Freitag, Januar 05, 2007

Das Vorsorgeprinzip - angewandt unter anderem in der Klimapolitik

Eine andere, differenziertere Sicht als der vorherige Artikel von Prof. Reichholf:

Das Vorsorgeprinzip spielt etwa in der Umweltpolitik eine bedeutende Rolle. Schäden für Mensch und Umwelt sollten möglichst vermieden werden, auch wenn über die Auswirkungen einer Tätigkeit nur mangelhaftes Wissen besteht. Dieser grundsätzlich vernünftige Gedanke kann aber auch durchaus gewünschte Veränderungen verhindern. Der Philosoph Klaus Peter Rippe formuliert Kriterien für eine sinnvolle Anwendung des Prinzips.

30. Dezember 2006, Neue Zürcher Zeitung
Ein Vorrang der schlechten Prognose?
Zu den ethischen Grundlagen des Vorsorgeprinzips


Das Vorsorgeprinzip spielt etwa in der Umweltpolitik eine bedeutende Rolle. Schäden für Mensch und Umwelt sollten möglichst vermieden werden, auch wenn über die Auswirkungen einer Tätigkeit nur mangelhaftes Wissen besteht. Dieser grundsätzlich vernünftige Gedanke kann aber auch durchaus gewünschte Veränderungen verhindern. Der Philosoph Klaus Peter Rippe formuliert Kriterien für eine sinnvolle Anwendung des Prinzips.

Von Klaus Peter Rippe*

Auch wenn das Vorsorgeprinzip im Kontext der Umweltpolitik formuliert wurde, besteht heute kaum ein Dissens darüber, dass es in allen Handlungsfeldern, also etwa auch im Umgang mit Medikamenten, Lebensmittelzusätzen oder technischen Innovationen, angewandt werden muss. In einem starken Verständnis erlaubt ein Vorsorgeprinzip präventive Massnahmen auch dann, wenn wissenschaftlich noch nicht vollständig gewiss ist, dass ein Schaden eintreten wird. Im Extremfall kann dies sogar heissen, dass «im Zweifel» eine Neuerung zu unterlassen ist. Zudem folgt aus dem Vorsorgeprinzip in diesem starken Verständnis eine Umkehr der Beweislast. Nicht die öffentliche Hand muss den Nachweis erbringen, dass ein Produkt oder eine Technik gefährlich ist. Der Produzent muss nachweisen, dass seine Technik bzw. sein Produkt nicht gefährlich ist.

Diskriminierend?
Kritiker befürchten, dass eine zu starke Interpretation des Vorsorgeprinzips in der Praxis nicht zu verantworten sei. Sie weisen auf sechs Punkte hin. Das Vorsorgeprinzip lege (1.) einen inakzeptablen Beweisstandard fest. Es sei prinzipiell unmöglich, empirisch zu beweisen, dass etwas beliebig langfristig keine schwerwiegenden schädigenden Auswirkungen hat. Das Vorsorgeprinzip nehme (2.) nur die negativen Auswirkungen in den Blick, aber nicht den potenziellen Nutzen neuer Technologien. Aber Chancen zu verpassen, berge ebenfalls Risiken. Schliesslich betrachte es (3.) nur die Schädigung, nicht die Wahrscheinlichkeit eines Schadenseintritts. Es sei aber unplausibel, schon dann Vorsorge zu betreiben, wenn der Schadenseintritt extrem unwahrscheinlich sei. Das Vorsorgeprinzip sei (4.) zu restriktiv. Sollten zum Beispiel alle Entwicklungen unterlassen werden, die schwerwiegende und irreversible Folgen nach sich ziehen könnten, müsse man nahezu alles verbieten. Weiterhin gebe es (5.) den interessierten Gruppierungen ungleich lange Spiesse in die Hand. Nichtregierungsorganisationen hätten in Sachen Technologie den unfairen Vorteil, stets den höchsten Trumpf in der Hand zu haben. Schliesslich fürchtet man (6.) eine Diskriminierung neuer Technologien gegenüber etablierten.

In der rechtlichen Implementierung des Vorsorgeprinzips haben sich diese Kritikpunkte mehr oder weniger stark niedergeschlagen. So hält die Europäische Union im Jahre 2000 fest, dass Massnahmen, die auf Grundlage des Vorsorgeprinzips getroffen werden, nicht diskriminierend sein dürfen und auch die möglichen Vorteile einer Entwicklung in den Blick zu nehmen haben. Die Frage ist freilich, ob diese Rechtsentwicklung mit dem Kerngedanken des Vorsorgeprinzips zu vereinbaren ist. Dies soll hier untersucht werden.

