Macht mehr oder minder in den Händen bestimmter Familien.
Ist China als Land nicht einfach zu gross? Braucht es eine Zentralgewalt, damit es nicht zerfällt?
Wir brauchen gar nicht so weit in der Geschichte zurückzugehen. Wir hatten nach dem Untergang des chinesischen Kaiserreichs 1911 eine Periode, wo das Land nach aussen hin, als Republik China, noch einheitlich war, aber in Wirklichkeit zerfiel es in die Einflussbereiche von «Warlords», die in ihrer jeweiligen Machtsphäre mehr oder weniger uneingeschränkt herrschten. Erst 1949 gelang es Mao Zedong, China wieder unter einheitliche Kontrolle zu bringen. Wir dürfen nicht vergessen, dass es in China 56 verschiedene Nationalitäten gibt, unter denen die Han-Chinesen nur die grösste sind. Ohne eine starke Zentralregierung wird immer die Gefahr bestehen, dass sich das Land spaltet. Ich halte eine autoritäre Zentralmacht immer noch für das kleinere Übel als einen blutigen inneren Zerfall.
Vor dem Mao-Mausoleum auf dem Tiananmenplatz stehen täglich lange Besucherschlangen. Wer pilgert denn heute noch zum «roten Kaiser»?
Sie müssen wissen, dass sich in China viele Leute nach Mao zurücksehnen. Viele sind dem Tempo der Entwicklung einfach nicht gewachsen. Ich bemühe nochmals das Sprichwort: Zwischen zwei Übeln wählt man das kleinere. Selbst in der Kulturrevolution verlief das Leben der Menschen in ruhigen Bahnen, es gab damals keinerlei Konkurrenz. Heute hingegen ist die chinesische Gesellschaft absolut kompetitiv. Wer auf der Strecke bleibt, wünscht sich die alten Zeiten zurück.
Ein literarischer Star Chinas
A. Bn. Yu Hua ist nicht nur ein freidenkender Intellektueller, sondern vor allem auch ein grosser Dichter, wovon sein grandioser Roman «Brüder» zeugt, der diesen August in deutscher Übersetzung bei S. Fischer erscheint. 1960 in der ostchinesischen Provinz Zhejiang geboren, hat Yu Hua als Zahnarzt praktiziert, bevor er Schriftsteller wurde. Er lebt heute in Peking. Sein Roman «Leben!» wurde von Zhang Yimou verfilmt, der damit in Cannes 1994 den Grossen Preis der Regie gewann. Während Teile des Buches in China Schullektüre sind, ist der Film bis heute verboten. In zwei Bänden erschienen, wurde «Brüder» in China ein 1,5-Millionen-Bestseller. Warum der Roman, der als magisch-realistisches Welttheater den Bogen schlägt von der Kulturrevolution bis zum Wirtschaftsboom und mit beidem ebenso witzig wie böse abrechnet, die Zensur passieren konnte, bleibt dem westlichen Leser ein Rätsel. Gemäss Yu Hua gibt es unterschiedliche Zensurbehörden und keine einheitlichen Massstäbe. Die literarische Zensur obliege den Verlagen selbst, doch da sich diese unter starkem Erfolgsdruck bewegten, seien sie geneigt, ein politisches Risiko einzugehen. China sei eben «ein seltsames Land».
Die Früchte des Zorns
Wenn der Wirtschaftsboom endet, brechen für China politisch raue Zeiten an
Während der Stern Amerikas sinkt, wird China als neue Weltmacht gehandelt. Ein Interview mit dem chinesischen Schriftsteller Yu Hua über die Folgen des Tiananmen-Massakers von 1989 zeigt, dass der wirtschaftliche Boom durch Geschichtsleugnung und Korruption erkauft und die Stabilität des Landes fragil ist. Mit Yu Hua sprach Andreas Breitenstein.
15. Juni 2009, Neue Zürcher Zeitung
Die Früchte des Zorns
Wenn der Wirtschaftsboom endet, brechen für China politisch raue Zeiten an
Während der Stern Amerikas sinkt, wird China als neue Weltmacht gehandelt. Ein Interview mit dem chinesischen Schriftsteller Yu Hua über die Folgen des Tiananmen-Massakers von 1989 zeigt, dass der wirtschaftliche Boom durch Geschichtsleugnung und Korruption erkauft und die Stabilität des Landes fragil ist. Mit Yu Hua sprach Andreas Breitenstein.
Es jährt sich dieser Tage der 20. Jahrestag des Studentenmassakers auf dem Tiananmenplatz in Peking. Was bedeutet Ihnen dieses Datum heute?
Yu Hua: Für Chinesen sind solche runden Jubiläen von einiger Bedeutung. Deswegen habe ich auch im April schon einen Aufsatz zum Jahrestag verfasst. In den zwanzig Jahren, die seit 1989 vergangen sind, hatte ich eigentlich nichts in dieser Hinsicht geleistet. Die Niederschrift war für mich erlösend. Es war mir allerdings die ganze Zeit klar, dass der Artikel in China nicht würde erscheinen können. Es war das erste Mal, dass ich etwas Derartiges zu Papier gebracht habe. Aber ich denke, irgendwann wird es so weit sein, dass solches publiziert werden kann. Die Ereignisse vom 4. Juni waren ein Wendepunkt in der chinesischen Geschichte. China war ja ein sozialistisches Land, und sozialistische Länder haben die Besonderheit, dass die Menschen stark an der Politik Anteil nehmen. Natürlich nur in der Richtung, die von der Regierung vorgegeben ist. Diese Anteilnahme ist damals konzentriert zum Ausbruch gekommen, und zwar in einer Weise, die den Vorgaben der Herrschenden diametral zuwiderlief. In gewisser Weise war es eine politische Begeisterung, die aus der Zeit der Kulturrevolution stammte. Es war wie eine innere Befreiung. Seither allerdings ist es gründlich vorbei mit dem politischen Enthusiasmus.
Verändertes Wertesystem
Was waren die Folgen der Niederschlagung der studentischen Demokratiebewegung?
