Samstag, Oktober 30, 2010

Die amerikanischen Mythen

Tages Anzeiger Online 28.10.2010
Die amerikanischen Mythen
Von Martin Kilian, Washington.

Was ist aus dem Tellerwäscher geworden? In den Wochen vor den Kongresswahlen ist in den USA eine heftige Diskussion über den Zustand des Landes entbrannt.

Wieder geht das Gespenst des amerikanischen Niedergangs um. Die grosse Rezession, die politische Polarisierung in Washington sowie der Aufstieg von grossen Schwellenländern wie China und Brasilien schüren in den Vereinigten Staaten Angst vor einem allmählichen Bedeutungsverlust. Doch Vorsicht ist geboten: Mehr als einmal wurde den USA ein Absinken in die Mittelmässigkeit attestiert. So verschätzte sich zum Beispiel der Historiker Paul Kennedy 1988 gewaltig, als er den USA wegen «imperialer Überdehnung» den Abstieg vorhersagte. Nicht Amerika implodierte, sondern die Sowjetunion.

Trotzdem hat sich in den Vereinigten Staaten ein diffuses Gefühl ausgebreitet, dass die besten Zeiten womöglich vorbei seien. «Der amerikanische Lebensstandard wird im Vergleich zu anderen Industrienationen und aufstrebenden Schwellenländern abnehmen», schreiben die beiden Ökonomen Brad DeLong und Stephen Cohen. In einer Umfrage des Magazins «Newsweek» glaubten 63 Prozent der Interviewten, dass es mit ihrem Lebensstandard bergab gehen werde. Vizepräsident Joe Biden hingegen will davon nichts wissen: «So viele Leute haben auf unseren Untergang gewettet, es macht mich ganz verrückt», beschwerte er sich.

Ein amerikanischer Niedergang aber würde sich nicht zuletzt einer Mythenbildung verdanken, die das Land über den Rest der Welt erhebt und dabei unangenehme Wahrheiten ausblendet. Vor allem das konservative Amerika...
nimmt zu diesen Mythen Zuflucht – besonders jetzt wieder im Wahlkampf. Darunter leidet nicht nur die Bereitschaft, von anderen Nationen zu lernen. Weil man sich in die Tasche lügt, werden notwendige Korrekturen verhindert. Hier also sind fünf amerikanische Mythen:

Führungsrolle «Wir sind das beste Land der Welt!»

Einzigartig zu sein, war immer Teil des amerikanischen Credos. Amerika, schrieb 1785 Pastor Samuel Wales, sei ein «Weinberg, gepflanzt von Gottes rechter Hand». Präsident Obama bekräftigte kürzlich, niemals würden sich die Amerikaner «damit zufriedengeben, die Nummer zwei zu sein». Ihrem Selbstverständnis nach sind die USA «the greatest country on earth».

Einmal davon abgesehen, dass es so etwas wie ein «bestes Land» nicht gibt, belegen Fakten, dass der amerikanische Anspruch, die Nummer eins zu sein, längst unhaltbar geworden ist. Selbst «Newsweek» stufte die USA unlängst lediglich als elftbeste Nation auf Erden ein, hinter den üblichen Kandidaten wie Finnland oder der Schweiz. Die OECD setzte die USA in einer Studie über die Zufriedenheit der Bürger gleichfalls nur auf den 11. Platz.

Lagen die Vereinigten Staaten 2001 bei der Nutzung von schnellem Internet noch auf Platz 4, so sind sie laut OECD-Angaben in der Zwischenzeit auf Rang 15 abgerutscht. Einer von sechs Amerikanern ist heute entweder arbeitslos oder unterbeschäftigt. Seit 2001 sind 42'400 Fabriken geschlossen worden, die Produktion wurde ausgelagert. Dabei ging fast ein Drittel aller Industriejobs verloren – ein Grund für stagnierende US-Löhne. Dem Ökonomen Alan Blinder zufolge könnten «zwischen 26 und 42 Millionen» weitere Jobs im Dienstleistungssektor ausgelagert werden.

Dafür belegen die USA den Spitzenplatz bei der Zahl der Häftlinge: Fast 2,2?Millionen Amerikaner sitzen hinter Gittern – 738 Menschen pro 100'000 Einwohner. Nur China, der Iran, der Irak und Saudiarabien richten mehr Menschen hin als die USA. Die amerikanische Infrastruktur befindet sich in einem derart erbärmlichen Zustand, dass laut dem Verband der Bauingenieure in den nächsten fünf Jahren 2200 Milliarden Dollar notwendig wären, um einen weiteren Verfall aufzuhalten. Budgetiert ist nicht einmal die Hälfte davon.

Karriere «Nirgendwo gibt es mehr soziale Mobilität!»

Schön wäre es, wenn das amerikanische Ur-Märchen von einem, der es vom Tellerwäscher zum Millionär brachte, noch zuträfe. Leider hat sich die soziale Durchlässigkeit ins Gegenteil verkehrt. Und Chancengleichheit ist gleichfalls eine Sache der Vergangenheit – wenn sie überhaupt jemals existierte. Die Vereinigten Staaten sind jetzt neben Grossbritannien die ungleichste aller westlichen Industriegesellschaften. Gemäss Steuerunterlagen kassierte im Jahr 2007 das reichste Prozent der Bevölkerung 23 Prozent des nationalen Einkommens. 2009 nahmen 74 Topverdiener ebenso viel ein wie 19 Millionen am unteren Ende der Lohnskala.

Glaubt man dem CIA-Faktenhandbuch, dann sind die USA sozial ähnlich ungleich wie die Elfenbeinküste und Jamaika. Da zwischen Ungleichheit und sozialer Mobilität ein Zusammenhang besteht, kam die OECD in einer Studie über Ungleichheit zum Schluss, dass Länder wie Dänemark und Australien über weitaus höhere soziale Mobilität als die USA verfügen. Wer in den Vereinigten Staaten arm aufwächst, hat grössere Chancen, arm zu bleiben, als wenn er in der Schweiz, den Niederlanden oder in skandinavischen Staaten aufwüchse.

In einer OECD-Studie wurde die amerikanische Armutsrate, derzeit knapp 15 Prozent der Bevölkerung, nur von Mexiko und der Türkei übertroffen. Vor allem in den Vorstädten steigt gemäss einer neuen Studie der Brookings Institution die Armut rapide an. Die amerikanische Meritokratie wird unterdessen undurchlässiger: In die oberen Ränge würden «zunehmend die Kinder von denen zugelassen, die bereits Mitglieder sind», so der konservative Soziologe Charles Murray.

Schulen «Unser Bildungswesen ist unübertroffen!»

Für amerikanische Universitäten und besonders Eliteinstitutionen wie Harvard oder Berkeley trifft diese Behauptung zu. Immer mehr Mittelklassefamilien aber können die rapide steigenden Studiengebühren kaum noch bezahlen. Viele Studenten sind daher stark überschuldet nach dem Abschluss. Laut dem College Board, einer Vereinigung amerikanischer Unis und Colleges, waren die USA einst führend bei der Zahl der Universitätsabschlüsse. Nun sei das Land auf den 12. Platz abgerutscht.

Ein Grund dafür ist das vielerorts miserable oder mittelmässige Schulwesen. Bei einer vergleichenden OECD-Studie unter 33 Nationen lagen US-Schüler bei Naturwissenschaften an 22., bei Mathematik sogar an 27. Stelle. «Wir treten auf der Stelle, während uns andere Länder überholt haben», warnte Bildungsminister Arne Duncan neulich. Vorzeitige Schulabgänger sind ebenso ein amerikanisches Problem wie heruntergekommene Schulgebäude, schlecht qualifizierte Lehrer sowie Lehrergewerkschaften, die sich hartnäckig gegen Reformen sperren.

Neue Auswertungen des sogenannten Torrance-Tests ergaben überdies, dass die Kreativität amerikanischer Kinder seit 1990 stetig sinkt. «Die Abnahme ist signifikant», befand die Psychologin Kyung Hee Kim vom College of William and Mary nach der Analyse von 300'000 Testergebnissen. Besonders stark ist die Abnahme bei jüngeren Kindern von der ersten bis zur sechsten Klasse.

Demokratie «Das amerikanische Modell ist wegweisend!»

Liberale Demokratie und offene Märkte bescherten den Amerikanern stets eine bessere Zukunft. Damit könnte es jetzt vorbei sein, nicht zuletzt deshalb, weil der seit Ronald Reagan vorherrschende Marktfundamentalismus schwere Krisen verursacht hat. Der Ruf des amerikanischen Modells ist spätestens seit der Finanzkrise 2007 angekratzt.

Die amerikanische Tragik zu Beginn des 21. Jahrhunderts sei eine «vitale und sich selbst erneuernde Kultur», der ein Regierungssystem gegenüberstehe, das zusehends «ein Witz» sei, klagt der renommierte Publizist James Fallows und erinnert sich an seine Kindheit im Kalifornien der 50er- und 60er-Jahre, als die Autobahnen «neu und schön waren – wie die neuen Strassen, die China jetzt baut».

Der wirtschaftliche Erfolg Chinas und anderer aufstrebender Staaten wie Indien und Brasilien verdankt sich nicht nur dem Markt, sondern auch staatlichen Steuerungsmechanismen. Das amerikanische Modell hat freilich nicht nur deshalb an Faszination verloren: Wieder und wieder beschert es den Vereinigten Staaten suboptimale Lösungen für dringliche Probleme. Ein Vorbild? Vielleicht nicht mehr.

Medizin «Wir haben das beste Gesundheitswesen der Welt!»

Vor allem konservative Gegner der Obama-Gesundheitsreform propagierten diese These unermüdlich. Tatsächlich ist die Medizin nirgendwo fortgeschrittener als in den USA. Aber nirgendwo in der westlichen Welt gibt es mehr Bürger ohne Krankenversicherung und ohne Zugang zu medizinischer Versorgung.

Einer soeben in der Fachzeitschrift «Health Affairs» veröffentlichten Studie zufolge sind die Amerikaner mittlerweile bei der Lebenserwartung auf Platz 49 der Weltrangliste zu finden – obwohl die USA pro Kopf bis zu doppelt so viel für das Gesundheitswesen ausgeben wie vergleichbare Industriestaaten. 1999 landeten die USA in einem Ranking der Weltgesundheitsorganisation (WHO) immerhin noch auf Platz 24. Fast 50 Millionen Unversicherte belasten das Gesundheitswesen ebenso wie fehlende Präventivmedizin oder der steinzeitliche Umgang mit Dokumenten: Immer wieder muss der amerikanische Patient beim Arztbesuch die gleichen Unterlagen ausfüllen, nur langsam werden die Akten computerisiert.

Bei der Kinder- und Säuglingssterblichkeit liegen die USA laut dem National Center for Health Statistics international auf Platz 30, während das Land bei einer Unicef-Untersuchung in 20 Industrienationen über das «Wohlergehen» von Kindern Platz 19 belegte.

Wegen des amerikanischen Lifestyles und angesichts fehlender Präventivmassnahmen sind die USA die fetteste Nation auf Erden. Bereits jetzt sind deshalb 24 Millionen Amerikaner zuckerkrank, 2050 könnte es einer brandneuen Einschätzung des Center for Desease Control and Prevention jeder dritte Amerikaner sein. Auch die OECD befand, die Lebenserwartung der Amerikaner sei «unterdurchschnittlich».

(Tages-Anzeiger)

1 Kommentar:

buch leser hat gesagt…

Die amerikanische Gesellschaft bricht auseinander: Millionen Bürger haben durch die Rezession ihren Job verloren und verarmen, unter ihnen viele Mittelschichtfamilien. Ich hoffe doch sehr, dass die amerikanischen Menschen nicht den Mut verlieren, denn immerhin ist Amerika die führende Nation und eine der grössten Wirtschaftsmachten auf dem Globus. Auch unser Wohl und Wehe als Exportnation hängt daran. Es wäre auch für uns schlimm, wenn Amerika nicht auf die Beine käme.