Damit werde ich nicht beim Recht einsetzen, um von da aus das moralisch Gebotene zu diskutieren, sondern vielmehr versuchen, den ethischen Kern herauszuarbeiten, auf dem das Vorsorgeprinzip ruht. Dieser Kern besteht, wie ich zeigen möchte, darin, dass wir unter bestimmten, genau definierten Bedingungen im Umgang mit Risiken verpflichtet sind, von einer allgemein sorgfältigen Handlungsweise zu einem risikoaversen Vorgehen überzugehen. Es geht unter diesen Bedingungen nicht um ein Abwägen von Chancen und Risiken; vielmehr gilt hier ein Vorrang der schlechten Prognose.

Das Problem der Handlungsblockade
Um das ethische Fundament des Vorsorgeprinzips erfassen zu können, bedarf es zunächst einiger Ausführungen zur Risikoethik. Risikoethik befasst sich mit der Frage, unter welchen Bedingungen eine Person sich selbst oder andere einem Risiko aussetzen darf. Die moralische Beurteilung der Übernahme eines individuellen Risikos oder einer Risikoexposition Dritter ist dabei unabhängig davon, ob der Schaden eintritt. Genauso wie ich einer Person etwas Gutes tue, wenn ich ihr Chancen eröffne (ihr etwa einen Vorstellungstermin vermittle), so tue ich ihr etwas Schlechtes, wenn ich sie einem Risiko aussetze. Fahre ich mit überhöhter Geschwindigkeit durch eine Innenstadt, ist diese Handlung selbst moralisch falsch. Sie legt den dem Risiko ausgesetzten Personen Kosten auf, sich vor meiner Handlung zu schützen, und verschliesst ihnen bestimmte Handlungsmöglichkeiten. Dass durch mein riskantes Verhalten möglicherweise kein Schaden eintritt, ist allein eine Frage des Zufalls, der mir nicht moralisch zuzuschreiben ist. Jedoch selbst als Fussgänger setzen wir andere dem Risiko aus, über unsere Füsse oder unseren Rollkoffer zu stolpern und dabei zu Schaden zu kommen. Will man nicht sagen, auch eine solche Handlung sei stets moralisch rechtfertigungsbedürftig, muss man Regeln angeben, wann eine Risikoexposition erlaubt ist und wann nicht.

Einige in der Risikoethik formulierte Kriterien scheitern daran, dass sie den Umgang mit Risiken so restriktiv regeln, dass nahezu keine Handlungsmöglichkeiten bleiben. Nach dem sogenannten Maximin-Kriterium soll man jene Handlungsoption wählen, welche - unabhängig von der Eintrittswahrscheinlichkeit - den grösstmöglichen Schaden vermeidet. Dies verböte aber nahezu jedes Handeln. Besteht auch nur die minimalste Wahrscheinlichkeit, dass jemand über meinen Rollkoffer fällt und zu Tode kommt, habe ich auf diesen Koffer zu verzichten. Da von mir verursachte Unglücksfälle auch dann nicht auszuschliessen sind, habe ich selbst den Spaziergang zu unterlassen.

Ebenfalls zu restriktiv wäre das Kriterium, dass man Personen nur dann einem Risiko aussetzen darf, wenn man ihre informierte Zustimmung hat. Würde vor jeder Handlung, die andere einem Risiko aussetzt, vom Einzelnen verlangt, die informierte Zustimmung der Betroffenen einzuholen, erhöhten sich die Transaktionskosten unseres Handelns in einer Weise, dass Moral dem Einzelnen kaum Raum zum Handeln gäbe. Es wäre wiederum nicht erlaubt, mit einem Rollkoffer von der Tramstation zum Bahnhof zu gehen. Denn man müsste ja zuvor die Zustimmung derjenigen einholen, die dem Risiko ausgesetzt sind, über den Koffer zu stolpern. Wir können hier auch nicht einfach die mutmassliche Zustimmung voraussetzen. Wie sollte man mit der Zustimmung rechnen dürfen, sich rücksichtslos zu verhalten?

