Dienstag, Juli 14, 2009

TA Magazin: Roger de Weck - Markt ist Macht


Tages Anzeiger Magazin - Roger de Weck

Nach der Fast-Kernschmelze des Finanzsystems erleben wir die Stunde der Ingenieure, die hier eine defekte Röhre ersetzen und dort ein Ventil. Doch der Kapitalismus muss sich von Grund auf erneuern, um das verspielte Vertrauen wiederherzustellen. Ein Essay in fünf Folgen


Markt ist Macht (Teil 2)
(der erste Teil der Artikelserie findet sich unter diesem Link)
Im real existierenden Kapitalismus gilt: Wer mächtig ist, bestimmt die Marktordnung. Und die begünstigt die Mächtigen. Der Markt ist unsere Diktatur: nützlich und masslos.

10.07.2009 von Roger de Weck

Ist der Kapitalismus eine Religion, war der Markt bis vor Kurzem unfehlbar wie der Papst. Erst jetzt gestehen ultraliberale Vordenker ein, was sie Jahrzehnte verdrängt oder selten thematisiert hatten: dass dieser Markt nicht alles richtet. Wobei sie ihm gegenüber Milde walten lassen. Hingegen erfüllt sie tiefer Hass auf den Staat, der ebenso wenig alles richten wird, aber den Kollaps des Bankensystems und eine noch tiefere Weltwirtschaftskrise fürs Erste abgewendet hat. Selten wurde ein Nothelfer dermassen verhöhnt.

Wirtschaftsliberale, die sonst die Eigenverantwortung...


Markt ist Macht

Im real existierenden Kapitalismus gilt: Wer mächtig ist, bestimmt die Marktordnung. Und die begünstigt die Mächtigen. Der Markt ist unsere Diktatur: nützlich und masslos.

10.07.2009 von Roger de Weck

Ist der Kapitalismus eine Religion, war der Markt bis vor Kurzem unfehlbar wie der Papst. Erst jetzt gestehen ultraliberale Vordenker ein, was sie Jahrzehnte verdrängt oder selten thematisiert hatten: dass dieser Markt nicht alles richtet. Wobei sie ihm gegenüber Milde walten lassen. Hingegen erfüllt sie tiefer Hass auf den Staat, der ebenso wenig alles richten wird, aber den Kollaps des Bankensystems und eine noch tiefere Weltwirtschaftskrise fürs Erste abgewendet hat. Selten wurde ein Nothelfer dermassen verhöhnt.

Wirtschaftsliberale, die sonst die Eigenverantwortung des Individuums — und allen voran des Managers — hochhalten, schreiben dem Staat Fremdverantwortung an der Krise zu. Er habe die Finanzwelt falsch reguliert und schlecht beaufsichtigt. Die US-Notenbank Federal Reserve (kurz Fed) habe zu viel und zu billiges Geld in die Märkte gepumpt. Sie habe jedes Mal, wenn eine Blase platzte, die Geldschleusen geöffnet und auf diese Weise die Verluste minimiert, weswegen sich die Spekulanten in Sicherheit wiegten und umso dreister zockten. Demagogische Politiker in Washington hätten um jeden Preis das private Wohneigentum gefördert, was Exzesse am Immobilienmarkt ermöglichte. Politiker seien unfähig, ihren Wählerinnen und Wählern Opfer zuzumuten. Sie könnten es sich «nicht erlauben, dass es dem Bürger schlechter geht», schrieb ein Kritiker des Wohlfahrtsstaats und letztlich der Demokratie.
Diejenigen, die dem Aberglauben an den Markt erlegen waren, warnen nun vor dem Glauben an den Staat — und dies nicht einmal zu Unrecht. Staat und Markt, beide können richtig liegen, sind aber auch fehlbar. Fruchtlos ist das Eindreschen der einen auf den Staat und der anderen auf den Markt, zumal öffentliche Hand und private Wirtschaft eine Symbiose bilden. Markt versus Staat, auf dem Hintergrund der Krise ist das ein verjährter Streit. Heute geht es, anspruchsvoller, ums richtige Zusammenspiel von Staat und Markt in einer seit eh und je gemischten Wirtschaft.
Die Finanzmärkte sind vollends auf den Staat angewiesen. Schon in früheren Finanzkrisen musste er — in Gestalt des Internationalen Währungsfonds (IWF) oder der Notenbanken — einspringen. Und nicht nur Grossbanken geniessen eine Staatsgarantie, sondern auch alle Atomkraftwerke, deren Höchstrisiko kein privater Versicherer zu schultern wagt. Auf weiten Teilen des Pharmamarkts sind Angebot und Nachfrage gleichzusetzen: Kommt ein besseres Heilmittel heraus, wird es sozusagen automatisch erworben, weswegen der Staat Preise und Tarife regelt. Ohne staatliche oder halbstaatliche Krankenkassen, ohne Schulen und Hochschulen, Forschungsprogramme und Raumfahrtagenturen, ohne öffentlichen Verkehr und Infrastruktur kann die private Wirtschaft nicht gedeihen, die Baubranche schon gar nicht. Auf dem Markt für Rüstungsgüter ist das Spiel von Angebot und Nachfrage gänzlich politisiert; Minister wirken als Handelsvertreter der Rüstungsfirmen, zum Marketing gehören politische Gegengeschäfte. Und ein Teil der Landwirtschaft — auf die keine westliche Nation verzichten würde — überlebt ohnehin nur dank staatlichem Schutz.