Das gesamte Wertesystem der Chinesen hat sich verändert. Es gibt heute keine anderen Ziele mehr neben dem, reich zu werden. Der idealistische Wahn der Kulturrevolution ist also umgeschlagen in die Manie des Geldverdienens. Der wirtschaftliche Aufschwung, den China seit den neunziger Jahren genommen hat, war die logische Folge dieses verrückten Strebens nach Reichtum. Ein anderes kommt dazu: Da der 4. Juni 1989 in China seit zwanzig Jahren totgeschwiegen wird, wissen die jüngeren Menschen gar nicht, was damals passiert ist. Die Eltern, die damals womöglich mit dabei waren, haben kein Interesse daran, den Kindern etwas zu erzählen. Zum einen, weil sie selbst starkem Druck ausgesetzt waren, zum andern, weil sie meinen, es könnte für die Kinder sogar schädlich sein, davon zu wissen. Das war auch der Grund, warum ich diesen Artikel geschrieben habe, der mittlerweile (am 31. Mai) in der «New York Times» erschienen ist und viel Zustimmung erfahren hat. Ich wollte mich an die jüngere Generation wenden.
Waren Sie auf dem Tiananmenplatz mit dabei?
Ja sicher, ich habe in Peking an vielen Demonstrationen teilgenommen, allerdings nicht an der vom 3./4. Juni, die mit Gewalt beendet wurde. Damals war ich in einer Familienangelegenheit im Süden unterwegs. Auf dem Rückweg nach Peking habe ich in den frühen Morgenstunden über den Zugfunk die Nachricht von der Niederschlagung des «konterrevolutionären Aufstands» erfahren, wie das damals genannt wurde.
Hatte die 89er Demokratiebewegung überhaupt eine Chance?
Es war von Anfang an klar, dass diese Bewegung nicht erfolgreich sein würde. 1989 war das elfte Jahr der Reform- und Öffnungspolitik von Deng Xiaoping. Damals waren die Bauern die Hauptnutzniesser. Und die Arbeiter, die erst im Lauf der neunziger Jahre wegen des massenhaften Bankrotts der grossen Staatsbetriebe arbeitslos wurden, waren noch nicht Opfer der neuen Politik. Mit andern Worten waren die gesellschaftlichen Widersprüche noch nicht so zugespitzt. Den Zorn, der heute in der chinesischen Gesellschaft nistet, gab es damals noch gar nicht, sondern lediglich ein Gefühl der Unzufriedenheit. Die Losung, unter der sich viele Bürger damals der Studentenbewegung anschlossen, war keineswegs Demokratie. Man wandte sich vielmehr gegen Korruption und Nepotismus. Anfang April war der Vorsitzende der Kommunistischen Partei, Hu Ya Bang, der wegen seiner Demokratisierungsbemühungen beliebt war, gestorben. In der Halle des Volkes gab es eine offizielle Trauerfeier, bei der Deng Xiaoping und die kommunistische Führung anwesend waren. Auf dem Tiananmenplatz vor dem Gebäude hatten sich mehrere zehntausend trauernde Studenten versammelt und eine Petition abgefasst, die sie dem Ministerpräsidenten Li Peng überreichen wollten. Drei Studentenvertreter knieten stundenlang vor der grossen Halle des Volkes, doch es fand sich niemand, der die Petition entgegengenommen hätte. Viele Studenten, die dieser Szene beiwohnten, brachen in Tränen aus, viele andere, darunter auch Pekinger Bürger, machte die arrogante Haltung der Regierenden zornig. Es kam dann zu Auseinandersetzungen zwischen zwei Faktionen innerhalb der KP. Auf der einen Seite der Generalsekretär Zhao Ziyang, der einen gemässigten Kurs verfolgte, auf der anderen die Hardliner. Zhao Ziyangs Staatsbesuch in Korea bot ihnen die Gelegenheit, diesen abzusetzen. Im offiziellen Parteiorgan erschien ein scharfer Leitartikel, der die Studentenaktion als konterrevolutionär geisselte. Noch einmal stieg der Zorn, doch noch wäre die Sache friedlich zu regeln gewesen. Als dann aber im Mai der Ausnahmezustand verhängt wurde, war die Chance vertan. Dabei hat keiner der auf dem Tiananmenplatz Versammelten je damit gerechnet, dass die Soldaten tatsächlich das Feuer eröffnen würden. Die Demonstrationen wurden zunächst als geplante konterrevolutionäre Provokation hingestellt. Ein paar Monate später sprach man nur noch von einem politischen Sturm, danach war von den blutigen Ereignissen überhaupt keine Rede mehr. Seither ist in China eine ganze Generation in Unwissenheit über dieses geschichtliche Ereignis aufgewachsen.
Die KP Chinas hat damals jene Legitimität verloren, die sie seither verzweifelt durch eine boomende Wirtschaft zurückzugewinnen sucht.
Das kann man so sagen, denn auf den Juni 1989 folgte Chinas rasanter wirtschaftlicher Aufstieg, und alle Menschen, ob Linke oder Rechte, vergassen darüber alles andere. Damals waren die Studenten ja ausgezogen, um gegen die Korruption zu protestieren. Dabei war die damalige Korruption nichts im Vergleich zu dem, was heute abläuft. Zwar wird in China Korruption allgemein verabscheut, doch haben die Leute gut damit leben gelernt. Denn die Wirtschaft wächst ständig, seit dreissig Jahren um jährlich mehr als neun Prozent. Gegenüber diesem rasanten Fortschritt erscheint alles andere als «Peanuts». Allerdings kann es nicht ewig so weitergehen mit dem Wirtschaftswunder. Es kommt der Tag, wo es schwindet, wir sind inzwischen so weit. Und genau dies ist die Zeit, in der das Verleugnete und Vernachlässigte wieder in den Mittelpunkt rückt. Heute sind die Empfindlichkeiten anders als 1989: Man darf nicht vergessen, dass die freiheitlich gesinnten Studenten der achtziger Jahre alle die Katastrophe der Kulturrevolution erlebt hatten. Sie wussten, was ein Leben in Armut bedeutet, und sie erkannten, dass die Unfreiheit, in der sie leben mussten, der Grund für diese Armut war. Die heutige Studentengeneration ist aufgewachsen in einer Zeit des Aufschwungs. Sie hat keine Ahnung von Armut, sie erfreut sich absoluter persönlicher Freiheit. Die Jungen können alles machen, solange sie nicht die Partei direkt angreifen oder ihre Herrschaft in Frage stellen. China ist schon ein seltsames Land: Auf der einen Seite leben wir immer noch unter der Diktatur einer Partei, die mit administrativen Massnahmen alles bestimmen kann, auf der anderen Seite aber sind wir viel freier als im Westen. So können wir andere nach Herzenslust verleumden, ohne dass wir zur Verantwortung gezogen werden. Nur die Regierung kritisieren geht nicht. Nun aber stagniert die Wirtschaft, so dass viele Wanderarbeiter nach Hause geschickt werden. Doch auch viele Uni-Absolventen finden keine Arbeit. Es gibt im Moment rund sieben Millionen arbeitslose Hochschulabsolventen. Und Ende Juni kommen weitere sechs Millionen auf den Arbeitsmarkt. Für viele Kinder aus armen Familien ist das Hochschulstudium der einzige Weg des Aufstiegs. Inzwischen wollen viele von ihnen gar nicht mehr an der Zulassungsprüfung teilnehmen.
