Montag, Juli 13, 2009

NZZ: Die einsamen Frauen von Srebrenica Spurensuche in den Untiefen von Massengräbern und Kriegserinnerungen

11. Juli 2009, Neue Zürcher Zeitung
Die einsamen Frauen von Srebrenica
Spurensuche in den Untiefen von Massengräbern und Kriegserinnerungen

Der Name Srebrenica steht weltweit für Unmenschlichkeit und Barbarei. Auch nach vierzehn Jahren bleiben die Spuren des Völkermordes allgegenwärtig. Zwar sind viele Vertriebene wieder in den bosnischen Ort zurückgekehrt; Zuversicht mögen sie aber noch keine schöpfen.

Von unserem Korrespondenten Thomas Fuster


Srebrenica, Ende Juni

Am 11. Juli wird Amra Begic endlich ihren Vater beerdigen können, vierzehn Jahre nach seinem Tod. Im vergangenen Jahr erst wurden seine Überreste entdeckt, in einem Massengrab im Osten Bosniens. Begic sichtete die Knochen, liess sich...


11. Juli 2009, Neue Zürcher Zeitung
Die einsamen Frauen von Srebrenica
Spurensuche in den Untiefen von Massengräbern und Kriegserinnerungen

Der Name Srebrenica steht weltweit für Unmenschlichkeit und Barbarei. Auch nach vierzehn Jahren bleiben die Spuren des Völkermordes allgegenwärtig. Zwar sind viele Vertriebene wieder in den bosnischen Ort zurückgekehrt; Zuversicht mögen sie aber noch keine schöpfen.

Von unserem Korrespondenten Thomas Fuster


Srebrenica, Ende Juni

Am 11. Juli wird Amra Begic endlich ihren Vater beerdigen können, vierzehn Jahre nach seinem Tod. Im vergangenen Jahr erst wurden seine Überreste entdeckt, in einem Massengrab im Osten Bosniens. Begic sichtete die Knochen, liess sich von Experten erklären, dass die Gebeine mit einer Wahrscheinlichkeit von über 99,95 Prozent zum Vermissten passten – und die junge Frau berührte mit ihren Händen ein letztes Mal, was von ihrem Vater nach all den Jahren übrig geblieben war. Zu Hause sperrte sie sich ins Bad und schrubbte in einem fort ihre Hände – wie besessen, so sagt sie, aus Furcht, sie könnte ihre damals eineinhalbjährige Tochter mit der Unreinheit des Todes anstecken. Ein schrecklicher Gedanke sei es, erzählt die Mutter mit erstickter Stimme, das eigene Kind vor den Spuren des Grossvaters schützen zu müssen.

Alljährliche Massenbestattungen

Begics Vater war nach der Massenexekution nicht sofort tot. Nachdem die serbischen Soldaten ihre Opfer geknebelt, in Reih und Glied aufgestellt und mit Gewehrsalven niedergestreckt hatten, schritten sie noch einmal durch den Haufen lebloser Körper. Wer noch ein Wimmern von sich gab oder sich bewegte, wurde mit einem Kopfschuss gerichtet, ehe die Bagger heranfuhren, um die Leichen in Massengräbern zu verscharren. Auch bei ihrem Vater stellten die Forensiker einen Kopfschuss aus nächster Nähe fest. Dass er noch einige Minuten länger litt, belastet Begic. Zu schaffen macht ihr zudem, dass sie jenem serbischen Nachbarn, der ihren Vater von der Familie losriss und in den Tod schickte, regelmässig auf den Strassen begegnet. Er sei bis heute stolz auf seine Tat und zeige keine Zeichen der Reue. Gerne würde sie alles vergessen – doch es gelinge ihr nicht.

Amra Begic wird ihren Vater in Potocari, einem Vorort von Srebrenica, zu Grabe tragen. Im September 2003 wurde hier nach langem politischem Gezerre eine Gedenkstätte für die Opfer des Massakers von 1995 errichtet – eines Massakers, das der Internationale Gerichtshof in Den Haag als Genozid bewertete. Die Gedenkstätte und der Friedhof liegen direkt gegenüber einer stillgelegten Batteriefabrik, wo sich während des Kriegs die niederländischen Uno-Soldaten eingerichtet hatten. Alljährlich am 11. Juli, dem Tag des Gedenkens an den Völkermord, werden hier jene sterblichen Überreste, die in den vergangenen zwölf Monaten neu entdeckt und identifiziert werden konnten, beigesetzt. Dieses Jahr werden es 529 Leichname sein. Ein Ende des alljährlich wiederkehrenden Reigens von Massenbestattungen ist nicht absehbar: Von über 8000 vermuteten Opfern konnten bisher erst 3300 identifiziert und beerdigt werden.