In Gottesnähe

Überall vermengen sich Markt und Staat. Beide sind derart aufeinander angewiesen, dass neben Kapital und Arbeit der Staat als «Produktionsfaktor» gelten müsste, wie es in der Sprache der Ökonomen heisst: als elementare Voraussetzung kapitalistischer Wirtschaft, die darauf gründet, dass staatliche Gewalten Privateigentum garantieren. Ohne Staat kein Kapitalismus — das ist die real existierende Markt- und Machtwirtschaft. Es gibt keine andere.

Aber es gab, bis vor Kurzem, die Marktutopie. Warum haben so viele Zeitgenossen den Markt wie eine Gottheit verehrt und den Staat verteufelt?

Triebfeder des Kapitalismus ist im Grunde nämlich der Plan. Die in kommunistischen Ländern untergegangene Planwirtschaft hat überlebt, wo sie niemand vermutet: in den Konzernspitzen. Jeden Sommer schmieden die Manager mit ihren Stäben die Pläne fürs nächste Jahr. Sie beraten über das Plansoll, verhandeln, wem wie viel Geld und Personal zuteil wird, um einen vorgegebenen Umsatz oder Gewinn zu erzielen. Sie haben auch Drei- oder Fünfjahrespläne — jedes Unternehmen ist eine kleine Planwirtschaft. In der Marktwirtschaft behaupten sich diejenigen Firmen am besten, die von Planung etwas verstehen.

Dabei beziehen sich die Pläne der Manager nicht nur aufs eigene Unternehmen. Am liebsten möchten sie ihren Markt beherrschen, dann können sie ihn besser planen. Selten gelingt das so gut wie dem Software-Riesen Microsoft, aber es bleibt das Ziel. Firmen wettern gegen jedes Monopol, das sie nicht selbst ausüben. Und reicht die eigene Kraft nicht aus, sprechen sie sich gern mit ihren Wettbewerbern ab, um — planwirtschaftlich — den Markt aufzuteilen und auszuhebeln. So stark ist der Hang zu Kartellen, dass der Staat sie verbieten musste. Den Weg zur Marktmacht ebnen jetzt deshalb Fusionen und Übernahmen, aus denen Riesenkonzerne erwachsen, wo die Kommandowirtschaft grassiert, mit der bekannten Mischung von Büro- und Autokratie. «Unternehmen sind totalitär strukturiert, ihre Rituale sind totalitär aufgebaut», schreibt der französische Autor Laurent Quintreau in seinem Bestseller «Und morgen bin ich dran».

So kann man die Dinge sehen. Man kann sie auch anders sehen. Wer Planwirtschaft sagt, meint in der Regel: Staatswirtschaft. Pläne haben wir alle — die Frage ist, inwiefern der Staat oder aber der Markt die Einzelpläne von Unternehmen und Menschen koordinieren soll. Und diese Frage ist bis heute nicht definitiv beantwortet, weder faktisch noch ideologisch.

Das Faktische: Der Anteil des Staats am Volkseinkommen der westlichen Länder beträgt rund fünfzig Prozent. Im real existierenden Kapitalismus halten wir uns ebenso sehr an die öffentliche Hand wie an die «unsichtbare Hand» des Markts. Unser System war längst vor der Krise halb Marktwirtschaft, halb Staatswirtschaft. Für die Hälfte der Volkswirtschaft hat sich — fast überall in den Industrieländern — die Steuerung durch den Staat durchgesetzt.