Kein Nullrisiko verlangt
Geht man von der Prämisse aus, dass Moral menschliches Handeln nicht verunmöglichen, sondern im Gegenteil gutes menschliches Handeln ermöglichen soll, scheiden diese Kriterien aus. Eine Möglichkeit, dieses Problem der Handlungsblockade zu umgehen, ist, dass risikoexponierendes Handeln nicht prinzipiell untersagt, sondern unter bestimmten Bedingungen erlaubt ist. Solches Handeln ist zulässig, wenn allgemeine Sorgfaltsgesichtspunkte berücksichtigt werden: etwa wenn die möglichen Auswirkungen vorbedacht, mögliche Gefahrenquellen weitgehend entschärft, Warnungen ausgesprochen oder Gefahren umgangen werden; und zugleich jene spezifische Sorgfalt an den Tag gelegt wird, welche dem jeweiligen Risiko angemessen ist. Der Handelnde hat erstens sorgfältig abzuschätzen, worin die mit der Handlung verbundenen Risiken bestehen, und hat zweitens alles zu tun, einen Schadenseintritt zu vermeiden. Würde ein Nullrisiko verlangt, wäre auch dieses Modell ungeeignet, menschliches Handeln zu regulieren. Denn in diesem Falle forderte die Moral im Vorfeld einer Handlung so viel Vorsorge, dass kaum Zeit und Energie für etwas anderes blieben. Eine Möglichkeit bestünde hier darin, die Transaktionskosten auf beide Seiten zu verteilen. Nicht allein der, der den Rollkoffer hinter sich herzieht, hat Sorgfalt zu wahren, auch die anderen Parteien haben eine allgemeine Aufmerksamkeit an den Tag zu legen. Wenn jemand trotz aller Vorsicht und trotz meiner rechtzeitigen Warnung über meinen Rollkoffer stolpert, trägt die betreffende Person, nicht ich, die Verantwortung. Es ist moralisch zulässig, Personen einem Risiko auszusetzen, sofern die risikoaussetzende Person alle Sorgfaltsmassnahmen ergriffen hat, den Schadenseintritt zu vermeiden, und sofern die anderen Akteure eine allgemeine Sorgfalt walten lassen.

Mondlandung war richtige Entscheidung
Die Frage ist freilich, ob diese Regelung für jedes risikoexponierende Handeln gilt. Es gibt zwei Bedingungen, wo man von einem sorgfältigen zu einem risikoaversen Handeln übergehen sollte: Situationen, wo man mit Neuerungen konfrontiert ist, und Situationen, wo begründet Sorge besteht, dass ein grosser und irreversibler Schaden eintritt.

Um Sorgfaltskriterien anwenden zu können, muss bereits bekannt sein, wie man sich im spezifischen Falle sorgfältig zu verhalten hat. Es muss Erfahrungen geben, unter welchen Umständen Schäden eintreten können, und es bedarf Kenntnissen über das mögliche Ausmass der Schäden, die Eintrittswahrscheinlichkeit und die Wege, den Schaden zu vermeiden. Mitunter liegen solche Erkenntnisse jedoch nicht vor, etwa, wenn man es mit einem neuen Produkt oder Stoff, einer neuartigen Technik oder einem unbekanntem Lebewesen zu tun hat. Nehmen wir das Beispiel der ersten Mondlandung. Ob Mondstaub gefährlich ist oder nicht, war zu diesem Zeitpunkt nicht geklärt. Es gab jedoch Szenarien, dass in ausserirdischem Material gefährliche Krankheitsverursacher verborgen sein könnten. Es ist eine Sache, ob sich Astronauten freiwillig diesen Substanzen aussetzen, aber eine andere, ob die Nasa wagen durfte, unbeteiligte Dritte zu gefährden. Jene Gründe, die bei vertrauten Risiken zulassen, Dritte einem gewissen Restrisiko auszusetzen, bestanden nicht.

Sind keine Sorgfaltsregeln bekannt, kann ein Dritter weder kontrollieren, ob diese eingehalten werden, noch kann er den Risiken selbst vorbeugen. Er ist dem Risikoexponenten ausgeliefert. In einer solchen Situation muss der Risikoexponent, will er verantwortungsvoll handeln, der schlechten Prognose einen Vorrang geben. Er hat seine Vorgehensweise auf das schlechteste denkbare Szenario abzustellen, also risikoavers zu agieren. Dass sich die Quarantäne der Astronauten im Nachhinein als überflüssig erwiesen hat, ändert nichts daran, dass sie zum Zeitpunkt der Landung von Apollo 11 die richtige Entscheidung war.

