31. Oktober 2010, NZZ am Sonntag
Wann sind wir tot?
Neue Erkenntnisse bringen alte Fragen neu aufs Tapet
Der Hirntod galt als fest definiert. Neue Erkenntnisse zwingen Mediziner, die Frage wieder zu stellen, wann ein Mensch wirklich tot ist. Dies könnte den Umgang mit Organspenden verändern.
Rechtlich ist die Sache klar: «Der Mensch ist tot, wenn die Funktionen seines Hirns einschliesslich des Hirnstamms irreversibel ausgefallen sind», hält Artikel 9 des Schweizer Transplantationsgesetzes fest. So gesehen sind Tod und Hirntod das Gleiche. Auf diesem Grundsatz – dass der Mensch tatsächlich tot ist, wenn man ihm für eine Organspende seine Organe entnimmt – beruht die Transplantationsmedizin.
Ob aber die Gleichung Hirntod = Tod tatsächlich richtig ist, wird in jüngerer Zeit wieder kontrovers diskutiert. «Neue Erkenntnisse erfordern eine neue Auseinandersetzung mit diesen Fragen», meint die Psychiaterin Sabine Müller von der Charité in Berlin. Zahlreiche Studien hätten ein längeres Überleben und die Aufrechterhaltung der Körperfunktionen von hirntoten Patienten nachgewiesen.
Um solche Studien macht Franz Immer lieber einen grossen Bogen. Dem Direktor der nationalen Stiftung für Organspende und Transplantation (Swisstransplant) geht es um andere Themen. Vor kurzem hat er eine Debatte über die....
stärker nach Nutzen ausgerichtete Zuteilung von Spenderorganen lanciert oder die sogenannte Widerspruchslösung zur Diskussion gestellt (siehe Kasten Seite 58). Den Hirntod will Immer nicht aufs Tapet bringen. «Diese Diskussion haben wir in der Schweiz vor 10 Jahren geführt und ad acta gelegt», sagt er knapp.
Nicht alle sehen das so. «Die erneute Auseinandersetzung mit dem Hirntod ist wichtig, gerade wenn neue Vorschläge zur Organspende an die Gesellschaft gelangen», findet die Zürcher Ethikerin Ruth Baumann-Hölzle. Für «längst überfällig» hält die Debatte die «Frankfurter Allgemeine Zeitung», denn: «Was wir heute über den sogenannten Hirntod wissen, stellt die Transplantationsmedizin auf den Prüfstand», schrieb die Zeitung. In den USA, wo das Hirntod-Konzept Ende der 1960er Jahre entwickelt wurde, läuft die Kontroverse seit längerem. Im Dezember 2008 war die «President's Commission on Bioethics» zum Schluss gekommen, die biologischen Gründe für die Definition des Hirntodes hätten sich als irrtümlich erwiesen.
Bis vor kurzem galt das Hirn sozusagen als Integrator der verschiedenen Körperfunktionen. Und man ging davon aus, dass der Körper nach dem Ausfall der Hirnfunktionen sofort aufhöre, als Ganzes zu funktionieren. Diese Annahme war falsch, wie man heute weiss. Der Prozess der körperlichen «Desintegration» dauert viel länger.
So halten Hirntote beispielsweise den Gleichgewichtszustand des Organismus (Homöostase) aufrecht. Wie Sabine Müller beschreibt, regulieren Hirntote selbständig ihre Körpertemperatur, sie bekämpfen Infektionen (unter anderem durch Fieber) und Verletzungen, reagieren mit Blutdruckanstieg auf Schmerzreize oder produzieren Exkremente. Hirntote Kinder wachsen und setzen ihre Geschlechtsentwicklung fort. Hirntote Schwangere können die Schwangerschaft über Monate aufrechterhalten und von gesunden Kindern entbunden werden – bis 2003 wurden 10 solche Geburten dokumentiert. In all diesen Fällen wurde der Kreislauf der Verstorbenen von den Ärzten auf der Intensivstation mit künstlicher Beatmung und anderen Massnahmen aufrechterhalten.
Die Beispiele zeigen: Wenn Cortex und Hirnstamm tot sind, ist der Körper noch lange nicht am Ende – selbst wenn das Beatmungsgerät abgestellt wird. Das habe mit der Komplexität des menschlichen Nervensystems zu tun, sagt Peter Suter, emeritierter Professor für Intensivmedizin in Genf. «Viele nervliche Funktionen werden nicht vom Hirn gesteuert, sondern laufen beispielsweise übers Rückenmark.» Deshalb komme es zu solchen vegetativen Reaktionen oder Reflexen.
Für Suter, der auch die Schweizerische Akademie der Medizinischen Wissenschaften (SAMW) präsidiert, ist jedoch klar: Der Mensch ist nicht mehr, was er war, sobald die Hirnrinde tot ist. Auf diesem Konzept basieren auch die SAMW-Richtlinien zur «Feststellung des Todes», die für die Organtransplantation massgeblich sind. Die «President's Commission» definierte den Hirntod neu und hielt fest, bei Hirntoten «fehle die Integration in die Umwelt»; das Leben sei erloschen, wenn neben der gesamten Hirnaktivität die Atemtätigkeit ausfalle. Eine solche Neudefinition hält Peter Suter nicht für unangemessen, aber unnötig.