Markt erzeugt Staat

Das Ideologische: Die Lehrmeinung besagt, der Markt steuere die Wirtschaft besser als der Staat. Richtig? Nicht ganz. Die Marktwirtschaft bringt immer mehr Konzerne hervor, die so gross sind, dass sie nie untergehen dürfen und deswegen Staatsgarantie geniessen: «too big to fail», sagen die Angelsachsen. Die Globalisierung verstärkt den Trend. Ausgerechnet der Markt erzeugt noch mehr Staat.
Doch was sagten in den vergangenen Jahren die Marktschreier zu dieser Rückkehr des Etatismus durch die Hintertür? Nichts. Unberührt sahen sie der von Investmentbankern und Hedge-Fonds inszenierten Orgie der Fusionen zu, die im Einzelfall den Wettbewerb nicht unbedingt minderten, deren Summe aber — geradezu planmässig — auf Vermachtung statt Vermarktung deutete.

Dem Menschen ist der Plan vertraut wie der Markt. Dem Machtmenschen verhilft der Plan zur Marktmacht. Wie jede Ideologie verkennt die Marktideologie, was ihr zum Glück Grenzen setzt: den Menschen. Er ist komplexer und komplizierter als alle Glaubenssätze. Frappant war die Ähnlichkeit zwischen den marktradikalen Ideologen und den früheren kommunistischen Propagandisten. So wie einst die Partei immer recht hatte, galt später der Markt als unfehlbar, womit wir wieder beim Papst und in Gottesnähe sind. Ideologen erstreben das Vollkommene. Läuft etwas schief, wissen sie den Grund: Der Sozialismus sei noch nicht perfekt, aber alles werde gut, sobald der Kommunismus erreicht sei, die höchste Stufe des Fortschritts — sagten die einen. Und die anderen führten jedes Problem darauf zurück, der Markt sei nicht frei genug, weshalb er nicht einwandfrei funktioniere. Lasse man ihn ungehindert wirken, löse sich manches wie von selbst.

Acht Schwächen

Pech, dass wir uns — seit der grossen Krise erst recht — mit dem real existierenden, stets unvollkommenen Markt benügen müssen. Demokratie sei die schlechteste Staatsform, ausser allen anderen, sagte Winston Churchill. Marktwirtschaft ist vermutlich die schlechteste Wirtschaftsform, ausser allen früheren. Von Vorteil ist, dass sie einigermassen funktioniert, wiewohl mit schweren Aussetzern. Von Nachteil bleibt, dass sie gefährlich ist. Sie kann Menschen und Mentalitäten, Gesellschaften und ihre Werte, Völker und Volkswirtschaften schädigen — und sich selbst. Der Markt ist nicht das Ziel oder gar Ideal, sondern ein unbefriedigendes Instrument. Alle Vernunft spricht dafür, es einzusetzen, aber auch dafür, seinen mindestens acht Nachteilen und Schwächen Rechnung zu tragen.

Erstens: Auf dem Marktplatz wird fast alles in Geld bewertet. Der übermächtige Markt negiert oder zerstört nichtökonomische Werte, zum Beispiel demokratische, staatspolitische, gesellschaftliche, soziale, ökologische, kulturelle Werte. Irreführend ist die Annahme der Ultraliberalen, wenig Nachgefragtes sei von vornherein auch wenig werthaltig. Nicht selten verhält es sich umgekehrt. Was einige Medien anbieten, seit sie einer harten Markt- und Quotenwirtschaft unterstehen, ist zwar gefragt, aber oft von minderer Qualität und geradezu demokratieschädlich.

Zweitens: Wird ausgerechnet der Marktplatz — im Kasinokapitalismus die Börse — zum Angelpunkt der Gesellschaft, prägt er ihre Mentalität. Die Marktwirtschaft ufert zur Marktgesellschaft aus. Eine Familie, die untereinander marktwirtschaftlich statt solidarisch umginge, bliebe nicht lang eine. Eine reine Wettbewerbsgesellschaft ist brüchig.

Drittens: Der Marktplatz ist Ausleseplatz, auf dem manche Menschen gut bestehen, andere schlecht oder gar nicht. Zu wenig Markt schwächt die Leistung und mithin den Erhalt einer Gesellschaft, zu viel Markt schwächt ihren Zusammenhalt. Der Ultraliberalismus verbreiterte die Kluft zwischen den Gewinnern und jenen Verlierern, die zulasten der Gesellschaft und des Staats aus dem Markt scheiden.

Viertens: Wer besucht den Marktplatz — wer ist «der Markt»? Die Frage stellte bereits der Staatsdenker und Soziologe Max Weber, stets wird sie ungern beantwortet. Auf dem Arbeitsmarkt sind wir fast alle. Auf anderen Märkten nicht. Als der Spekulant George Soros 1992 das britische Pfund angriff und es mithilfe zahlreicher Gefolgsleute niederschlug, war dieser Machtmensch im Grunde «der Markt», er allein. Finanzleute bestimmen den Finanzmarkt, nicht wir, wiewohl unser Pensionskassengeld mit im Spiel ist. Und Finanzleute vertreten Eigeninteressen, die sie mit dem Gemeinwohl gleichsetzen.

