Zu der im letzten Abschnitt verkündeten Ansicht, dass man die Prognostiker mittels Regress haftbar machen sollte, könnte man anfügen, dass dies auch für Oekonomen bzw. sogar für Unternehmensführer gelten sollte. Würde man aber so eine Forderung aufstellen, käme sehr schnell die Aussage, dass eine zuverlässige Prognose halt unmöglich - da immer die Zukunft betreffend - ist.
Die Frage ist nicht, ob man die Prognostiker via Regressdrohungen zu genaueren Prognosen bewegen kann (eine naiv-dümmliche Vorstellung), sondern wie die Gesellschaft mit Prognosen umgeht. Der liebe Professor hat einen Nonvaleur geschrieben.
Ursus
Hier der Artikel zur Diskussion:
Es scheint, als brauchte der Mensch düstere Prognosen, um die Gegenwart auszuhalten. Schlechte Zukunftsaussichten finden immer ein Gehör. Dabei operieren die Wahrsager gerne mit unbestechlich dünkenden Trendrechnungen. Doch diese sind oft nicht mehr als Glaubenssache.
Von Josef H. Reichholf
30. Dezember 2006, Neue Zürcher Zeitung
Unsere Sucht nach Prognosen
Von der verführerischen Kraft der Trends - und wie man ihr widerstehen kann
Es scheint, als brauchte der Mensch düstere Prognosen, um die Gegenwart auszuhalten. Schlechte Zukunftsaussichten finden immer ein Gehör. Dabei operieren die Wahrsager gerne mit unbestechlich dünkenden Trendrechnungen. Doch diese sind oft nicht mehr als Glaubenssache.
Von Josef H. Reichholf*
Wie gehen wir mit Prognosen um? Schlecht, sehr schlecht und viel zu nachsichtig! Wider besseres Wissen aus der Erfahrung sind wir geneigt, den Prognosen zu folgen. Sind sie falsch, drohen den Verkündern keine Konsequenzen. Nicht einmal lächerlich machen sie sich mit nicht eingetretenen Vorhersagen. Kommt die Zeit, in der sie sich bewahrheiten sollten, hat man sie nämlich in aller Regel längst vergessen. Meistens wird Schlechtes prognostiziert. Tritt es nicht ein, ist alles in Ordnung, und man will weiter gar nichts mehr darüber wissen. Viele Menschen gehen ohnehin davon aus, dass alles nicht so schlimm kommen wird wie vorhergesagt. Oft genug stimmt das auch. Schlechte Nachrichten verkaufen sich dennoch immer gut. Gelegentlich gelingt es sogar, das an sich Gute durch geschickte Umverpackung so mieszumachen, dass man sich schämt, es genossen zu haben.
Glaubenssache
So geschah es zum Beispiel mit dem besonders schönen Sommer des Jahres 2003. Er bescherte uns, die wir von zumeist schlechter, auf jeden Fall aber unzuverlässiger Witterung geplagt werden, monatelang bestes Ferienwetter. Wer nicht fest gebucht hatte, brauchte nicht «in den Süden» zu fahren. Mittlerweile verblasst der Supersommer, weil auf ihn ganz normal die unnormalen folgten. Mit einer Häufung von Hitzesommern hatte man uns gedroht. Wie dann auch mit der Frage: «Schnee in den Bergen - bald Schnee von gestern?» Das befürchtete ein hochrangiger Vertreter des Deutschen Bundesamtes für Naturschutz im Jahre 2004 und verwies auf das Vordringen von wärmeliebenden Vogelarten. Dass es sich nach Lage der Fakten genau umgekehrt verhält und fast alle wärmebedürftigen Arten aus Deutschland verschwinden, störte offenbar nicht. Den Menschen, die mit den Schneemassen des letzten Winters (2005/06) zu kämpfen hatten, dürfte der «Schnee von gestern» auch nicht zugesagt haben.
Doch ein guter Prophet hat das Mittel parat, seine Vorhersage im Fall des Fehlschlages dennoch unschlagbar zu machen: Der Trend sei das Wesentliche. Er zeige, dass die Extreme zunähmen. Auf diese Weise hat die Prognose immer recht und kann nicht mehr widerlegt werden. Dass sie damit keine Naturwissenschaft mehr ist, sondern Glaubenssache geworden ist, stört die Propheten nicht. Sie haben in guten Zeiten, die sich neigen, immer Hochkonjunktur. Vorhersagen können sie, was sie wollen. Nur bedrohlich muss es sein. Die Prognose sollte am besten so weit in die Zukunft reichen, dass zwar in der Gegenwart Endzeitstimmung aufkommt, aber ihr Ergebnis niemand mehr erleben wird.
Nichts gelernt
Wir Menschen sind ja süchtig nach Prognosen. Anscheinend brauchen wir die finstersten Aussichten, um in der Gegenwart normal leben zu können. Eine Unmenge falscher Prognosen haben wir hinter uns. Nichts lernten wir anscheinend daraus. Wir gieren weiterhin nach neuen Vorhersagen. Nicht einmal der Zufall ist uns gnädig. Denn diesem gemäss sollte etwa die Hälfte der Vorhersagen stimmen. Das ist jedoch schon bei der Wettervorhersage nicht so. Ein paar Tage im Voraus klappt sie ganz gut. Mittel- oder langfristig versagt sie. Wer seine nächsten Sommer- oder Winterferien anhand einer Jahresprognose enttäuschungsfrei planen möchte, sollte tunlichst solch wetterstabile Orte als Ziel wählen wie die zentrale Sahara oder das antarktische Eis. Schönstes Juliwetter für die Ferien in der Schweiz lässt sich für Interessenten aus Hamburg nach wie vor nur zusammen mit dem Prinzip Hoffnung einplanen.
