Freitag, Juli 31, 2009

NZZaS: Kein Eis – kein Wasser

26. Juli 2009, NZZ am Sonntag
Kein Eis – kein Wasser
Energieversorgung steht vor gravierenden Problemen

Die Schweizer Gletscher werden in neunzig Jahren wahrscheinlich verschwunden sein. Schon im letzten Jahrzehnt haben sie zwölf Prozent ihrer Masse verloren. Das Ende der riesigen Wasserspeicher bringt den Wasserhaushalt in der Schweiz durcheinander – mit gravierenden Folgen für die Energieversorgung.

Von Michael Furger

Das Wasser ist 100 Grad heiss und schiesst mit Hochdruck....


26. Juli 2009, NZZ am Sonntag
Kein Eis – kein Wasser
Energieversorgung steht vor gravierenden Problemen

Die Schweizer Gletscher werden in neunzig Jahren wahrscheinlich verschwunden sein. Schon im letzten Jahrzehnt haben sie zwölf Prozent ihrer Masse verloren. Das Ende der riesigen Wasserspeicher bringt den Wasserhaushalt in der Schweiz durcheinander – mit gravierenden Folgen für die Energieversorgung.

Von Michael Furger

Das Wasser ist 100 Grad heiss und schiesst mit Hochdruck aus einer schmalen Metallröhre. Das Instrument wirkt wie ein Bohrer: Gurgelnd frisst es sich durchs Eis, über mehrere hundert Meter bis hinunter auf den Talboden. Zurück bleibt ein schmaler Kanal mitten durch den Rhonegletscher.

Andreas Bauder und sein Team von der ETH Zürich werden darin ein paar Messinstrumente versenken. Die Forscher haben Material auf den Gletscher geschafft, als gelte es, eine Polarexpedition zu starten: Pumpen, Winden, Heizaggregate, Solarzellen und unzählige Instrumente, die im Eis des Rhonegletschers kleinste Veränderungen registrieren. Laserstrahlen und GPS-Sender messen die Fliessgeschwindigkeit und Veränderungen an der Oberfläche, Sensoren im Eis ermitteln den Wasserdruck und die Verformung. Der Rhonegletscher wird überwacht, 24 Stunden am Tag, 365 Tage im Jahr.

Die Arbeit der Forscher ist eine Operation an einem sterbenden Riesen. Der Rhonegletscher am Furkapass reichte vor 150 Jahren bis weit ins Tal hinunter, in 40 Jahren wird er sich nach den Prognosen der ETH auf eine kleine Eisfläche mit Gletschersee zurückziehen (siehe Fotomontage rechts). Anderen der rund 1500 Schweizer Gletscher geht es ähnlich. Das Eis des Unteren Grindelwaldgletschers wurde bis zum Ende des 19. Jahrhunderts als begehrtes Kühlmittel bis nach Paris exportiert. Heute endet er in einen trüben See oberhalb Grindelwalds, der das Tal zu überfluten droht.

Seit dem Ende der Kleinen Eiszeit um 1850 ziehen sich die Schweizer Gletscher zurück; nur während zweier Kälteperioden konnten sich die Eismassen leicht erholen . In den letzten zehn Jahren hat sich der Prozess wegen der überdurchschnittlich hohen Temperaturen wieder massiv beschleunigt.

Wie schnell die Schweizer Gletscher sterben, haben die ETH-Forscher kürzlich mit einer neuen Methode berechnet. Gestützt auf Messungen ermittelten sie, wie viel Eismasse insgesamt in jüngerer Zeit weggeschmolzen ist. Das Ergebnis überrascht: Von den 74 Kubikkilometern Eis im Jahr 1999 verloren die Schweizer Gletscher bis heute rund 9 Kubikkilometer (12 Prozent). Man könnte mit diesen Wassermassen zweimal den Zürichsee füllen.

Steigen die Temperaturen in der Schweiz weiter dermassen an, wie Klimatologen voraussagen, um 2 bis 6 Grad bis Ende des Jahrhunderts, sieht es düster aus für das Eis auf den Bergen. Bis 2050 könnten drei Viertel des Schweizer Gletschereises geschmolzen sein, sagt Proclim voraus, ein Experten-Forum der Schweizerischen Akademie der Naturwissenschaften. Geografen der Universität Zürich gehen davon aus, dass bei einer Erwärmung um 5 Grad die Schweiz in 90 Jahren gletscherfrei sein dürfte.

Mehr Niederschlag könnte das Abschmelzen zwar kompensieren. Allerdings müsste sich angesichts dieser Prognosen die Niederschlagsmenge etwa verdoppeln und nicht abnehmen, wie die Klimaforscher annehmen. Es läuft alles gegen die Gletscher: höhere Temperaturen, weniger Niederschlag, eine intensivere Sonneneinstrahlung sowie Schmutzpartikel in der Luft, die sich auf dem Eis ablagern. Eine dunkel verschmutzte Oberfläche nimmt mehr Wärme auf als eine saubere weisse und schmilzt daher schneller ab.