Wirtschaftswunder und Gewalt
Heisst das, dass sich etwas zusammenbraut?
Das ist schwer vorauszusagen. Aber wenn diese Hochschulabsolventen ein paar harte Jahre durchgemacht haben, werden sie sich in ihrem Denken jenem der 89er Generation annähern.
Viele Länder Ostasiens haben in jüngster Zeit den Weg einer rasenden Modernisierung eingeschlagen. Einen traumatisierten politischen Willen zum Vergessen hat es dazu gar nicht gebraucht.
Es gibt einen wesentlichen Unterschied zu Japan, Südkorea oder Taiwan. Die Entwicklungen dort finden unter den Bedingungen politischer Transparenz statt. In China jedoch herrscht das Gegenteil. Nehmen Sie etwa die Bautätigkeit: Wenn man ein altes städtisches Wohngebiet abreissen und etwas Neues bauen möchte, ist das in Südkorea gar nicht so einfach. Wenn die Eigentümer oder Mieter nicht zustimmen, sind den Behörden die Hände gebunden. Ganz anders in China, da entscheidet die Regierung, dass abgerissen wird. Und dann wird abgerissen! Setzt sich jemand zur Wehr, kommt die Polizei, und kaum ist die Verhaftung erfolgt, sind auch schon die Bagger da. In unserem Wirtschaftswunder steckt eine Menge Gewalt.
Vielleicht sind die meisten Leute, die da umgesiedelt werden, gar nicht so unglücklich. Ihr Lebensstandard erhöht sich sprunghaft in den modernen Überbauungen, in die sie umgesiedelt werden.
Gewiss, es ist wohl sogar die Mehrheit, die ganz gern in modernen Wohnungen lebt. Aber China ist eine Gesellschaft, wo das Gute und das Schlechte untrennbar miteinander verbunden sind. Auf der einen Seite bewirkt der zentralistische Dirigismus der Regierung, dass der wirtschaftliche Fortschritt ungeahnt schnell ist. Auf der anderen Seite kommt es aber auch zu einer ungeahnten Zuspitzung ökonomischer Widersprüche. Jetzt, wo Sand im Getriebe der Wirtschaft ist, werden viele soziale Probleme zum Ausbruch kommen.
Ist Chinas Grundübel nicht die Wurzellosigkeit? Die Kulturrevolution hat das Land brutal von der konfuzianischen Tradition abgeschnitten und eine haltlose Gesellschaft hinterlassen. Heute sucht man im Nationalismus einen Anker. Wie kann China zu seinen Wurzeln zurückfinden?
Am Anfang der Öffnungspolitik hat Deng Xiaoping einen berühmten Satz gesagt: «Wir müssen für unseren Weg über den Fluss die Stellen aussuchen, wo wir Steine finden, auf die wir treten können.» Und so, wie das in den letzten dreissig Jahren gegangen ist, sind wir ständig auf der Suche nach solchen Trittsteinen gewesen. Wir haben nie gewusst, wo der nächste Stein ist, wo wir Halt finden. Es ist schon erstaunlich, dass in dieser Zeit nicht viel mehr Leute ertrunken sind. Und wir wissen auch nicht, ob sich bald vor uns ein Abgrund auftut, in den wir hineinstürzen werden. Das hat insgesamt zu einer dramatischen Sicht auf die Dinge geführt: Die Regierung erzählt immer etwas von grossen Zielen, aber in Wirklichkeit tasten wir uns im Ungewissen voran. Es gibt ja noch einen anderen bekannten Satz von Deng nach dem Ende der Kulturrevolution: «Es ist ganz gleich, ob eine Katze schwarz oder weiss ist. Solange sie Mäuse fängt, ist sie eine gute Katze.» Was heisst: Ob man es nun Sozialismus oder Kapitalismus nennt, Hauptsache, es bringt Geld. Deswegen ist das System, mit dem wir es zurzeit in China zu tun haben, weder Sozialismus noch Kapitalismus. Oder anders gesagt: Es ist beides, Kapitalismus und Sozialismus.
Was ist denn das Kommunistische an der KP heutzutage? Die Ideologie ist doch längst implodiert.
Niemand redet mehr vom Kommunismus. Nur unsere Funktionäre noch. Doch auch sie glauben nicht mehr daran. In der Schule wird der Kommunismus nach aussen hin weiter propagiert. Aber die Kinder hören gar nicht zu. Sie leben ja in einer Umgebung, die solche Lehren auf Schritt und Tritt ad absurdum führt.
Keine alternative Kraft
Es gibt ja noch ein anderes China – Taiwan, das sich aus diktatorischen Verhältnissen herausgearbeitet hat. Und auch Südkorea hat eine Militärdiktatur abgeworfen. Es gibt Modelle dafür, eine Tyrannei friedlich zu überwinden.
Sicher gibt es das. Aber ich sehe für China keinen gangbaren Weg. Die Kommunistische Partei übt nach wie vor die absolute Kontrolle aus. Und es gibt keine Kraft, welche sie als Führungskraft ersetzen könnte. Sobald sich eine solche zeigen würde, würde sie sofort liquidiert werden.
Können Sie sich ein demokratisches China überhaupt vorstellen? China hat ja so gut wie keine demokratische Tradition.
Es kommt darauf an, was man unter Demokratie versteht. Für die absolute Mehrheit der chinesischen Bevölkerung ist die Freiheit, die sie heute geniesst, genug. Ihr Massstab ist die Kulturrevolution, nicht der Westen. Ich halte es nicht für sehr realistisch, für China ein westliches Demokratiemodell zu postulieren. Das liegt daran, dass die Vergangenheit Chinas und die Vergangenheit des Westens eben doch zu unterschiedlich sind. Auch gibt es grosse Unterschiede zwischen orientalischer Demokratie und okzidentaler Demokratie. Nehmen wir Indien und Pakistan, die ja als Demokratien gelten. Da liegt die Macht mehr oder minder in den Händen bestimmter Familien.
Ist China als Land nicht einfach zu gross? Braucht es eine Zentralgewalt, damit es nicht zerfällt?
