Samstag, Juli 18, 2009

NZZ: Ungesühnte politische Morde in Russland

17. Juli 2009, Neue Zürcher Zeitung
Ungesühnte politische Morde in Russland
Natalia Estemirowa dokumentierte furchtlos Menschenrechtsverletzungen in Tschetschenien

Der Mord an der russischen Menschenrechtsaktivistin Natalia Estemirowa hat international und in Russland Bestürzung ausgelöst. Die Organisation Memorial, bei der Estemirowa gearbeitet hat, macht den tschetschenischen Präsidenten Kadyrow für den Mord verantwortlich.

gho. Moskau, 16. Juli

Der Mord an der russischen Menschenrechtsaktivistin Natalia Estemirowa hat sowohl in Russland als auch international zu bestürzten Reaktionen geführt. Unter anderen forderten die schwedische EU-Rats-Präsidentschaft, die USA und mehrere Menschenrechtsorganisationen von den...


17. Juli 2009, Neue Zürcher Zeitung
Ungesühnte politische Morde in Russland
Natalia Estemirowa dokumentierte furchtlos Menschenrechtsverletzungen in Tschetschenien

Der Mord an der russischen Menschenrechtsaktivistin Natalia Estemirowa hat international und in Russland Bestürzung ausgelöst. Die Organisation Memorial, bei der Estemirowa gearbeitet hat, macht den tschetschenischen Präsidenten Kadyrow für den Mord verantwortlich.

gho. Moskau, 16. Juli

Der Mord an der russischen Menschenrechtsaktivistin Natalia Estemirowa hat sowohl in Russland als auch international zu bestürzten Reaktionen geführt. Unter anderen forderten die schwedische EU-Rats-Präsidentschaft, die USA und mehrere Menschenrechtsorganisationen von den russischen Behörden eine umgehende Aufklärung. Der russische Präsident Dmitri Medwedew zeigte sich am Mittwoch laut einer Sprecherin «empört» und ordnete eine Untersuchung an. Die unmittelbare Reaktion des Kremls kontrastiert mit dessen Verhalten bei früheren Morden an Aktivisten.

Kadyrow als Drahtzieher?

Der tschetschenische Präsident Ramsan Kadyrow verurteilte ebenfalls den Mord und nannte ihn zynisch. Damit würden die Bewohner Tschetscheniens und Inguschetiens vor der russischen Öffentlichkeit und vor der Weltgemeinschaft diskreditiert. Kadyrow will die Aufklärung des Mordes unter seine persönliche Kontrolle nehmen. Für den Leiter von Memorial, Oleg Orlow, sind dies jedoch Krokodilstränen. Orlow sagte, er sei sich sicher, dass Kadyrow hinter dem Mord stecke. Der junge und tatkräftige Präsident habe Estemirowa bedroht, beleidigt und als einen persönlichen Feind empfunden. Er wisse nicht, ob Kadyrow persönlich den Auftrag erteilt habe oder ob jemand aus dessen Entourage seinem Boss einen Gefallen habe erweisen wollen.

Die russischen Strafverfolgungsbehörden haben aber bis jetzt bei Morden an Menschenrechtsaktivisten wenig bis gar keine Erfolge auszuweisen. Sowohl der Fall der im Jahr 2006 ermordeten Journalistin Anna Politkowskaja als auch die Erschiessung des Menschenrechtsanwaltes Stanislaw Markelow und der Journalistin Anastasia Baburowa in diesem Jahr sind noch ungelöst.

Der Mord an Estemirowa wird mit ihren jüngsten Aufdeckungen in Verbindung gebracht, welche die tschetschenische Führung in Rage gebracht haben sollen. In Berichten von Memorial und der Organisation Human Rights Watch, mit der Estemirowa eng zusammengearbeitet hat, wurden aussergerichtliche Exekutionen und das Niederbrennen von Häusern dokumentiert, die Familien mutmasslicher Aufständischer gehörten. Dabei sollen tschetschenische Sicherheitskräfte involviert gewesen sein. Estemirowa, deren Mutter Russin und deren Vater Tschetschene ist, verfolgte jedoch bereits seit dem ersten Tschetschenienkrieg Menschenrechtsverletzungen. Im zweiten Tschetschenienkrieg dokumentierte sie unermüdlich Kriegsverbrechen. Estemirowa arbeitete später auch eng mit Politkowskaja zusammen.

Öffentliche Kritik

Die Memorial-Mitarbeiterin war in der vergangenen Zeit eine der wenigen, die auch öffentlich in Tschetschenien die Menschenrechtslage kritisierten. Im April dieses Jahres ist das Regime für antiterroristische Operationen für die Republik aufgehoben worden. Trotzdem ist die Sicherheitslage alles andere als ruhig. Moskau lässt Kadyrow in Tschetschenien freie Hand, was zu Menschenrechtsverletzungen und zur Bedeutungslosigkeit der zentralstaatlichen Sicherheitskräfte führt. Kadyrows Arm könnte auch weiter reichen: In der vergangenen Zeit erfolgten einige aufsehenerregende Morde in Moskau, Wien und Dubai an Opponenten und Kritikern des tschetschenischen Regionalfürsten. Kadyrow weist jedoch alle Anschuldigungen von sich.

Der Umstand, dass die Leiche Estemirowas in der Nachbarrepublik Inguschetien gefunden wurde, könnte noch von Bedeutung sein. Der selbstherrlich auftretende Kadyrow streckt seine Hand nach Inguschetien aus – vor allem nach einem Selbstmordattentat auf den inguschetischen Präsidenten Junus-Bek Jewkurow vor einigen Wochen. Der Mord an Estemirowa zeigt, dass es für Tschetschenien, auch wenn es offiziell nicht mehr im Krieg ist, keinen Frieden gibt.

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