Narkose für Tote
Ruth Baumann-Hölzle sagt, sie habe noch nie verstanden, weshalb der Ausfall der Hirnfunktionen und der Tod eins sein sollen. «Trotzdem», betont sie, «ist der Hirntod aus meiner Sicht ein irreversibler Zeitpunkt, eine Zäsur, auf die unweigerlich der Tod folgen wird.» Sterben sei letztlich ein Geheimnis und ein Prozess. «Wir können uns diesem naturwissenschaftlich annähern, in seiner Tiefe werden wir dieses Geschehen nie begreifen.»
Britische Anästhesisten forderten vor einigen Jahren Vollnarkose für hirntote Organspender bei der Organentnahme, um mögliche Schmerzen auszuschalten. Einer von ihnen sagte gegenüber BBC: «Man setzt das Skalpell an, und der Puls und der Blutdruck schiessen hoch. Wenn man keine Medikamente gibt, beginnt der Patient sich zu bewegen, und der Eingriff wird verunmöglicht.» Er befürworte Organtransplantationen, würde aber nur dann einen Spenderausweis bei sich tragen, wenn er wüsste, dass er vor der Organentnahme betäubt würde.
Peter Suter hat Verständnis für diese Haltung. In der Schweiz würden Organspender bei der Organentnahme konsequent narkotisiert – aus Respekt, weil es sich «noch immer um einen Menschen handelt», wie Suter betont. Allerdings um einen toten Menschen. Dies sagt der SAMW-Präsident auch in Bezug auf die andere Gruppe von möglichen Organspendern: Patienten, die primär an einem Herzversagen sterben, die sogenannten Non-Heart-Beating Donors (NHBD). Während bei den Hirntoten erst das Hirn stirbt und dann der Organismus, ist es bei den NHBD umgekehrt: Erst hört das Herz auf zu schlagen – sei es aufgrund eines akuten Herzversagens, sei es nach Therapieabbruch auf der Intensivstation –, darauf erfolgt der Hirntod.
Die Gruppe der NHBD ist gegenüber den hirntoten Spendern in der Minderheit, doch ihr Anteil nimmt weltweit stetig zu. Mitverantwortlich dafür ist der Umstand, dass auf den Intensivstationen 80 bis 90 Prozent der Todesfälle eintreten, weil bei den entsprechenden Patienten die Therapie abgebrochen wurde. Ein Teil von ihnen sind potenzielle Spender. Allerdings können in diesem Fall meistens nur die Nieren verwendet werden, allenfalls auch die Lunge. Für das Herz aber sind die 20 Minuten Wartezeit nach Kreislaufstillstand, welche die SAMW-Richtlinien für die Organentnahme vorschreiben, zu lange.
Solche Organentnahmen wurden in Genf und Zürich bis 2007 praktiziert, nach Inkrafttreten des Transplantationsgesetzes aber gestoppt. Der Grund: Ein potenzieller NHBD lebt noch, wenn seine Angehörigen nach der Organspende gefragt werden. Das stand bisher scheinbar im Widerspruch zum Gesetz. Trotzdem sollen die NHBD-Programme jetzt wieder eingeführt werden. Ein Jurist des Bundesamts für Gesundheit (BAG) kam zum Schluss, die Organentnahme nach Herztod sei gesetzeskonform.
«Ein Opfer – und ein Geschenk»
Doch was die Interessenvertreter der Organspende auf höhere Spenderzahlen hoffen lässt, verursacht bei anderen Stirnrunzeln. Zum Beispiel bei Bruno Regli, stellvertretendem Chefarzt der Intensivmedizin im Inselspital Bern: Der Prozess sei schwieriger zu führen als im Hinblick auf den Hirntod, sagt er. «Wenn ich bei einem Patienten mit aussichtsloser Prognose die Therapie abbreche und den Herztod abwarte, so sind die Abbruch-Kriterien heute nicht gleich klar definiert wie im Hinblick auf den Hirntod.» Zudem sei es gerade in Zentren, in denen auch Transplantationen durchgeführt würden, problematischer, eine mögliche Befangenheit des Intensivmediziners als Entscheidungsträger auszuschliessen, sagt Bruno Regli. Er selbst sei gar nicht so selten auch in die Behandlung von zukünftigen Empfängern involviert.
Für Ruth Baumann-Hölzle ist klar: Mit den neuen Erkenntnissen über den Hirntod muss sich die Öffentlichkeit genauso befassen wie mit der Organspende nach Herztod. Auf dem Spenderausweis müssten Hirntod und Herztod separat aufgeführt werden, fordert die Ethikerin. «Die Organspende ist nicht selbstverständlich», sagt Baumann-Hölzle. «Sondern immer ein Opfer – und ein Geschenk.»
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