Montag, November 01, 2010

Aus den sibirischen Weiten zurück ins enge Deutschland

30. Oktober 2010, Neue Zürcher Zeitung
Aus den sibirischen Weiten zurück ins enge Deutschland
Warum die Russlanddeutschen sich hervorragend integrieren


Deutschland spricht obsessiv über seine Muslime. Dabei hat das Land in den letzten Jahren weit mehr sogenannte Aussiedler integrieren müssen. Die Eingliederung der «Russlanddeutschen» ist eine Erfolgsstory.

Ulrich Schmid, Wünsdorf

«Die Russen? Nee. Mit denen wollen wir nichts zu tun haben». Schaler Argwohn verhärtet die Gesichter der Rentnerinnen Brigitte Riegmann und Margarete Sikorski. Nein, sie können sich nicht erinnern, dass es je Probleme mit den «Russen» gegeben habe. Aber denen geht es zu gut, das wissen sie genau. Da schuftet man ein Leben lang, dazu noch in der DDR, zieht Kinder hoch, und was kriegt man dafür? 1211 und 1002 Euro monatlich, Witwenrente inklusive. Die «Russen» aber, sagt Riegmann, die kriegen mehr. «Und alles nur, weil irgendeiner ihrer Schäferhunde einmal etwas Deutsches gebellt hat.»

Die Stadt der Russen

Die Waldstadt bei Wünsdorf, südlich von Berlin, in der Riegmann und Sikorski wohnen, ist ein wunderliches Fleckchen Erde. Unter rötlich leuchtenden Kiefern verstecken sich adrett renovierte Reihenhäuser im sandigen Boden, unschwer als ehemalige Kasernen zu erkennen. Da und dort ragen sperrige Bunkeranlagen aus dem Boden; vor dem Restaurant «Peking-Garten», einst die «Kommandanten-Villa», steht Gagarin in Pop-Star-Pose. Militär hat Tradition in Wünsdorf. Hier befand sich in der Nazizeit ein grosses Spionagezentrum, hier wurden Panzer und V-Waffen («Vergeltungswaffen») getestet, und hier liess sich nach dem Krieg das Oberkommando der Sowjetischen Streitkräfte in Deutschland nieder. Fast 60 000 Russen lebten neben den rund 2700 Wünsdorfern ihr vollkommen eigenes Leben. Für DDR-Bürger war das Areal Sperrgebiet.

Die «Russen», die heute hier leben, haben nichts Martialisches mehr an sich. Alle sind sie sogenannte Spätaussiedler, Menschen mit deutschen Wurzeln, die aus kommunistischen Ländern, meist denen der ehemaligen Sowjetunion, hierhergezogen sind. Dmitri Schwab ist einer von ihnen. Zusammen mit seinem Freund Alexander Lich zieht er, umwirbelt von rotgoldenem Buchenlaub, die Winterreifen auf. Beide sind als Abkömmlinge von Wolgadeutschen aus Kasachstan nach Deutschland gekommen, Dima aus Schymkent im Süden, Sascha aus Pawlodar im sibirischen Norden.

Zwei Herzen, ach!

Dmitri und Alexander wissen, dass «Russen» hier nicht beliebt sind. Aber das lässt sie kalt, und zudem, sagen sie, werde es ja immer besser. Von älteren Deutschen würden....
sie oft abgelehnt, aber mit jungen gebe es kaum Reibereien. Dima und Sascha sind überaus freundlich, ihr Deutsch ist hervorragend, und dass ihr Herz für Kasachstan schlägt, wenn Deutschland in Astana Fussball spielt – wer wollte es ihnen verargen? Sie seien eben sowohl Deutsche als auch Kasachen, sagt Sascha; sie fühlten sich beiden Ländern verbunden, das sei doch normal. Dima ist Schüler. Sascha ist Kaufmann, er besucht Abendkurse, um sich zum Automatisierungs-Elektroniker umschulen zu lassen, für beide ist Deutschland die Zukunft.

Der Integrationswille der jungen «Russen» ist exemplarisch, aber für die hiesigen Medien sonderbarerweise kein Thema. In der überheizten Islamdebatte geht vollkommen unter, dass die Spätaussiedler die mit Abstand grösste Ausländergruppe in Deutschland stellen, wie Reiner Klingholz, Direktor des Berlin-Instituts für Bevölkerung und Entwicklung, im Gespräch unterstreicht. Von den Menschen mit Migrationshintergrund stellen die Spätaussiedler rund 4 Millionen, die Türken lediglich 2,8 Millionen. Und sage niemand, die Integration der einstigen Sowjetmenschen sei eine leichte Aufgabe. Nur ganz wenige sprechen Deutsch. Fast alle müssen zunächst Sprachkurse absolvieren; der altertümelnde Duktus, den sich gewisse Rentner erhalten haben, ist kaum zu verstehen. Und anders als die «echten» Russen in Berlin-Marzahn, die sich bestens integriert haben, anders aber auch als die wohlhabenden und hochgebildeten jüdischen Einwanderer in Charlottenburg waren die Russlanddeutschen oft eher einfache Leute.