Wir brauchen gar nicht so weit in der Geschichte zurückzugehen. Wir hatten nach dem Untergang des chinesischen Kaiserreichs 1911 eine Periode, wo das Land nach aussen hin, als Republik China, noch einheitlich war, aber in Wirklichkeit zerfiel es in die Einflussbereiche von «Warlords», die in ihrer jeweiligen Machtsphäre mehr oder weniger uneingeschränkt herrschten. Erst 1949 gelang es Mao Zedong, China wieder unter einheitliche Kontrolle zu bringen. Wir dürfen nicht vergessen, dass es in China 56 verschiedene Nationalitäten gibt, unter denen die Han-Chinesen nur die grösste sind. Ohne eine starke Zentralregierung wird immer die Gefahr bestehen, dass sich das Land spaltet. Ich halte eine autoritäre Zentralmacht immer noch für das kleinere Übel als einen blutigen inneren Zerfall.
Vor dem Mao-Mausoleum auf dem Tiananmenplatz stehen täglich lange Besucherschlangen. Wer pilgert denn heute noch zum «roten Kaiser»?
Sie müssen wissen, dass sich in China viele Leute nach Mao zurücksehnen. Viele sind dem Tempo der Entwicklung einfach nicht gewachsen. Ich bemühe nochmals das Sprichwort: Zwischen zwei Übeln wählt man das kleinere. Selbst in der Kulturrevolution verlief das Leben der Menschen in ruhigen Bahnen, es gab damals keinerlei Konkurrenz. Heute hingegen ist die chinesische Gesellschaft absolut kompetitiv. Wer auf der Strecke bleibt, wünscht sich die alten Zeiten zurück.
Ein literarischer Star Chinas
A. Bn. Yu Hua ist nicht nur ein freidenkender Intellektueller, sondern vor allem auch ein grosser Dichter, wovon sein grandioser Roman «Brüder» zeugt, der diesen August in deutscher Übersetzung bei S. Fischer erscheint. 1960 in der ostchinesischen Provinz Zhejiang geboren, hat Yu Hua als Zahnarzt praktiziert, bevor er Schriftsteller wurde. Er lebt heute in Peking. Sein Roman «Leben!» wurde von Zhang Yimou verfilmt, der damit in Cannes 1994 den Grossen Preis der Regie gewann. Während Teile des Buches in China Schullektüre sind, ist der Film bis heute verboten. In zwei Bänden erschienen, wurde «Brüder» in China ein 1,5-Millionen-Bestseller. Warum der Roman, der als magisch-realistisches Welttheater den Bogen schlägt von der Kulturrevolution bis zum Wirtschaftsboom und mit beidem ebenso witzig wie böse abrechnet, die Zensur passieren konnte, bleibt dem westlichen Leser ein Rätsel. Gemäss Yu Hua gibt es unterschiedliche Zensurbehörden und keine einheitlichen Massstäbe. Die literarische Zensur obliege den Verlagen selbst, doch da sich diese unter starkem Erfolgsdruck bewegten, seien sie geneigt, ein politisches Risiko einzugehen. China sei eben «ein seltsames Land».
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Dienstag, Juni 16, 2009
Montag, Juni 15, 2009
Mark Knopfler - Notting Hillbillies
When it comes to you
Feels like going home
Your own sweet way
Water of Love
Feels like going home
Your own sweet way
Water of Love
Sonntag, Juni 14, 2009
Einsteins View of Religion - Einsteins Sicht des Religiösen
The Guardian 13.05.2008
An abridgement of the letter from Albert Einstein to Eric Gutkind from Princeton in January 1954, translated from German by Joan Stambaugh. It will be sold at Bloomsbury auctions on Thursday
... I read a great deal in the last days of your book, and thank you very much for sending it to me. What especially struck me about it was this. With regard to the factual attitude to life and to the human community we have a great deal in common.
... The word God is for me nothing more than the expression and.....
The Guardian 13.05.2008
An abridgement of the letter from Albert Einstein to Eric Gutkind from Princeton in January 1954, translated from German by Joan Stambaugh. It will be sold at Bloomsbury auctions on Thursday
... I read a great deal in the last days of your book, and thank you very much for sending it to me. What especially struck me about it was this. With regard to the factual attitude to life and to the human community we have a great deal in common.
... The word God is for me nothing more than the expression and product of human weaknesses, the Bible a collection of honourable, but still primitive legends which are nevertheless pretty childish. No interpretation no matter how subtle can (for me) change this. These subtilised interpretations are highly manifold according to their nature and have almost nothing to do with the original text. For me the Jewish religion like all other religions is an incarnation of the most childish superstitions. And the Jewish people to whom I gladly belong and with whose mentality I have a deep affinity have no different quality for me than all other people. As far as my experience goes, they are also no better than other human groups, although they are protected from the worst cancers by a lack of power. Otherwise I cannot see anything 'chosen' about them.
In general I find it painful that you claim a privileged position and try to defend it by two walls of pride, an external one as a man and an internal one as a Jew. As a man you claim, so to speak, a dispensation from causality otherwise accepted, as a Jew the priviliege of monotheism. But a limited causality is no longer a causality at all, as our wonderful Spinoza recognized with all incision, probably as the first one. And the animistic interpretations of the religions of nature are in principle not annulled by monopolisation. With such walls we can only attain a certain self-deception, but our moral efforts are not furthered by them. On the contrary.
Now that I have quite openly stated our differences in intellectual convictions it is still clear to me that we are quite close to each other in essential things, ie in our evalutations of human behaviour. What separates us are only intellectual 'props' and 'rationalisation' in Freud's language. Therefore I think that we would understand each other quite well if we talked about concrete things. With friendly thanks and best wishes
Yours, A. Einstein
Einstein's letter: God and superstition
This article was first published on guardian.co.uk at 11.58 BST on Tuesday 13 May 2008. It appeared in the Guardian on Tuesday 13 May 2008 on p3 of the Top stories section. It was last updated at 11.58 BST on Tuesday 13 May 2008.
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... I read a great deal in the last days of your book, and thank you very much for sending it to me. What especially struck me about it was this. With regard to the factual attitude to life and to the human community we have a great deal in common.
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The Guardian 13.05.2008
An abridgement of the letter from Albert Einstein to Eric Gutkind from Princeton in January 1954, translated from German by Joan Stambaugh. It will be sold at Bloomsbury auctions on Thursday
... I read a great deal in the last days of your book, and thank you very much for sending it to me. What especially struck me about it was this. With regard to the factual attitude to life and to the human community we have a great deal in common.