«Die Natur kann sich einer Schweiz ohne Gletscher anpassen», sagt Gletscherforscher Andreas Bauder. Mühsamer werde es für die Menschen. So erwarten die Experten zum Beispiel bei 49 Gletschern, dass die Folgen ihres Schmelzens – etwa Erdrutsche oder Überschwemmungen – in den nächsten Jahrzehnten Siedlungen oder Verkehrswege beschädigen. Schwerer wiegt ein anderer Punkt: Gletscher spielen eine zentrale Rolle im Wasserhaushalt der Schweiz. Ein Sechstel alles gespeicherten Wassers, zum Beispiel in Seen oder als Grundwasser, wird in Gletschereis festgehalten. Diese Speicherfunktion ist zentral. Im Winter wird Wasser eingelagert und im Sommer wieder freigegeben. Damit stellen die Gletscher sicher, dass Wasser gleichmässig abfliesst und somit Flüsse und Bäche auch in Trockenphasen ausreichend Wasser führen.

Fällt dieser Zwischenspeicher aus, gerät der Wasserhaushalt der Schweiz aus dem Gleichgewicht. Es fliesst weniger Wasser aus den Bergen ab. Nach der Schneeschmelze im Frühling wird der Abfluss nahezu versiegen (siehe Grafik). Wasser strömt nur noch nach Niederschlägen, die künftig ohnehin spärlicher ausfallen werden. Der regulierte Abfluss ist Vergangenheit.

Bis ein Drittel weniger Strom

Das hat Folgen für die Strombranche, deren Stauseen und Flusskraftwerke auf einen gleichmässigen Zufluss angewiesen sind. Sind die Gletscher weg, wird das Wasser aus den Bergen markant zurückgehen. Die ETH Lausanne hat einen Rückgang um 7 Prozent bis 2050 und sogar um 17 Prozent bis Ende des Jahrhunderts berechnet. Im gleichen Ausmass werde auch die Produktion von Strom aus Stauseen und Flusskraftwerken einbrechen, schätzt das Bundesamt für Energie. Schlechte Aussichten für die Schweizer Stromwirtschaft. Wasser ist in der Schweiz die wichtigste Energiequelle. Rund 60 Prozent des verbrauchten Stroms werden heute in Wasserkraftwerken erzeugt. Schon im Jahr 2035, so schätzt der Bund, wird der Anteil nur noch 46 Prozent betragen.

Die Elektrizitätsbranche hat jetzt reagiert. Derzeit lässt sie von einer Forschergruppe die Auswirkungen der Klimaveränderung auf die Wasserkraft abklären. Laut der Vorstudie können die Folgen zum Teil drastisch sein. Für den Walliser Lac de Mauvoisin, einen der grössten Stauseen der Schweiz mit mehreren Gletschern im Einzugsgebiet, wird die Produktion ab 2070 um 36 Prozent einbrechen. Studienleiter Rolf Weingartner vom Geographischen Institut der Universität Bern kommt zum Schluss: «Wir werden in Zukunft mehr Wasser speichern müssen, um für Trockenphasen gerüstet zu sein.»

Neue Stauseen als Ersatz


Auch den Energieunternehmen dämmert es. «Wir rechnen ab 2060 mit 10 Prozent weniger Ertrag aus der Wasserkraft», sagt Jörg Aeberhard, Leiter der hydraulischen Produktion von Alpiq. «Die Stromproduktion wird abnehmen», bestätigt Ernst Baumberger von den Kraftwerken Oberhasli (KWO), der Betreiberin des Grimselstausees. Beide sind sich einig: Um die Gletscher als Wasserspeicher zu ersetzen, muss man neue Stauseen bauen. Die Ausmasse müssten riesig sein. Heute lagert in den Gletschern zehnmal so viel Wasser wie in sämtlichen Schweizer Stauseen.

Problematisch ist vor allem, dass künftig nicht nur weniger Wasser fliessen wird, sondern dass es auch unregelmässig kommen wird. «Einen zu starken Wasserfluss können die Kraftwerke nicht optimal nutzen», sagt Baumberger. Genau damit haben die Kraftwerke in den kommenden Jahren zu kämpfen. Denn bis die Gletscher weggeschmolzen sind, geben sie mehr Wasser ab, als die Kraftwerke nutzen können. Für Jörg Aeberhard von Alpiq beunruhigend: «Wir erleben jetzt, wie unsere Reserven abgebaut werden.»

Am Rhonegletscher könnte der Abbau spektakulär verlaufen. Das Team um Andreas Bauder hat sich dort eingerichtet, weil es vermutet, dass der Gletscher demnächst kalben wird. Dass also die Eismassen an der Gletscherfront in einen Gletschersee abbrechen. Ein seltenes Ereignis in der Schweiz. Und es wird nicht mehr oft stattfinden.

Keine Kommentare: