Samstag, Juni 13, 2009

TA- Nicht nur das Elite-Sperma kann denken

Tages Anzeiger Online 10.09.2009
Nicht nur das Elite-Sperma kann denken
Von Philipp Sarasin.

So wird die Chance auf höhere Bildung verbaut: Der Historiker Philipp Sarasin beklagt die planwirtschaftliche Eliteförderung in der Zürcher Bildungspolitik.

Philipp SarasinPhilipp Sarasin ist Professor für Neuere Geschichte am Historischen Seminar der Universität Zürich.

Vor wenigen Tagen konnte man im Tages-Anzeiger und auf Tagesanzeiger.ch/Newsnetz lesen, dass die Zürcher Bildungsdirektion die Gymnasien angewiesen hat, bei den Aufnahmeprüfungen den Notendurchschnitt für den.....


Tages Anzeiger Online 10.09.2009
Nicht nur das Elite-Sperma kann denken
Von Philipp Sarasin.

So wird die Chance auf höhere Bildung verbaut: Der Historiker Philipp Sarasin beklagt die planwirtschaftliche Eliteförderung in der Zürcher Bildungspolitik.

Philipp Sarasin ist Professor für Neuere Geschichte am Historischen Seminar der Universität Zürich.

Vor wenigen Tagen konnte man im Tages-Anzeiger und auf Tagesanzeiger.ch/Newsnetz lesen, dass die Zürcher Bildungsdirektion die Gymnasien angewiesen hat, bei den Aufnahmeprüfungen den Notendurchschnitt für den Deutsch-Aufsatz auf höchstens 3,8 festzulegen: auf «ungenügend». Warum? Es sollten, so sagen die Bildungspolitiker, nicht mehr als 20 Prozent eines Schüler-Jahrgangs die Matura erhalten, weil sonst angeblich das «Gefüge» von Gymnasium, Sekundarschule und Realschule «durcheinandergerate», das Niveau in der Sek-A sinke, und das im Gymi sowieso. Weil aber nicht nur bürgerliche Bildungspolitiker auf diese Weise ans Gymnasium denken, sondern gleichzeitig guten Sozialdemokraten die Sekundarschüler am Herzen liegen, scheint der bildungspolitische Kompromiss unerschütterlich: Gott oder die Regierung bewahre, dass mehr als ein Fünftel die Chance auf eine höhere Bildung erhält.

«Keine Sorge, ihr schafft das schon, schliesslich stammt ihr von Elite-Sperma ab!»

Man fragt sich, was hier eigentlich geschieht. Als Erstes kam mir bei der Lektüre dieser Meldung eine Situation aus meinem Seminar in den Sinn, in dem wir das Thema «Rassenhygiene um 1900» behandelten, und zwar anhand eines Textes des «Vaters» der deutschen Rassenhygiene, Alfred Ploetz, der nicht ganz zufällig in Zürich beim Psychiater und Eugeniker August Forel studiert hatte. Ploetz beschreibt in seinem Buch von 1895, wie der «Kampf ums Dasein» schon im «Vaginalschlauch» beginne, wenn die besten Spermien in einem Wettrennen darum ringen, wer die Eizelle befruchten darf. In der Diskussion sagte ein Student, das erinnere ihn an seinen Klassenlehrer in einem Zürcher Gymnasium, der sie vor den Maturaprüfungen mit den Worten beruhigt habe: «Keine Sorge, ihr schafft das schon, schliesslich stammt ihr von Elite-Sperma ab!»

Nein – ich unterstelle nicht, dass auch nur eine nennenswerte Minderheit von Bildungspolitikern oder Lehrern so biologistisch denkt. Aber es ist in Zürich immerhin möglich, einen solchen Satz zu äussern, und auch wenn man sich nicht auf «gutes» Sperma beziehen möchte, so scheint doch die Regel zu gelten, dass diejenigen, die das Gymnasium mit der Matura in der Hand wieder verlassen, zu einer Elite gehören sollen, die nur dann Elite bleiben kann, wenn man sie künstlich klein hält. Der Zürichberg ist schliesslich auch nicht gross.

Auch fähige Schüler sollen sich nicht für höhere Bildung qualifizieren können

Was geschieht hier? An der Universität Zürich ist es uns Professoren offiziell verboten, bei den Aufnahmeprüfungen für neue Studiengänge im Voraus eine Obergrenze für Zulassungen festzulegen und die Bewertungen nach dieser Grenze auszurichten. Wer sich in unseren Prüfungen qualifiziert, muss in den Studiengang aufgenommen werden. Doch die an der Universität untersagte Form der Limitierung von Bildungschancen ist offizielle Leitlinie für den Zugang zu den Zürcher Gymnasien. Man will, dass die meisten Schüler sich nicht für eine höhere Bildung qualifizieren können, selbst wenn sie dazu befähigt wären. Die Intelligenz-Forschung hat nachgewiesen, dass der IQ im internationalen Durchschnitt stetig ansteigt, und wer Kinder hat, weiss, dass nicht zuletzt ein historisch einzigartiges Medienangebot unseren Kindern schon früh Bildungsinhalte (und auch manches andere) erschliesst. Die Kids werden schlauer, gewitzter, sind gebildeter, können sich geschickter ausdrücken, wissen früh schon mit Hochdeutsch und Englisch umzugehen und sind mediengewandt. Aber das soll ihnen nichts nützen, weil dieser Zustrom von immer mehr jungen Menschen zu den mit einer guten Ausbildung verknüpften gesellschaftlichen Positionen viele konservative Geister auf der Rechten wie der Linken offenbar verunsichert.

Wer das Gymi schaffen könnte, soll lieber Kameraden in der Sek helfen

Daher verbündet sich die unverhohlene Elitebildung mit der anrührenden Sorge ums «Handwerk» und dem Lob auf die «Ehrlichkeit» von «richtiger» Arbeit. Daher auch geht der elitäre Bildungsdünkel Hand in Hand mit der leider nur gut gemeinten Idee, dass die, sagen wir, zusätzlichen 5 oder 10 Prozent, die das Gymi auch schaffen könnten, doch lieber ihren Kameraden in der Sekundarschule helfen sollen, sich nicht so alleine zu fühlen - statt dass man dort kräftig investiert, Schulklassen verkleinert und die Lehrer besser bezahlt. Aber das ist eine andere Geschichte.

Die Formung einer Elite jedenfalls ist ohne Härte nicht zu haben. Ich denke dabei an einen weiss Gott cleveren und überaus fleissigen 13-jährigen Buben aus dem Bekanntenkreis, der von seiner beruflich hochqualifizierten Mutter richtiggehend gecoacht werden musste bei der schwierigen Probezeit im Gymnasium - nach bestandener Aufnahmeprüfung, notabene -, zu deren Beginn den Kindern von ihren Lehrern gesagt wurde: «In einem halben Jahr machts hier mehr Spass, wenn ein Drittel von euch nicht mehr da ist.»

Schön, dass die Mutter ihre freiberufliche Arbeit reduzieren konnte, um ihrem Jungen beizustehen, wenn er in der Mathematikprüfung eine ganze Note Abzug erhielt, weil er vergessen hatte, zwischen zwei (richtigen) Rechnungen einen sauberen Strich zu ziehen. Er hat die Probezeit dann trotzdem bestanden. Erfahren hat er dies in einer dramatischen und tränenreichen Schulstunde, in der die Lehrer ihren 13-jährigen Schutzbefohlenen mitteilten, wer bleiben darf und wen sie nach den Ferien nicht mehr sehen wollen. Auf die Frage eines Schülers, wo er dann in die Schule gehen soll, antwortete der Lehrer: «Das ist nicht mein Problem.»

Die Falle der Bescheidenheit

Was geschieht hier? Welche Vorstellungen von «Elite» und gesellschaftlicher Hierarchie werden hier in blanker Härte und nonchalantem Zynismus an unseren Kindern durchgesetzt? Welche Vorstellungen hat wer vom sogenannten «Volk», das offenbar eine planwirtschaftlich festgelegte 80-Prozent-Mehrheit von Nicht-Maturanden sein soll - in einem Land, in dem immer wieder der «Forschungsplatz Schweiz» und der «Rohstoff Bildung» beschworen werden?