Die Bestie von Gévaudan
Die zweite Bedingung bezieht sich auf das Schadensausmass. Nehmen wir zur Klärung dieses Gedankens ein bewusst technologiefernes, historisches Beispiel. Zwischen 1764 und 1767 tötete die sogenannte «Bestie von Gévaudan» sechzig Frauen, Jugendliche und Kinder. Für die Zeitgenossen war unklar, um was es sich handelte, einen Wolf, einen von Wolf und Hund abstammenden Mischling, einen Menschen oder, wie der Bischof von Mende mutmasste, um ein von Gott gesandtes Wesen. Hier interessiert freilich nicht, wer für die Todesfälle verantwortlich war, sondern das Handeln der Einwohner von Gévaudan. Trotz einer Serie von Todesfällen und dem Wissen, dass die «Bestie» nicht erlegt worden war, sandten die Bauern Kinder und Jugendliche weiterhin in den Wald, um das Vieh zu hüten.

Wir würden nicht sagen, hier reichte es, sorgfältig zu handeln; dass der Bauer den Hirten vor dem Risiko warnt, ihm eine Waffe mitgibt und rät, mögliche Helfer herbeizurufen. Hier ist also nicht nur Sorgfalt, sondern Unterlassen gefordert. Angesichts des Umstands des irreversiblen und grossen Schadens, der den Hirten droht, muss der mögliche wirtschaftliche Nutzen bedeutungslos scheinen. Die Armut der Einwohner erklärt vielleicht, wieso sie anders handelten. Ob sie die Handlungsweise rechtfertigt, ist eine andere Frage. Hätte keine Notsituation bestanden, würde man klar einfordern, Hirten und Vieh so lange im Ort zu lassen, bis die Bestie erlegt oder aus Gévaudan verschwunden ist.

Neuartige und schwere Schäden
Wir haben also zwei Fälle, wo man in Situationen, in denen man andere einem Risiko aussetzt, risikoavers handeln sollte: nämlich in Situationen, wo angesichts neuartiger Gefahren Szenarien vorliegen, dass andere Personen geschädigt werden könnten, und in solchen, wo ein ausreichender Verdacht vorliegt, dass den anderen schwerwiegende irreversible Schäden zugefügt werden. Nur im zweiten Fall besteht eine Pflicht, Handlungen zu unterlassen, die andere einem Risiko aussetzen. Aber auch im ersten besteht ein Vorrang der schlechten Prognose.

Wir können daraus einige Schlussfolgerungen zu den sechs eingangs genannten Kritikpunkten ziehen: Werden bei neuen Technologien, etwa der Nanotechnologie, ungewöhnlich hohe Sicherheitsanforderungen angelegt, handelt es sich nicht um eine (6.) ungerechtfertigte Diskriminierung dieser Technologie. Es gibt vielmehr Gründe, sich gegenüber technischen Neuerungen risikoaverser zu verhalten als gegenüber etablierten Technologien. Hier besteht Grund, vorrangig die (2.) negativen Auswirkungen in den Blick zu nehmen. Unterlassungen sind nur dann (4.) geboten, wenn es einen vernünftigen Grund gibt anzunehmen, dass ein grosser und schwerwiegender Schaden eintritt. Nur in diesem Falle wird als Beweisstandard (1.) gefordert, dass die Gefahr getilgt sein muss. Genauso wie hier (3.) die Eintrittswahrscheinlichkeit eine wichtige Rolle spielt, so auch beim Umgang mit technischen Neuerungen. Allerdings reichen hier plausible Szenarien als Begründung, um den Risikoexponenten besondere Vorsorgepflichten aufzubürden. Die Parteien haben dabei (5.) keine ungleichen Spiesse in der Hand. Vielmehr haben beide die gleichen Möglichkeiten festzustellen, ob die Bedingungen, unter denen risikoaverses Handeln geboten ist, erfüllt sind. Sind sie nicht erfüllt, wäre es falsch, ein Handeln gemäss dem Vorsorgeprinzip einzufordern.

* Klaus Peter Rippe, Privatdozent für praktische Philosophie, ist Geschäftsführer des Büros «ethik im diskurs» in Zürich und Präsident der eidgenössischen Ethikkommission für die Biotechnologie im Ausserhumanbereich (EKAH). Er lehrt Philosophie u. a. an der Pädagogischen Hochschule Karlsruhe.

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