Samstag, Januar 20, 2007

Russland - Energieriese mit Schwächen

Ist Präsident Putin in Russland tatsächlich so populär, wie das Umfragen seit Jahren mit erstaunlicher Konstanz anzeigen und viele Beobachter bestätigen? Garry Kasparow, der frühere Schachweltmeister und Vorsitzender der Vereinigten Bürgerfront, einer russischen Oppositionsgruppe, zieht diesen Befund energisch in Zweifel.

20. Januar 2007, Neue Zürcher Zeitung
Russland - Energieriese mit Schwächen

Ist Präsident Putin in Russland tatsächlich so populär, wie das Umfragen seit Jahren mit erstaunlicher Konstanz anzeigen und viele Beobachter bestätigen? Garry Kasparow, der frühere Schachweltmeister und Vorsitzender der Vereinigten Bürgerfront, einer russischen Oppositionsgruppe, zieht diesen Befund energisch in Zweifel. Er argumentiert, dass es in Russland keine auch nur halbwegs funktionierende Demokratie gebe. Die Antworten der Bürger bei solchen Umfragen seien nicht wirklich frei, sondern von Ängsten und Anpassungsdruck beeinflusst. Oppositionelle Kräfte hätten kaum Zugang zu den mehrheitlich staatlich kontrollierten Medien, sie würden von Putins Machtapparat schikaniert. Deshalb gebe es nur wenig Möglichkeiten, für eine alternative Politik Gehör zu finden.

PUTINS POPULARITÄT

Kasparow verdient gewiss Respekt für sein beherztes Engagement, und seine Kritik an den politischen Zuständen in Russland ist in mancher Hinsicht begründet. Aber dass Putin und sein Führungsstil in breiten Volksschichten auf Zustimmung stossen, dürfte schwer zu widerlegen sein. Auch kritisch eingestellte Bürger in Russland sind überzeugt, dass Putin im kommenden Jahr problemlos für eine dritte Amtszeit gewählt würde, wenn die russische Verfassung dies erlaubte. Ob der Kremlherr doch noch einen Weg findet, um seine überragende Macht über die Präsidentschaftswahlen 2008 hinaus zu perpetuieren, und wen er möglicherweise zu seinem Nachfolger designieren könnte - das sind die Fragen, die die russische Politik in den kommenden Monaten in Atem halten werden.

An Gründen für die anhaltende Popularität Putins fehlt es nicht. Unter seiner Herrschaft ist Russlands wirtschaftlicher Niedergang gestoppt worden. Seit einigen Jahren entwickelt sich die Volkswirtschaft mit stolzen Zuwachsraten um die 7 Prozent. Die Reallöhne haben laut Statistik im vergangenen Jahr gar um 15 Prozent zugenommen. Erstmals floss 2006 deutlich mehr ausländisches Geld nach Russland als russisches Kapital ins Ausland. Die zu Beginn der Putin-Ära noch knappen Devisenreserven zählen heute zu den umfangreichsten der Welt. Millionen von Bürgern aus einem breiter werdenden städtischen Mittelstand reisen nach Zypern, Portugal oder Florida in die Ferien - Destinationen, von denen sie zu sowjetischen Zeiten aus politischen und materiellen Gründen höchstens träumen konnten.

Putins inzwischen siebenjährige Herrschaft wird von vielen Russen mit solchen positiven Entwicklungen in Verbindung gebracht. Ebenso wird dem Präsidenten hoch angerechnet, dass die unter seinem Vorgänger Jelzin allmächtig scheinenden «Oligarchen» sich nun politisch dem Kreml klar unterordnen müssen - sofern sie sich nicht ins Ausland absetzten oder (wie im Fall des Ölmagnaten Chodorkowski) durch eine politisch manipulierte Justiz zu mehrjähriger Lagerhaft verurteilt wurden. Dass unter Putin demokratische Mechanismen deutlich zugunsten einer autoritären «Machtvertikale» eingeschränkt werden, raubt offenbar einer Mehrheit der Bürger nicht den Schlaf, wie auch die vor vier Monaten ermordete regimekritische Journalistin Anna Politkowskaja bitter bemerkt hatte. Dieser Mehrheit imponiert eine «starke Hand» im Kreml, die im Innern für eine gewisse Stabilität sorgt und nach aussen Respekt für Russland und seine Interessen einfordert. Im Jargon der Moskauer Machthaber wird das als «souveräne Demokratie» bezeichnet.