Bildung als Schlüssel

Dennoch haben sie es geschafft, und wie. Klingholz wird fast euphorisch: «Die waren kurz mal weg.» Entscheidend für die «Erfolgsstory» der Aussiedler ist laut Klingholz ihre «Bildungsnähe». Anders als bei Immigranten aus Anatolien oder Nordafrika genoss schulische Bildung in der Sowjetunion und geniesst sie in Russland noch immer einen überragenden Stellenwert. Analphabetentum nach amerikanischem Muster ist in Russland unbekannt; selbst Arme und Randständige können lesen und schreiben. Das teure Gut wird weitergegeben – die hier geborenen Aussiedler sind im Vergleich zu den zugewanderten deutlich besser integriert. Aussiedler lernen gut; in der zweiten Generation liegen sie schon klar über dem deutschen Durchschnitt. Und bereits verschwinden sie als ethnische Gruppe. In der zweiten Generation vervierfachen sich die Ehen mit einheimischen Deutschen auf fast 70 Prozent, die Russlanddeutschen werden zu Deutschen.

Doch von diesen Erfolgen erfährt die Öffentlichkeit praktisch nichts. Es scheint, als würden die Russlanddeutschen Opfer einer Haltung, die vor lauter politischer Korrektheit nicht einmal mehr zu konstatieren wagt, dass sich eine Immigrantengruppe besser anpasst als eine andere. Es gäbe einiges zu feiern, aber die Medien sind fast komplett desinteressiert. Alerten Politikern wie dem Sozialdemokraten Peer Steinbrück fällt das auf. Es gebe ja auch noch andere Ethnien, mit denen es Probleme gegeben habe, etwa die Russlanddeutschen, sagte er jüngst im Fernsehen. Dass man so wenig über Russlanddeutsches spricht, hat aber auch einen sehr lapidaren Grund: Sie geniessen sowohl das Recht auf Zuwanderung als auch das auf Staatsbürgerschaft, sie haben einen deutschen Pass und tauchen damit in keiner Statistik auf. Für sie selber ist das, neben der Tatsache, dass sie auf der Strasse nicht auffallen, ein unschätzbarer Vorteil; für die Soziologen, die ohne gesicherte Daten über soziale oder ethnische Gruppen kaum noch belastbare Aussagen machen können, ist es ein Nachteil.

Auch auf der Polizeistelle der Stadt Zossen, die für den Ortsteil Wünsdorf verantwortlich ist, werden die Spätaussiedler nicht separat erfasst. Polizeihauptkommissar Mahnecke kann dennoch mit Bestimmtheit sagen, dass sie nicht auffälliger sind als Deutsche. Rund 600 Aussiedler leben in Wünsdorf; von Konflikten mit Eingesessenen oder schweren Kriminalfällen weiss Mahnecke nichts.

In den frühen neunziger Jahren war das anders. Damals berichteten die Medien oft über Probleme, und nicht alle Berichte entbehrten der Grundlage, wie Ludmila Kopp, Bundesgeschäftsführerin des Vereins «Landsmannschaft der Deutschen aus Russland», bestätigt. Junge Männer erregten durch das Macho-Gehabe Anstoss, das sie aus der Sowjetunion mitgebracht hatten, einige wurden kriminell. Und es wurden Fehler gemacht. Dass beispielsweise in Lahr im Schwarzwald in den neunziger Jahren fast 10 000 Spätaussiedler auf engsten Raum angesiedelt wurden, trieb die Kriminalitätsstatistik arg in die Höhe. Vielerorts galten die Spätaussiedler nun als veritable Problemgruppe.

Verschleppt nach Kasachstan

Seit der Jahrhundertwende aber hat sich die Lage beruhigt, und wenn es zu einem aufsehenerregenden Fall kommt wie dem Mord an einer Ägypterin in einem Gericht in Dresden, begangen von einem Russlanddeutschen im vergangenen Jahr, dann wird nicht mehr reflexhaft zum Klischee der nicht integrierten «Russen» Zuflucht genommen.

Auch Kopp von der Landsmannschaft sieht im positiven Bildungshintergrund der Russlanddeutschen einen Faktor für die gute Integration. Wichtiger aber erscheinen ihr die deutschen Wurzeln, erscheint ihr der «Mythos», der in vielen Familien weiterlebte. Kopp weist darauf hin, dass vor allem in sowjetischen Städten in den letzten 30 bis 40 Jahren eine entwurzelte Generation junger Russlanddeutscher heranwuchs, die kaum noch Verbindungen zur Sprache hatte – dies sei die Gruppe, die Anfang der Neunziger besondere Schwierigkeiten gemacht habe. In den Dörfern seien deutsche Sprache und Kultur aber besser bewahrt worden.