Vor den Augen der Uno

Zahllose Bücher, Essays, Analysen sind verfasst worden zu Srebrenica. Begreifbar ist das Geschehen dadurch gleichwohl nicht geworden. «Das schlimmste Massaker auf europäischem Boden seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs», so die behelfsmässige Formel, auf die man sich zur Beschreibung des Unfassbaren geeinigt hat, sprengt jegliche Vorstellungskraft. Mit kühler Planung wurden während Tagen systematisch Tausende von Männern und Knaben ermordet, viele auf bestialische Weise, allein ihrer Zugehörigkeit zur «falschen», nämlich bosnjakischen (muslimischen) Volksgruppe wegen. Die Leichen wurden danach von Baumaschinen wie Müll verscharrt. Und all dies in einer Schutzzone der Uno. Zu einer solchen Zone war die bosnjakische Enklave 1993 erklärt worden, und über 60 000 Muslime drängten sich in der Folge in den vermeintlichen Hort international überwachter Sicherheit. Als jedoch die bosnischen Serben den Ort nach jahrelanger Belagerung überrannten, waren die niederländischen Uno-Soldaten nur noch um den eigenen Schutz besorgt.

Widerstand erwuchs der Soldateska rund um Ratko Mladic jedenfalls keiner, als sie am 11. Juli 1995 in den zuvor ausgehungerten Ort einmarschierte. In einer an Kollaboration grenzenden Hilflosigkeit beobachteten die Blauhelmsoldaten, wie Familien auseinandergerissen und alle Männer und Knaben – einige von ihnen knapp 12-jährig – von ihren Frauen und Müttern separiert wurden. Um die Serben nur ja nicht zu provozieren, so das Geheiss von oberer Stelle, halfen einige Niederländer bei der Aussonderung der Flüchtlinge gar noch tatkräftig mit. Die Massenexekutionen zur «ethnischen Säuberung» dieser nahe der serbischen Grenze liegenden Gegend in Ostbosnien waren zu diesem Zeitpunkt bereits minuziös geplant. Viele Muslime erahnten das Böse, und über 10 000 Männer und Knaben versuchten, durch die umliegenden Wälder in die 50 Kilometer entfernte, bosnjakisch kontrollierte Stadt Tuzla zu fliehen; die wenigsten überlebten den Marsch durch die feindlichen Linien.

In Tuzla, der drittgrössten Stadt von Bosnien-Herzegowina, treffen wir Nura Begovic. Ihr Ehemann gehörte zu den wenigen, denen die Flucht von Srebrenica nach Tuzla gelang. Zum Glück des Paars gehörte zudem, dass es zwei Töchter hatte, aber keine Söhne. Dennoch, auch Begovic hat durch das Massaker 16 Familienmitglieder verloren, unter ihnen den einzigen Bruder, dessen Gebeine noch immer unentdeckt sind. Begovic gehört dem 1995 gegründeten Verein «Frauen von Srebrenica» an. Die Wände der engen Wohnung, in der der Verein einquartiert ist, sind tapeziert mit den Porträts der Opfer. An jedem 11. Tag im Monat marschieren die Frauen im stummen Protest durch die Strassen von Tuzla, mit sich tragen sie leere Kissenbezüge, bestickt mit den Namen und Jahrgängen der vermissten Opfer. Die Märsche sollen so lange fortgesetzt werden, bis die Überreste aller Vermissten gefunden sind.

Begovic arbeitet in Tuzla, wohnt aber wieder in Srebrenica. Einfach war die Rückkehr nicht. Auch sie begegnet zu Hause jahrein, jahraus jenen serbischen Häschern, die damals muslimische Familien denunzierten, sie auseinanderrissen und die Bustransporte der Frauen und Mädchen nach Tuzla durchführten. Sind die ständigen Begegnungen nicht unerträglich? «Nein», antwortet Begovic mit bestimmtem Ton. «Es ist für mich eine Genugtuung, diese Leute zu sehen, ihnen ins Gesicht zu sagen, was ich von ihnen denke und dass sie hinter Gitter gehörten. Nach dem Krieg galten diese Untiere als Helden der Serbischen Republik. Das hat sich mit der Rückkehr von uns Flüchtlingen geändert. Unsere Präsenz erinnert sie ständig an ihre Taten. Sie schauen nun weg, wenn sie uns auf der Strasse begegnen.»