REICHER UND REDUZIERT

Allerdings stützen sich der wirtschaftliche Aufschwung und der neue Reichtum in den russischen Staatskassen ziemlich einseitig auf die in den vergangenen Jahren stark angestiegenen Weltmarktpreise für Erdöl und Erdgas. Von einer ähnlich dynamischen Entwicklung in andern Wirtschaftsbereichen ist, anders als etwa in China, in Russland noch wenig zu erkennen. Ausserdem verführt der Blick auf die begehrten russischen Rohstoffschätze und das durch deren Exporterlöse geförderte nationale Selbstvertrauen dazu, die Schwächen zu übersehen, die die Stabilität des Energieriesen gleichzeitig gefährden.

Dazu gehört das Problem der demographischen Schrumpfung, das Putin selber einmal zur akutesten gesellschaftlichen Herausforderung erklärt hat. Jährlich reduziert sich die russische Bevölkerung um mindestens 700 000 Bürger, was nicht nur mit niedrigen Geburtenraten, sondern auch mit einer schlechten Gesundheitsversorgung zu tun hat. Dabei ist unklar, ob mit einer verstärkten Legalisierung von Millionen von «schwarzen» Arbeitskräften aus den früheren Sowjetrepubliken der Bevölkerungsschwund nachhaltig gestoppt werden könnte. Eine grosszügige Einbürgerungspraxis etwa für Wanderarbeiter aus dem Südkaukasus oder aus Zentralasien scheint für Moskau nicht in Frage zu kommen, weil befürchtet wird, dass damit die auf lokalen Märkten und in manchen Regionen ohnehin schon explosiven ethnischen Spannungen zwischen Russen und Nichtrussen sich zusätzlich verschärfen. Unter den rund 145 Millionen Einwohnern Russlands rechnen sich heute 25 Millionen dem muslimischen Glauben zu.

Putins robuste Druckpolitik gegenüber einer Reihe von Nachbarländern und ehemaligen Sowjetrepubliken mit Hilfe von abrupten Importverboten und politisch bestimmten Preiserhöhungen für Gas- und Öllieferungen mag in Russland weitherum auf Genugtuung stossen und nationalistische Gefühle bedienen. Aber ob diese Art von Powerplay tatsächlich Russlands längerfristigen Interessen dient, ist eine andere Frage.

In Weissrussland, in der Westukraine, in der Republik Moldau, im Baltikum, in Georgien und Aserbeidschan, im EU-Land Polen und wohl auch in einigen zentralasiatischen Ländern schafft sich Moskau mit diesem Stil des barschen Grossmacht-Diktats bestimmt keine neuen Freunde oder gar zuverlässige Verbündete. Auch diese Länder werden aufgrund solcher Erfahrungen mehr denn je motiviert sein, ihre Abhängigkeit von russischen Energielieferungen wenn immer möglich zu reduzieren. Man braucht sich auch nicht zu wundern, dass die von Moskau einst als eine Art östliche EU erträumte Gemeinschaft ehemaliger Sowjetrepubliken (GUS) ein kaum noch wahrgenommenes Schattendasein fristet.

RESPEKT UND KRITIK

Wie soll man sich im Westen zu Putins Russland einstellen? Gefragt sind als Antwort auf die widersprüchlichen wirtschaftlichen und politischen Entwicklungen entsprechend differenzierte Urteile. Es trifft zu, dass Russland für den Westen in den letzten Jahren wieder zu einem unbequemeren und öfters unberechenbaren Partner geworden ist. Aber von einer Wiederkehr des Kalten Krieges zu reden, ist ebenso realitätsfremd wie das sture Diktum des früheren deutschen Bundeskanzlers Schröder, Putin sei ein lupenreiner Demokrat. Stärker als je zuvor sind Russland und der Westen heute aufeinander angewiesen. Putin verlangt als russischer Führer Respekt für sein Land und reagiert oft dünnhäutig auf Kritik. Respekt und Kritik schliessen sich aber bei differenzierter Betrachtung nicht gegenseitig aus.

R. M.

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