Wie spielend Integration gelingen kann, wenn die Kultur auch in der Fremde lebendig bleibt, demonstriert Irina Kanitschew, die wir in Potsdam treffen. Kanitschew – sie hat die russische Endung fallenlassen – wurde 1972 in Nischni Tagil nördlich von Jekaterinburg im Ural als Tochter eines russischen Bergarbeiters und einer Deutschlehrerin namens Österle geboren. Die Österles waren im 19. Jahrhundert zu Fuss in der Hoffnung auf Arbeit ausgewandert. In Helenendorf, der grössten deutschen Kolonie im Kaukasus (der Ort liegt im heutigen Aserbeidschan), liessen sie sich nieder. Im Zuge der Stalinschen Deportationen verschlug es die Helenendorfer in alle Winde, hauptsächlich nach Kasachstan. Nach dem Krieg, 1956, fanden sie sich wieder und siedelten sich in Nischni Tagil an.

Stille Zufriedenheit

Irina ist nicht aus materieller Not nach Deutschland gekommen. Eigentlich wollte sie gar nicht wegziehen – es war ihre Mutter, die nach dem Tode des Vaters 1995 die Familie zur Ausreise überredete. Als Managerin in einem Heizkessel-Radiatoren-Werk hatte Irina gutes Geld verdient. Ihr Leben gefiel ihr, noch heute liebt sie ihre Heimat. Dennoch fuhr sie 2001 mit Mutter, Mann, Schwester und Neffen nach Deutschland und gelangte nach einem kurzen Aufenthalt im Auffanglager Friedland nach Potsdam. Sie absolvierte Sprachkurse, fand rasch eine Stelle bei der Berlin-Brandenburgischen Auslandsgesellschaft, wechselte später zur Heinrich-Böll-Stiftung und arbeitet heute bei den Grünen.

Man habe sie gut aufgenommen in Deutschland, sagt Irina, sie klage nicht. Heimweh hat sie dennoch. Das Leben hier sei so ruhig, so geregelt. So still. Ihre Freunde in Nischni Tagil seien praktisch alle reicher als sie und wohnten geräumiger, nur arbeiteten sie eben auch sehr viel mehr, und natürlich genössen sie keine Rechtssicherheit.

Irina jedenfalls will bleiben. Sie hat eine Weiterbildung als Bürokauffrau gemacht, belegt Fernkurse an der Verwaltungs- und Wirtschaftsakademie Cottbus und feilt unermüdlich an ihrem bereits fast perfekten Deutsch. Ihr Mann macht als Techniker im Luftschiffhafen Potsdam Karriere, Tochter Luisa, zweieinhalb, spricht fliessend Deutsch und Russisch, wenn die 13-köpfige Grossfamilie zusammenkommt, wird Deutsch gesprochen, wegen der Angeheirateten. Bildung, sagt Irina, komme für sie stets an erster Stelle. Luisa ist bereits jetzt an einer guten Privatschule angemeldet.

Sportliche Prominenz

An Erfolgen fehlt es den Russlanddeutschen also nicht, wohl aber an Prominenten, die auch als Russlanddeutsche wahrgenommen werden. Zwar gibt es Erfolgsgeschichten zuhauf, vor allem im Sport. Andreas Beck, der im erweiterten Kader der deutschen Fussballnationalmannschaft spielt, wurde in Kemerowo geboren, die Siebenkämpferin Lilli Schwarzkopf in Nowopokrowka in Kirgistan, die Boxerin Ina Menzer in Atbasar in Kasachstan. Im Kader der Eishockeynationalmannschaft wimmelt es förmlich von Russlanddeutschen, einer der bekanntesten ist Eduard Lewandowski, geboren in Krasnoturinsk im Ural. Furore macht der junge Geigenvirtuose Richard Polle, geboren in Nowosibirsk. Einem breiteren Publikum dürfte die Volkssängerin Helene Fischer bekannt sein, die 1984 in Krasnojarsk geboren wurde.

Figuren des Feuilletons aber, wie sie etwa die Rumäniendeutschen mit der Literatur-Nobelpreisträgerin Herta Müller oder Richard Wagner stellen, sind noch keine zu sehen – genauer: Sie sind einer breiten Öffentlichkeit nicht bekannt. Andre Geim, der niederländisch-russische Forscher, dem für seine Forschungen an Graphen eben der Nobelpreis für Physik zuerkannt wurde, kam 1958 in Sotschi zur Welt.

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