... The word God is for me nothing more than the expression and product of human weaknesses, the Bible a collection of honourable, but still primitive legends which are nevertheless pretty childish. No interpretation no matter how subtle can (for me) change this. These subtilised interpretations are highly manifold according to their nature and have almost nothing to do with the original text. For me the Jewish religion like all other religions is an incarnation of the most childish superstitions. And the Jewish people to whom I gladly belong and with whose mentality I have a deep affinity have no different quality for me than all other people. As far as my experience goes, they are also no better than other human groups, although they are protected from the worst cancers by a lack of power. Otherwise I cannot see anything 'chosen' about them.
In general I find it painful that you claim a privileged position and try to defend it by two walls of pride, an external one as a man and an internal one as a Jew. As a man you claim, so to speak, a dispensation from causality otherwise accepted, as a Jew the priviliege of monotheism. But a limited causality is no longer a causality at all, as our wonderful Spinoza recognized with all incision, probably as the first one. And the animistic interpretations of the religions of nature are in principle not annulled by monopolisation. With such walls we can only attain a certain self-deception, but our moral efforts are not furthered by them. On the contrary.
Now that I have quite openly stated our differences in intellectual convictions it is still clear to me that we are quite close to each other in essential things, ie in our evalutations of human behaviour. What separates us are only intellectual 'props' and 'rationalisation' in Freud's language. Therefore I think that we would understand each other quite well if we talked about concrete things. With friendly thanks and best wishes
Yours, A. Einstein
Einstein's letter: God and superstition
This article was first published on guardian.co.uk at 11.58 BST on Tuesday 13 May 2008. It appeared in the Guardian on Tuesday 13 May 2008 on p3 of the Top stories section. It was last updated at 11.58 BST on Tuesday 13 May 2008.
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Samstag, Juni 13, 2009
TA- Nicht nur das Elite-Sperma kann denken
Tages Anzeiger Online 10.09.2009
Nicht nur das Elite-Sperma kann denken
Von Philipp Sarasin.
So wird die Chance auf höhere Bildung verbaut: Der Historiker Philipp Sarasin beklagt die planwirtschaftliche Eliteförderung in der Zürcher Bildungspolitik.
Philipp SarasinPhilipp Sarasin ist Professor für Neuere Geschichte am Historischen Seminar der Universität Zürich.
Vor wenigen Tagen konnte man im Tages-Anzeiger und auf Tagesanzeiger.ch/Newsnetz lesen, dass die Zürcher Bildungsdirektion die Gymnasien angewiesen hat, bei den Aufnahmeprüfungen den Notendurchschnitt für den.....
Tages Anzeiger Online 10.09.2009
Nicht nur das Elite-Sperma kann denken
Von Philipp Sarasin.
So wird die Chance auf höhere Bildung verbaut: Der Historiker Philipp Sarasin beklagt die planwirtschaftliche Eliteförderung in der Zürcher Bildungspolitik.
Philipp Sarasin ist Professor für Neuere Geschichte am Historischen Seminar der Universität Zürich.
Vor wenigen Tagen konnte man im Tages-Anzeiger und auf Tagesanzeiger.ch/Newsnetz lesen, dass die Zürcher Bildungsdirektion die Gymnasien angewiesen hat, bei den Aufnahmeprüfungen den Notendurchschnitt für den Deutsch-Aufsatz auf höchstens 3,8 festzulegen: auf «ungenügend». Warum? Es sollten, so sagen die Bildungspolitiker, nicht mehr als 20 Prozent eines Schüler-Jahrgangs die Matura erhalten, weil sonst angeblich das «Gefüge» von Gymnasium, Sekundarschule und Realschule «durcheinandergerate», das Niveau in der Sek-A sinke, und das im Gymi sowieso. Weil aber nicht nur bürgerliche Bildungspolitiker auf diese Weise ans Gymnasium denken, sondern gleichzeitig guten Sozialdemokraten die Sekundarschüler am Herzen liegen, scheint der bildungspolitische Kompromiss unerschütterlich: Gott oder die Regierung bewahre, dass mehr als ein Fünftel die Chance auf eine höhere Bildung erhält.
«Keine Sorge, ihr schafft das schon, schliesslich stammt ihr von Elite-Sperma ab!»
Man fragt sich, was hier eigentlich geschieht. Als Erstes kam mir bei der Lektüre dieser Meldung eine Situation aus meinem Seminar in den Sinn, in dem wir das Thema «Rassenhygiene um 1900» behandelten, und zwar anhand eines Textes des «Vaters» der deutschen Rassenhygiene, Alfred Ploetz, der nicht ganz zufällig in Zürich beim Psychiater und Eugeniker August Forel studiert hatte. Ploetz beschreibt in seinem Buch von 1895, wie der «Kampf ums Dasein» schon im «Vaginalschlauch» beginne, wenn die besten Spermien in einem Wettrennen darum ringen, wer die Eizelle befruchten darf. In der Diskussion sagte ein Student, das erinnere ihn an seinen Klassenlehrer in einem Zürcher Gymnasium, der sie vor den Maturaprüfungen mit den Worten beruhigt habe: «Keine Sorge, ihr schafft das schon, schliesslich stammt ihr von Elite-Sperma ab!»
Nein – ich unterstelle nicht, dass auch nur eine nennenswerte Minderheit von Bildungspolitikern oder Lehrern so biologistisch denkt. Aber es ist in Zürich immerhin möglich, einen solchen Satz zu äussern, und auch wenn man sich nicht auf «gutes» Sperma beziehen möchte, so scheint doch die Regel zu gelten, dass diejenigen, die das Gymnasium mit der Matura in der Hand wieder verlassen, zu einer Elite gehören sollen, die nur dann Elite bleiben kann, wenn man sie künstlich klein hält. Der Zürichberg ist schliesslich auch nicht gross.
Auch fähige Schüler sollen sich nicht für höhere Bildung qualifizieren können
Was geschieht hier? An der Universität Zürich ist es uns Professoren offiziell verboten, bei den Aufnahmeprüfungen für neue Studiengänge im Voraus eine Obergrenze für Zulassungen festzulegen und die Bewertungen nach dieser Grenze auszurichten. Wer sich in unseren Prüfungen qualifiziert, muss in den Studiengang aufgenommen werden. Doch die an der Universität untersagte Form der Limitierung von Bildungschancen ist offizielle Leitlinie für den Zugang zu den Zürcher Gymnasien. Man will, dass die meisten Schüler sich nicht für eine höhere Bildung qualifizieren können, selbst wenn sie dazu befähigt wären. Die Intelligenz-Forschung hat nachgewiesen, dass der IQ im internationalen Durchschnitt stetig ansteigt, und wer Kinder hat, weiss, dass nicht zuletzt ein historisch einzigartiges Medienangebot unseren Kindern schon früh Bildungsinhalte (und auch manches andere) erschliesst. Die Kids werden schlauer, gewitzter, sind gebildeter, können sich geschickter ausdrücken, wissen früh schon mit Hochdeutsch und Englisch umzugehen und sind mediengewandt. Aber das soll ihnen nichts nützen, weil dieser Zustrom von immer mehr jungen Menschen zu den mit einer guten Ausbildung verknüpften gesellschaftlichen Positionen viele konservative Geister auf der Rechten wie der Linken offenbar verunsichert.