«Kein Durchgang»

Vor dem Krieg zählten sich rund drei Viertel der damals 37 000 Bewohner der Gemeinde Srebrenica zur muslimischen Volksgruppe. Heute liegt die Einwohnerzahl bei gegen 11 000, und das Verhältnis zwischen Serben und Bosnjaken dürfte etwa hälftig sein. So genau weiss das jedoch niemand; die letzte Volkszählung stammt noch aus Zeiten vor dem Krieg, und die Durchführung eines neuen Zensus erscheint den Politikern als allzu heikel. Die exakte Zahl ändert aber wenig daran, dass es die nach Srebrenica zurückgekehrten Muslime als Demütigung empfinden, nun als Bürger der Republika Srpska zu gelten – jener bosnischen Teilrepublik also, die erst durch den Daytoner Vertrag entstanden ist und die letztlich einer Billigung der serbischen Politik «ethnischer Säuberungen» gleichkommt. Immer wieder ertönt seitens der Opferverbände die Forderung, Srebrenica aufgrund seiner Vergangenheit einen speziellen Status im Staat einzuräumen – eine Forderung, die im ethnisch zerstückelten Land chancenlos bleiben muss.

Srebrenica liegt in einem langen, schmalen Talkessel. Auf beiden Seiten ziehen sich dichte Wälder die Hänge hinauf. An diesem Junitag hängt der Nebel tief, und ein feiner Nieselregen legt sich über das Tal – eine bleierne Stimmung, die dem erstmaligen Besucher als geradezu zwingend erscheint für einen Ort, der vorab als Chiffre für Unmenschlichkeit und Grauen Bekanntheit erlangte. Fast eineinhalb Jahrzehnte nach Kriegsende sind im einstigen Bergwerkstädtchen, das es in früheren Zeiten dank seinen Silberminen zu bescheidenem Wohlstand gebracht hatte, die Spuren der Zerstörung allgegenwärtig: zerschossene Häuser, vom Kugelhagel perforierte Mauern, verwaiste Weiler und viel zu viele Gräber sowieso. Selbst das niederländische Uno-Bataillon, auf das man hier nicht gut zu sprechen ist, bleibt mancherorts verewigt: «Geen Doorgang» (kein Durchgang) steht in verblichener Farbe auf der rostigen Wand einer Fabrikhalle, in der das «Dutchbat» einst ein Lager hatte. Bitterer Zynismus, wie er dem Blauhelmsoldaten, der die Warnung in dicken Pinselstrichen anbrachte, kaum bewusst sein konnte.

Der Geruch des Todes

Anderen Spuren des Krieges fühlt sich die International Commission on Missing Persons (ICMP) verpflichtet. Die Organisation wurde im Juni 1996 auf Initiative des damaligen amerikanischen Präsidenten Bill Clinton ins Leben gerufen, am Treffen der G-7-Staaten in Lyon. Zehn Monate zuvor hatten die USA dem Uno-Sicherheitsrat erstmals Satellitenaufnahmen vorgelegt, die auf Greueltaten in der Gegend um Srebrenica hindeuteten. Die Bilder zeigten tiefe Umwälzungen der Erde, zugeschüttet durch schwere Planierraupen, und sie erhärteten die Befürchtung, dass die vielen vermissten Zivilisten aus Srebrenica, von denen jede Spur fehlte, wohl nicht mehr am Leben waren. Die in Bosnien ansässige Organisation wurde in der Folge mit der Ortung und Identifikation der vermissten Personen beauftragt. Was diese Arbeit bedeutet und wie sie riecht, ist im Totenhaus des zur ICMP gehörenden Podrinje Identification Project (PIP) erfahrbar, einem unscheinbaren Barackenbau in einem Aussenquartier Tuzlas.

Instinktiv macht der Besucher einen Schritt zurück, nachdem er in den Kühlraum des PIP getreten ist. Ein abstossender, süsslicher Geruch füllt den Raum, trotz Kälte. Auf beiden Seiten des Lagers stapeln sich über acht Schichten blaue Plasticsäcke, jeder mit einer Nummer versehen, stellvertretend für die Lokalität des Massengrabs, aus dem die Knochen, Gebisse, Kleidungsstücke, Schuhe, persönlichen Utensilien stammen. Nüchtern erklären die Experten der ICMP den üblen Geruch und führen aus, was naturwissenschaftlich abläuft, wenn Leichenteile, die zuvor während Jahren in feuchter Erde verscharrt waren, mit Sauerstoff in Verbindung kommen. In diesem Gebäude werden alle exhumierten Opfer von Srebrenica gelagert und kriminalistisch untersucht. Stimmen die Erbinformationen der Knochen überein mit einem der über 80 000 DNA-Samples, die man in Sarajevo aus Blutproben lebender Familienmitglieder archiviert hat, macht sich ein Mitarbeiter auf den Weg, um die Angehörigen zu informieren.

