Dienstag, November 16, 2010

«Obama hat die Zügel im Nahen Osten schleifen lassen»

10. November 2010, 16:02, NZZ Online
«Obama hat die Zügel im Nahen Osten schleifen lassen»
Jimmy Carter im Gespräch mit der NZZ

Als langjähriger Vermittler im Nahen Osten weilt der ehemalige amerikanische Präsident Carter dieser Tage in der Schweiz. In einem Interview nimmt er pointiert Stellung zu den Schwierigkeiten bei der Suche nach einem Frieden.

Präsident Carter, Sie waren kürzlich erneut auf einer ausgedehnten Reise durch den Nahen Osten, die palästinensischen Gebiete inbegriffen. Wie lautet die Bilanz dieser Reise?
Wir konzentrierten uns auf die Situation der Palästinenser, und diese kann man nur als bedenklich bezeichnen. Dies gilt sogar für jene, die in Israel selbst leben und einen israelischen Pass haben. Wir haben insgesamt 35 Gesetze gefunden, die sich diskriminierend auf sie auswirken. Sie umschliessen fast alle Lebensbereiche bis hin zu Heiratsbestimmungen. Wesentlich stärker unter Druck sind jene Palästinenser, die im israelisch besetzten Ost-Jerusalem wohnen. Sie habe praktisch keine Möglichkeit mehr, an einer normalen sozialen Entwicklung teilzunehmen. Sie erhalten nur gerade einen Bruchteil jener Mittel, die den jüdischen Einwohnern zur Verfügung gestellt werden. Man diskriminiert sie systematisch. Dies gilt in ähnlichem Ausmass auch für die Bewohner Cisjordaniens, auf deren Land sich mittlerweile über 300 000 jüdische Siedler festgesetzt haben.
Am schlimmsten aber ist die Lage im Gazastreifen, wo rund anderthalb Millionen Menschen wie in einem Käfig leben. Da die Israeli eine fast totale Blockade aufrechterhalten, ist eine nachhaltige Linderung der Not praktisch unmöglich. An einen Wiederaufbau oder gar eine wirtschaftliche Entwicklung ist unter diesen Umständen nicht zu denken. Man muss sich vor Augen halten, dass rund die Hälfte der Bevölkerung minderjährig ist.

Am Dienstag kündigte die israelische Regierung den Bau weiterer 1300 Wohnungen in Ost-Jerusalem an. Präsident Obama reagierte mit der Bemerkung, dies sei nicht hilfreich. Wie schätzen Sie die Haltung der amerikanischen Regierung ein?
Nun, mit seiner Kairoer Rede nach seiner Wahl hatte Obama sehr grosse Hoffnungen im gesamten Nahen Osten geweckt. Er bezeichnete damals die jüdische Siedlungstätigkeit als illegal und als Haupthindernis für einen Frieden. Das war eine deutliche Sprache. Aber seither hat er die Zügel fahren lassen und nicht einmal mehr versucht, die direkten Friedensgespräche zwischen Israel und den Palästinensern zu beeinflussen. Die israelische Weigerung, den befristeten Siedlungsstopp zu verlängern, hat zum Stillstand des Prozesses geführt. Wir haben bei unseren Gesprächen im Nahen Osten die fast einhellige Meinung getroffen, dass eine Fortsetzung der Gespräche unter diesen Bedingungen sinnlos sei.

Woran liegt es, dass sich die amerikanische Nahostpolitik so stark an den israelischen Bedürfnissen orientiert? Könnten die USA nicht mehr Druck ausüben?
Da ist zunächst einmal die ausserordentlich starke Israel-Lobby in den USA. Ihr Einfluss ist gross. Es besteht unter den Amerikanern aber auch der Glaube, Israel sei eine echte Demokratie, die einzige im Nahen Osten. Kommt hinzu die militärische Bedeutung Israels für die USA. Diese nimmt ständig zu. Die Araber hingegen werden noch immer mit Misstrauen beobachtet, obwohl einige der saubersten Wahlen der letzten Jahre gerade bei den Palästinensern stattgefunden haben.
Interview: Jürg Dedial

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