Es liegt mir fern, etwas Schlechtes über das duale System der Berufsbildung zu sagen, und es ist tatsächlich so, dass im Bereich von Diplom-Mittelschulen und mit der Fachmaturität viele Ausbildungs- und Berufschancen etwa im Sozialbereich, in kaufmännischen oder technischen Berufen bestehen. Da ist die Schweiz im internationalen Vergleich sehr gut positioniert. Aber reicht das? Vielleicht ist gerade das gute Angebot im Bereich der Berufsbildung und der Fachhochschulen die Falle, in die unsere Bildungspolitik tappt: die Falle der Bescheidenheit.

Ein Aufenthalt meines Sohnes im Kinderspital hat mir einen kleinen Berufskosmos enthüllt, der vielleicht nicht untypisch ist (ich vereinfache nur leicht): Das Putzpersonal kommt aus Serbien, die Pflegerinnen kommen aus Südeuropa, die Krankenschwestern aus der Schweiz und Deutschland - und die Ärzte aus Deutschland und vielen anderen EU-Ländern. Ich habe den Eindruck, dass das kein Zufall ist. Bekanntlich stammen etwa an der Uni Zürich geschätzte 50 Prozent der Professorinnen und Professoren aus dem Ausland - die meisten wiederum aus Deutschland -, und viele Topkader der Wirtschaft gingen nicht in Zürich ins Gymi (und in Thun in die Offiziersschule), sondern studierten in Berlin, Oxford oder Yale. Man weiss zudem, dass die Industrie unter einem eklatanten Mangel an Ingenieuren und anderen Spezialisten leidet.

Chancen des Schweizer Nachwuchses schwinden

Nun, ich finde es an sich schön, wenn Finnen, Inder und Vietnamesen zu uns kommen, um unsere Computer zu programmieren oder unsere Kinder zu kurieren. Ich selbst arbeite mit so vielen Kolleginnen und Kollegen aus Deutschland zusammen, dass ich es (fast) nicht mehr merke. Aber wieso sollen die Hürden zur akademischen Ausbildung für unsere eigenen Kinder besonders hoch sein? Warum will man nicht, dass in einer Stadt wie Zürich mit so vielen exzellenten, nicht selten international erfolgreichen Berufstätigen nur ein Fünftel der Jugendlichen überhaupt die Chance erhält, sich für die Universität oder die ETH zu qualifizieren? Es ist erschreckend, was für ein muffig-rückständiges Bild die Schweiz in Gestalt ihrer Bildungspolitik von sich selbst hat: Wir möchten zwar das politische Stammtisch- und «Arena»-Räsonieren ganz für uns selbst behalten, doch das professionelle Denken (dieser kalte Sport, der skeptisch macht und nicht selten von der Heimat entfremdet), das mögen wir Schweizer nicht. Es ist beschämend, dass die hiesige Bildungspolitik sich nicht traut, einen substanziellen Teil der Jugend so zu fördern, wie es ihren Leistungen und ihren Fähigkeiten entsprechen würde.

Vielleicht liegt das daran, dass man im Land der Hirten, Bauern und Banker, der KMU und Berufsschulen nicht wirklich an akademische Bildung glaubt. Und dass man hier von jeher opportunistisch genug war, um die Ressourcen, die man nicht besitzt, und die Luxusgüter, die man haben möchte, auf dem Weltmarkt einzukaufen. Wieso also nicht auch Professoren, Ärzte und CEO? Ich habe kein Problem mit den «globalisierenden» Effekten, die das mit sich bringt. Doch die Globalisierung verstärkt auch den Konkurrenzdruck auf dem Markt für hochqualifizierte Arbeitskräfte. Ich beobachte schon in meinem Umfeld, wie die Chancen des Schweizer Nachwuchses schwinden - andere sind oft gewiefter, schneller, kreativer.

Man muss kein Nationalist sein, um das zu beklagen, und auch nicht, um hier Abhilfe zu fordern. Wir können es uns jedenfalls nicht mehr leisten, dass linke wie rechte Kleingeister das gesellschaftliche «Gefüge» in Gefahr sehen, wenn zu viele Schüler zu gute Aufsätze schreiben.

(Tages-Anzeiger)

Erstellt: 10.06.2009, 07:52 Uhr

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