Direkt gegenüber dem Kühlraum liegt das Autopsiezentrum des PIP. Eine Anthropologin ist dort gerade mit der Untersuchung von Knochenteilen beschäftigt, vor sich hat sie ein fast vollständig erhaltenes Skelett assortiert. «Ein bestmöglicher Fall», wie sie meint. Freigelegt wurden die sterblichen Überreste vor drei Wochen in einem neu entdeckten Massengrab, zusammen mit fünfzehn weiteren Skeletten. Typisch ist der Fall nicht: Denn zur Vertuschung ihrer Massaker hoben die bosnisch-serbischen Täter ab August 1995 zahlreiche Massengräber erneut aus, um die halbverwesten Leichen in neue Gräber zu verlegen. Diese sekundären – und teilweise tertiären – Gräber liegen meist in weiter entfernten Gegenden. Die schweren Maschinen, die bei den Umbettungen eingesetzt wurden, beschädigten nicht nur die Skelette, sie mischten die Gebeine auch heillos durcheinander. Die Zusammenführung und Identifizierung der Leichenteile kommt daher meist einem zeitraubenden forensischen Puzzle gleich. Es gebe Leichen, so die Expertin der ICMP, deren Einzelteile in vier verschiedenen Gräbern freigelegt worden seien.

Grosse Hoffnungen in die 170 Angestellten, die in Bosnien für die ICMP tätig sind und für deren Arbeit angesichts der vielen noch vermuteten Massengräber kein Ende absehbar scheint, setzt Hatidza Mehmedovic. «Der einzige Sinn meines Lebens besteht darin, weiter in Bosnien herumzureisen und die Überreste meiner Familie zu suchen, damit ich sie endlich begraben kann.» Die gross gewachsene Frau hat in jenen heissen Julitagen des Jahres 1995 den Ehemann, die beiden Söhne (sie waren 13 und 15 Jahre jung), zwei Brüder und vier Neffen verloren. Als sie einige Jahre nach dem Krieg in ihr Familienhaus in Srebrenica zurückkehrte, fand sie dieses besetzt von Serben, die sich weigerten auszuziehen. Die neuen Bewohner erklärten, ihnen sei zugesichert worden, dass sie hier bleiben könnten, dass die vertriebenen Muslime mit Sicherheit nie mehr an diesen Ort zurückkehren würden. «In Bosnien gibt es stets verschiedene Wahrheiten, eine muslimische, eine serbische, eine kroatische und eine der internationalen Organisationen», sagt Mehmedovic. Sie setzte ihre Wahrheit durch – und erstritt sich das Haus zurück.

Tiefsitzendes Misstrauen

Trotz einigen Rückkehrern hängt das Misstrauen zwischen den Volksgruppen weiterhin schwer über dem Talkessel. Die Muslime und die Serben fühlen sich beide auf ihre Art betrogen vom Krieg; Kroaten gibt es derweil – anders als vor dem Krieg – kaum noch im Ort; ihnen sei nur der Strassenkehrer bekannt, erklären Dorfbewohner. Wie tief das Misstrauen sitzt, verdeutlicht eine ältere Muslimin, der wir in Potocari begegnen. Sie bezweifle, schimpft die Frau, die ihren Groll nicht zu verstecken sucht, dass der ehemalige Serbenführer Slobodan Milosevic tatsächlich in Den Haag gestorben sei. Niemand habe den Sarg geöffnet, wahrscheinlich habe man Milosevic einfach laufen lassen. Und falls der Despot doch tot sei, lebe sein Projekt der «ethnischen Säuberung» gleichwohl weiter, in Form der Republika Srpska. «Eine Schande, dass wir unsere Söhne auf einem Gebiet beerdigen müssen, das sich Serbische Republik nennt.»

Es fällt schwer, von einer Reise nach Srebrenica auch einen Funken Hoffnung mit nach Hause zu nehmen. Vielleicht symbolisiert Advija Ibrahimovic ein wenig Zukunftsglaube. Die junge Muslimin wurde durch den Genozid zur Vollwaise: Die Mutter starb zu Beginn des Kriegs, den Vater entriss man dem damals 11-jährigen Mädchen am 11. Juli 1995 – im vergangenen Jahr wurden in einem sekundären Massengrab erste Überreste von ihm entdeckt. Dank der finanziellen Unterstützung von Opferverbänden konnte Ibrahimovic in Tuzla ein Medizinstudium absolvieren, das sie demnächst mit dem Examen abschliessen wird. Was sie danach als gut ausgebildete junge Frau für Pläne habe? Selbstverständlich werde sie nach Srebrenica zurückkehren, hier sei sie aufgewachsen, hier gehöre sie hin. Die ergrauten einsamen Frauen, die sich um die modisch gekleidete, attraktive Studentin gruppiert haben, applaudieren spontan – und für einen kurzen Augenblick scheint auf ihren Gesichtern so etwas wie Zuversicht erkennbar.

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