Zwang zum Wachstum

Fünftens: Wer politische Macht hat, bestimmt weitgehend die Regeln auf dem Markt. Beispielsweise denkt Washington nicht daran, die Vormacht des Dollars preiszugeben. Die geltende «Marktordnung» erlaubt den Amerikanern, sich massiv im Ausland zu verschulden, in eigener Währung, ohne Risiko — in der Krise sind die Gläubiger der USA am kürzeren Hebel. Kein Wunder, dass China und Russland darauf sinnen, den Dollar als Leitwährung abzulösen. Auf dem Arbeitsmarkt wiederum bestimmen nicht bloss Angebot und Nachfrage den Lohn, sondern ebenso sehr die Machtproben zwischen Arbeitgeberverbänden und Gewerkschaften.

Sechstens: Oft kaufen sich die Marktmächtigen die Politik, die sie brauchen. Sie finanzieren Parteien und Volksvertreter, die dann im Wesentlichen jene Marktordnung durchsetzen, die ihren Auftrag- und Geldgebern ins Konzept passt. Oder Wirtschaftsführer steigen selbst in die Politik ein wie Silvio Berlusconi, der in Italien politische, wirtschaftliche und mediale Macht bündelt, und Christoph Blocher, dessen politische Linie genau seinen Eigeninteressen entspricht.

Siebtens: Der Markt braucht Wachstum und erzeugt Wachstum — durchaus auch dort, wo dieses Wachstum unerwünscht ist: wo Schonung der natürlichen oder sonstigen Ressourcen vorrangig wäre. Marktwirtschaft ist oft eine Vergeudungs- und Verschwendungswirtschaft, nur schon, weil sie die Konsumenten zum Konsumieren anregt. Und weil ein Markt ohne Wachstum besonders instabil ist. Wo Gleichgewicht ohne Wachstum herzustellen ist, eine wichtiger werdende Aufgabe, stösst der Markt an seine Grenzen.

Achtens: Der Marktplatz versagt, immer wieder. Im Jahr 2006, kurz vor Ausbruch der Krise, war der Finanzmarkt besonders ineffizient: Zinsen und Börsenkurse signalisierten in keiner Weise die Risiken, die manche Bank eingegangen war. Der Vorstandsvorsitzende der Deutschen Bank, Josef Ackermann, gestand im März 2008: «Ich glaube nicht mehr an die Selbstheilungskraft der Märkte.» Langfristig mag der Markt etliche Fehlentwicklungen berichtigen, doch «langfristig sind wir alle tot», pflegte der Ökonom John Maynard Keynes zu frotzeln. Und die Krisen, die der «selbst heilende» Markt oder der Staat bewältigen muss, bringen schweres Leid über die Menschen.

Selbstheilung — der Wortschatz des Kapitalismus neigt auch da zum Religiösen, als berge der Markt wie der Glaube eine übernatürliche Kraft zur Regeneration. Gerade dem Kasinokapitalismus wohnte eine fromme Unbekümmertheit inne: Wenn der Markt immer recht hat, erhebt «niemand mehr den Anspruch, das Geschehen zu verstehen», vermerkt der Soziologe Dirk Baecker. Solange der Markt göttergleich alles richtet, darf sich die kapitalistische Menschheit ihm hingeben. Politik, der Ausdruck menschlichen Gestaltungswillens jenseits des Markts, wirkt verdächtig, schädlich, frevelhaft. Die göttliche Regel lautet, dass der Mensch im Allgemeinen und der Politiker im Besonderen möglichst wenig Regeln aufstellen sollten. Die Allmacht hat und ist der Markt.

Zwischenergebnis 2
Im real existierenden Kapitalismus bleibt der Staat so wichtig wie der Markt; ist die gemischte Wirtschaft bewusst zu gestalten; ist der Markt als Macht zu begreifen; ist Gegenmacht aufzubauen, damit die nichtökonomischen Werte bestehen bleiben.

Roger de Weck ist Publizist und schreibt regelmässig für «Das Magazin». Dieser Text ist Teil eines Buchprojekts, das Ende Jahr unter dem Titel «Gibt es einen anderen Kapitalismus?» im Verlag Nagel&Kimche, Zürich und München, erscheinen wird. «Das Magazin» publiziert in loser Folge Auszüge.

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