Wer das Gymi schaffen könnte, soll lieber Kameraden in der Sek helfen
Daher verbündet sich die unverhohlene Elitebildung mit der anrührenden Sorge ums «Handwerk» und dem Lob auf die «Ehrlichkeit» von «richtiger» Arbeit. Daher auch geht der elitäre Bildungsdünkel Hand in Hand mit der leider nur gut gemeinten Idee, dass die, sagen wir, zusätzlichen 5 oder 10 Prozent, die das Gymi auch schaffen könnten, doch lieber ihren Kameraden in der Sekundarschule helfen sollen, sich nicht so alleine zu fühlen - statt dass man dort kräftig investiert, Schulklassen verkleinert und die Lehrer besser bezahlt. Aber das ist eine andere Geschichte.
Die Formung einer Elite jedenfalls ist ohne Härte nicht zu haben. Ich denke dabei an einen weiss Gott cleveren und überaus fleissigen 13-jährigen Buben aus dem Bekanntenkreis, der von seiner beruflich hochqualifizierten Mutter richtiggehend gecoacht werden musste bei der schwierigen Probezeit im Gymnasium - nach bestandener Aufnahmeprüfung, notabene -, zu deren Beginn den Kindern von ihren Lehrern gesagt wurde: «In einem halben Jahr machts hier mehr Spass, wenn ein Drittel von euch nicht mehr da ist.»
Schön, dass die Mutter ihre freiberufliche Arbeit reduzieren konnte, um ihrem Jungen beizustehen, wenn er in der Mathematikprüfung eine ganze Note Abzug erhielt, weil er vergessen hatte, zwischen zwei (richtigen) Rechnungen einen sauberen Strich zu ziehen. Er hat die Probezeit dann trotzdem bestanden. Erfahren hat er dies in einer dramatischen und tränenreichen Schulstunde, in der die Lehrer ihren 13-jährigen Schutzbefohlenen mitteilten, wer bleiben darf und wen sie nach den Ferien nicht mehr sehen wollen. Auf die Frage eines Schülers, wo er dann in die Schule gehen soll, antwortete der Lehrer: «Das ist nicht mein Problem.»
Die Falle der Bescheidenheit
Was geschieht hier? Welche Vorstellungen von «Elite» und gesellschaftlicher Hierarchie werden hier in blanker Härte und nonchalantem Zynismus an unseren Kindern durchgesetzt? Welche Vorstellungen hat wer vom sogenannten «Volk», das offenbar eine planwirtschaftlich festgelegte 80-Prozent-Mehrheit von Nicht-Maturanden sein soll - in einem Land, in dem immer wieder der «Forschungsplatz Schweiz» und der «Rohstoff Bildung» beschworen werden?
Es liegt mir fern, etwas Schlechtes über das duale System der Berufsbildung zu sagen, und es ist tatsächlich so, dass im Bereich von Diplom-Mittelschulen und mit der Fachmaturität viele Ausbildungs- und Berufschancen etwa im Sozialbereich, in kaufmännischen oder technischen Berufen bestehen. Da ist die Schweiz im internationalen Vergleich sehr gut positioniert. Aber reicht das? Vielleicht ist gerade das gute Angebot im Bereich der Berufsbildung und der Fachhochschulen die Falle, in die unsere Bildungspolitik tappt: die Falle der Bescheidenheit.
Ein Aufenthalt meines Sohnes im Kinderspital hat mir einen kleinen Berufskosmos enthüllt, der vielleicht nicht untypisch ist (ich vereinfache nur leicht): Das Putzpersonal kommt aus Serbien, die Pflegerinnen kommen aus Südeuropa, die Krankenschwestern aus der Schweiz und Deutschland - und die Ärzte aus Deutschland und vielen anderen EU-Ländern. Ich habe den Eindruck, dass das kein Zufall ist. Bekanntlich stammen etwa an der Uni Zürich geschätzte 50 Prozent der Professorinnen und Professoren aus dem Ausland - die meisten wiederum aus Deutschland -, und viele Topkader der Wirtschaft gingen nicht in Zürich ins Gymi (und in Thun in die Offiziersschule), sondern studierten in Berlin, Oxford oder Yale. Man weiss zudem, dass die Industrie unter einem eklatanten Mangel an Ingenieuren und anderen Spezialisten leidet.
Chancen des Schweizer Nachwuchses schwinden
Nun, ich finde es an sich schön, wenn Finnen, Inder und Vietnamesen zu uns kommen, um unsere Computer zu programmieren oder unsere Kinder zu kurieren. Ich selbst arbeite mit so vielen Kolleginnen und Kollegen aus Deutschland zusammen, dass ich es (fast) nicht mehr merke. Aber wieso sollen die Hürden zur akademischen Ausbildung für unsere eigenen Kinder besonders hoch sein? Warum will man nicht, dass in einer Stadt wie Zürich mit so vielen exzellenten, nicht selten international erfolgreichen Berufstätigen nur ein Fünftel der Jugendlichen überhaupt die Chance erhält, sich für die Universität oder die ETH zu qualifizieren? Es ist erschreckend, was für ein muffig-rückständiges Bild die Schweiz in Gestalt ihrer Bildungspolitik von sich selbst hat: Wir möchten zwar das politische Stammtisch- und «Arena»-Räsonieren ganz für uns selbst behalten, doch das professionelle Denken (dieser kalte Sport, der skeptisch macht und nicht selten von der Heimat entfremdet), das mögen wir Schweizer nicht. Es ist beschämend, dass die hiesige Bildungspolitik sich nicht traut, einen substanziellen Teil der Jugend so zu fördern, wie es ihren Leistungen und ihren Fähigkeiten entsprechen würde.
Vielleicht liegt das daran, dass man im Land der Hirten, Bauern und Banker, der KMU und Berufsschulen nicht wirklich an akademische Bildung glaubt. Und dass man hier von jeher opportunistisch genug war, um die Ressourcen, die man nicht besitzt, und die Luxusgüter, die man haben möchte, auf dem Weltmarkt einzukaufen. Wieso also nicht auch Professoren, Ärzte und CEO? Ich habe kein Problem mit den «globalisierenden» Effekten, die das mit sich bringt. Doch die Globalisierung verstärkt auch den Konkurrenzdruck auf dem Markt für hochqualifizierte Arbeitskräfte. Ich beobachte schon in meinem Umfeld, wie die Chancen des Schweizer Nachwuchses schwinden - andere sind oft gewiefter, schneller, kreativer.
Man muss kein Nationalist sein, um das zu beklagen, und auch nicht, um hier Abhilfe zu fordern. Wir können es uns jedenfalls nicht mehr leisten, dass linke wie rechte Kleingeister das gesellschaftliche «Gefüge» in Gefahr sehen, wenn zu viele Schüler zu gute Aufsätze schreiben.
(Tages-Anzeiger)
Erstellt: 10.06.2009, 07:52 Uhr
Nicht nur das Elite-Sperma kann denken
Von Philipp Sarasin.
So wird die Chance auf höhere Bildung verbaut: Der Historiker Philipp Sarasin beklagt die planwirtschaftliche Eliteförderung in der Zürcher Bildungspolitik.
Philipp SarasinPhilipp Sarasin ist Professor für Neuere Geschichte am Historischen Seminar der Universität Zürich.
Vor wenigen Tagen konnte man im Tages-Anzeiger und auf Tagesanzeiger.ch/Newsnetz lesen, dass die Zürcher Bildungsdirektion die Gymnasien angewiesen hat, bei den Aufnahmeprüfungen den Notendurchschnitt für den.....
Tages Anzeiger Online 10.09.2009
Nicht nur das Elite-Sperma kann denken
Von Philipp Sarasin.
So wird die Chance auf höhere Bildung verbaut: Der Historiker Philipp Sarasin beklagt die planwirtschaftliche Eliteförderung in der Zürcher Bildungspolitik.
Philipp Sarasin ist Professor für Neuere Geschichte am Historischen Seminar der Universität Zürich.
Vor wenigen Tagen konnte man im Tages-Anzeiger und auf Tagesanzeiger.ch/Newsnetz lesen, dass die Zürcher Bildungsdirektion die Gymnasien angewiesen hat, bei den Aufnahmeprüfungen den Notendurchschnitt für den Deutsch-Aufsatz auf höchstens 3,8 festzulegen: auf «ungenügend». Warum? Es sollten, so sagen die Bildungspolitiker, nicht mehr als 20 Prozent eines Schüler-Jahrgangs die Matura erhalten, weil sonst angeblich das «Gefüge» von Gymnasium, Sekundarschule und Realschule «durcheinandergerate», das Niveau in der Sek-A sinke, und das im Gymi sowieso. Weil aber nicht nur bürgerliche Bildungspolitiker auf diese Weise ans Gymnasium denken, sondern gleichzeitig guten Sozialdemokraten die Sekundarschüler am Herzen liegen, scheint der bildungspolitische Kompromiss unerschütterlich: Gott oder die Regierung bewahre, dass mehr als ein Fünftel die Chance auf eine höhere Bildung erhält.
«Keine Sorge, ihr schafft das schon, schliesslich stammt ihr von Elite-Sperma ab!»
Man fragt sich, was hier eigentlich geschieht. Als Erstes kam mir bei der Lektüre dieser Meldung eine Situation aus meinem Seminar in den Sinn, in dem wir das Thema «Rassenhygiene um 1900» behandelten, und zwar anhand eines Textes des «Vaters» der deutschen Rassenhygiene, Alfred Ploetz, der nicht ganz zufällig in Zürich beim Psychiater und Eugeniker August Forel studiert hatte. Ploetz beschreibt in seinem Buch von 1895, wie der «Kampf ums Dasein» schon im «Vaginalschlauch» beginne, wenn die besten Spermien in einem Wettrennen darum ringen, wer die Eizelle befruchten darf. In der Diskussion sagte ein Student, das erinnere ihn an seinen Klassenlehrer in einem Zürcher Gymnasium, der sie vor den Maturaprüfungen mit den Worten beruhigt habe: «Keine Sorge, ihr schafft das schon, schliesslich stammt ihr von Elite-Sperma ab!»
Nein – ich unterstelle nicht, dass auch nur eine nennenswerte Minderheit von Bildungspolitikern oder Lehrern so biologistisch denkt. Aber es ist in Zürich immerhin möglich, einen solchen Satz zu äussern, und auch wenn man sich nicht auf «gutes» Sperma beziehen möchte, so scheint doch die Regel zu gelten, dass diejenigen, die das Gymnasium mit der Matura in der Hand wieder verlassen, zu einer Elite gehören sollen, die nur dann Elite bleiben kann, wenn man sie künstlich klein hält. Der Zürichberg ist schliesslich auch nicht gross.
Auch fähige Schüler sollen sich nicht für höhere Bildung qualifizieren können
Was geschieht hier? An der Universität Zürich ist es uns Professoren offiziell verboten, bei den Aufnahmeprüfungen für neue Studiengänge im Voraus eine Obergrenze für Zulassungen festzulegen und die Bewertungen nach dieser Grenze auszurichten. Wer sich in unseren Prüfungen qualifiziert, muss in den Studiengang aufgenommen werden. Doch die an der Universität untersagte Form der Limitierung von Bildungschancen ist offizielle Leitlinie für den Zugang zu den Zürcher Gymnasien. Man will, dass die meisten Schüler sich nicht für eine höhere Bildung qualifizieren können, selbst wenn sie dazu befähigt wären. Die Intelligenz-Forschung hat nachgewiesen, dass der IQ im internationalen Durchschnitt stetig ansteigt, und wer Kinder hat, weiss, dass nicht zuletzt ein historisch einzigartiges Medienangebot unseren Kindern schon früh Bildungsinhalte (und auch manches andere) erschliesst. Die Kids werden schlauer, gewitzter, sind gebildeter, können sich geschickter ausdrücken, wissen früh schon mit Hochdeutsch und Englisch umzugehen und sind mediengewandt. Aber das soll ihnen nichts nützen, weil dieser Zustrom von immer mehr jungen Menschen zu den mit einer guten Ausbildung verknüpften gesellschaftlichen Positionen viele konservative Geister auf der Rechten wie der Linken offenbar verunsichert.
Wer das Gymi schaffen könnte, soll lieber Kameraden in der Sek helfen
Daher verbündet sich die unverhohlene Elitebildung mit der anrührenden Sorge ums «Handwerk» und dem Lob auf die «Ehrlichkeit» von «richtiger» Arbeit. Daher auch geht der elitäre Bildungsdünkel Hand in Hand mit der leider nur gut gemeinten Idee, dass die, sagen wir, zusätzlichen 5 oder 10 Prozent, die das Gymi auch schaffen könnten, doch lieber ihren Kameraden in der Sekundarschule helfen sollen, sich nicht so alleine zu fühlen - statt dass man dort kräftig investiert, Schulklassen verkleinert und die Lehrer besser bezahlt. Aber das ist eine andere Geschichte.
Die Formung einer Elite jedenfalls ist ohne Härte nicht zu haben. Ich denke dabei an einen weiss Gott cleveren und überaus fleissigen 13-jährigen Buben aus dem Bekanntenkreis, der von seiner beruflich hochqualifizierten Mutter richtiggehend gecoacht werden musste bei der schwierigen Probezeit im Gymnasium - nach bestandener Aufnahmeprüfung, notabene -, zu deren Beginn den Kindern von ihren Lehrern gesagt wurde: «In einem halben Jahr machts hier mehr Spass, wenn ein Drittel von euch nicht mehr da ist.»
Schön, dass die Mutter ihre freiberufliche Arbeit reduzieren konnte, um ihrem Jungen beizustehen, wenn er in der Mathematikprüfung eine ganze Note Abzug erhielt, weil er vergessen hatte, zwischen zwei (richtigen) Rechnungen einen sauberen Strich zu ziehen. Er hat die Probezeit dann trotzdem bestanden. Erfahren hat er dies in einer dramatischen und tränenreichen Schulstunde, in der die Lehrer ihren 13-jährigen Schutzbefohlenen mitteilten, wer bleiben darf und wen sie nach den Ferien nicht mehr sehen wollen. Auf die Frage eines Schülers, wo er dann in die Schule gehen soll, antwortete der Lehrer: «Das ist nicht mein Problem.»
Die Falle der Bescheidenheit
Was geschieht hier? Welche Vorstellungen von «Elite» und gesellschaftlicher Hierarchie werden hier in blanker Härte und nonchalantem Zynismus an unseren Kindern durchgesetzt? Welche Vorstellungen hat wer vom sogenannten «Volk», das offenbar eine planwirtschaftlich festgelegte 80-Prozent-Mehrheit von Nicht-Maturanden sein soll - in einem Land, in dem immer wieder der «Forschungsplatz Schweiz» und der «Rohstoff Bildung» beschworen werden?
Es liegt mir fern, etwas Schlechtes über das duale System der Berufsbildung zu sagen, und es ist tatsächlich so, dass im Bereich von Diplom-Mittelschulen und mit der Fachmaturität viele Ausbildungs- und Berufschancen etwa im Sozialbereich, in kaufmännischen oder technischen Berufen bestehen. Da ist die Schweiz im internationalen Vergleich sehr gut positioniert. Aber reicht das? Vielleicht ist gerade das gute Angebot im Bereich der Berufsbildung und der Fachhochschulen die Falle, in die unsere Bildungspolitik tappt: die Falle der Bescheidenheit.
Ein Aufenthalt meines Sohnes im Kinderspital hat mir einen kleinen Berufskosmos enthüllt, der vielleicht nicht untypisch ist (ich vereinfache nur leicht): Das Putzpersonal kommt aus Serbien, die Pflegerinnen kommen aus Südeuropa, die Krankenschwestern aus der Schweiz und Deutschland - und die Ärzte aus Deutschland und vielen anderen EU-Ländern. Ich habe den Eindruck, dass das kein Zufall ist. Bekanntlich stammen etwa an der Uni Zürich geschätzte 50 Prozent der Professorinnen und Professoren aus dem Ausland - die meisten wiederum aus Deutschland -, und viele Topkader der Wirtschaft gingen nicht in Zürich ins Gymi (und in Thun in die Offiziersschule), sondern studierten in Berlin, Oxford oder Yale. Man weiss zudem, dass die Industrie unter einem eklatanten Mangel an Ingenieuren und anderen Spezialisten leidet.
Chancen des Schweizer Nachwuchses schwinden
Nun, ich finde es an sich schön, wenn Finnen, Inder und Vietnamesen zu uns kommen, um unsere Computer zu programmieren oder unsere Kinder zu kurieren. Ich selbst arbeite mit so vielen Kolleginnen und Kollegen aus Deutschland zusammen, dass ich es (fast) nicht mehr merke. Aber wieso sollen die Hürden zur akademischen Ausbildung für unsere eigenen Kinder besonders hoch sein? Warum will man nicht, dass in einer Stadt wie Zürich mit so vielen exzellenten, nicht selten international erfolgreichen Berufstätigen nur ein Fünftel der Jugendlichen überhaupt die Chance erhält, sich für die Universität oder die ETH zu qualifizieren? Es ist erschreckend, was für ein muffig-rückständiges Bild die Schweiz in Gestalt ihrer Bildungspolitik von sich selbst hat: Wir möchten zwar das politische Stammtisch- und «Arena»-Räsonieren ganz für uns selbst behalten, doch das professionelle Denken (dieser kalte Sport, der skeptisch macht und nicht selten von der Heimat entfremdet), das mögen wir Schweizer nicht. Es ist beschämend, dass die hiesige Bildungspolitik sich nicht traut, einen substanziellen Teil der Jugend so zu fördern, wie es ihren Leistungen und ihren Fähigkeiten entsprechen würde.
Vielleicht liegt das daran, dass man im Land der Hirten, Bauern und Banker, der KMU und Berufsschulen nicht wirklich an akademische Bildung glaubt. Und dass man hier von jeher opportunistisch genug war, um die Ressourcen, die man nicht besitzt, und die Luxusgüter, die man haben möchte, auf dem Weltmarkt einzukaufen. Wieso also nicht auch Professoren, Ärzte und CEO? Ich habe kein Problem mit den «globalisierenden» Effekten, die das mit sich bringt. Doch die Globalisierung verstärkt auch den Konkurrenzdruck auf dem Markt für hochqualifizierte Arbeitskräfte. Ich beobachte schon in meinem Umfeld, wie die Chancen des Schweizer Nachwuchses schwinden - andere sind oft gewiefter, schneller, kreativer.
Man muss kein Nationalist sein, um das zu beklagen, und auch nicht, um hier Abhilfe zu fordern. Wir können es uns jedenfalls nicht mehr leisten, dass linke wie rechte Kleingeister das gesellschaftliche «Gefüge» in Gefahr sehen, wenn zu viele Schüler zu gute Aufsätze schreiben.
(Tages-Anzeiger)
Erstellt: 10.06.2009, 07:52 Uhr
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