Ausgleichende Gerechtigkeit sorgt dafür, dass es den randalpinen Mitteleuropäern bei Ferien an der Nordsee ganz ähnlich ergeht. «Statistisch» zuverlässig kann nicht einmal der nächste Sommer vorhergesagt werden, geschweige denn jene kostbarsten Wochen darin, um die es uns konkret geht. Damit haben wir uns abgefunden. Wir hoffen auf unser Glück. Das Unabänderliche ist eben nicht zu ändern.
Was aber besagen die errechneten Trends? Kürzlich wurde festgestellt, dass sich der Beginn des Frühlings in Mitteleuropa im Verlauf der letzten 30 Jahre um zwei Wochen nach vorn verschoben habe. Gut oder schlecht? Bedenklich? Der Herbst von 2006 schlug bei dieser Meldung gerade Rekorde. Sie war passend ein halbes Jahr nach dem letzten Frühling placiert. Denn dieser liess nach einem recht kalten und extrem langen Winter auf sich warten. Noch Anfang Juni schneite es wenige Kilometer südlich von München bis ins Flachland. Weithin fiel bei vielen Singvögeln die erste Brut aus. Für die Fortpflanzung ist sie die wichtigste. Der kurze, heftige Hochsommer, der von Mitte Juni bis Ende Juli dauerte, nützte den Vogelbruten kaum noch etwas. Der August war dann stark unterkühlt. Der warme Herbst kam viel zu spät, kam aber dem Wein zugute. Der Sommerdurchschnitt wird also, wie auch der Jahresdurchschnitt, so gut wie nichts darüber aussagen, ob 2006 ein gutes oder ein schlechtes Jahr gewesen ist.
Nur Verlierer
Damit ist die Kernfrage angeschnitten: Was bedeuten die wetterstatistischen Trends für die Natur eigentlich? Die Vorverlagerung des Frühlingsbeginns könnte, so die mit höchst besorgter Miene verkündete Prognose einer deutschen Bioklimatologin, die Insekten begünstigen. Das einzige dazu vorgebrachte Beispiel ist der Borkenkäfer. Seine Ausbreitung hängt tatsächlich stark von den Witterungsverhältnissen ab. Doch treffen wird der Käfer vor allem die Fichtenforste im Flachland. Der Naturschutz hatte diese jahrzehntelang als «nicht standortgerecht» bekämpft und ihre Umwandlung zu gesundem Mischwald gefordert. Die Borkenkäfer könnten also diesen Umbau des Waldes beschleunigen. Das sollen sie natürlich auch wieder nicht. Die Waldbesitzer sind dagegen. Vorteile für andere Arten sind nicht gefragt. Wie viele Tiere und Pflanzen von wärmerer Frühjahrs- und Frühsommerwitterung profitieren würden, interessiert nicht.
Es geht immer nur um Schäden und Verluste. Bei der Klimaerwärmung darf es keine Gewinner geben! Dabei weisen die Fangergebnisse von automatischen Lebendfang-Lichtfallen den Sommer 2003 als einen ganz herausragenden Insekten- und Schmetterlingssommer aus. Naturfreunde und Naturschützer hätten in einen Taumel der Begeisterung verfallen müssen, wie sehr dieser Sommer der so arg geschundenen und nur formal auf dem Papier der Artenschutzverordnungen geschützten Insektenwelt, aber auch den Kriechtieren und Lurchen und einem Grossteil unserer Vogelwelt zugute gekommen ist. Schmetterlinge flogen schon am Tage überall in auffälliger Anzahl und Vielfalt, erst recht, doch leider ungesehen, in den Nächten dieses Sommers. Doch dieser blieb Ausnahme und ohne Nachwirkungen auf «die Natur», weil sich bereits im nächsten Jahr wieder alles normalisierte und auch die folgenden Sommer nichts Besseres brachten.
Statistische Trends besagen, genauer betrachtet, herzlich wenig über die Auswirkungen der Witterung in der Natur. Das gilt auch für die von eifrigen Vogelbeobachtern möglichst genau registrierte «Erstankunft» der verschiedenen Zugvogelarten. Der tatsächliche Einzug der Vögel in ihr Brutgebiet, der sich über Wochen erstreckt, wird davon nicht erfasst. Doch wusste nicht schon der Volksmund, dass eine Schwalbe noch keinen Sommer macht?
Die Natur ist nicht statisch
In der für die Natur so wichtigen Zeit des Frühsommers schwankt das Wetter, wie die Statistiken zeigen, seit je besonders stark. Die Daten vom Hohenpeissenberg südlich von München, von dessen Wetterstation seit über 200 Jahren Messreihen vorliegen, zeigen, wie viele andere auch, die enormen Schwankungen von Jahr zu Jahr. Vögel, Insekten und Pflanzen hätten keine Chancen gehabt, sich in den beiden letzten Jahrhunderten irgendeinem Trend anzupassen. Der statistische Anstieg um knapp ein Grad von 1850 bis in die Gegenwart blieb für die lebende Natur Mitteleuropas so gut wie bedeutungslos. Warum das so ist, liegt auf der Hand: Die Temperatur wirkt zwar direkt auf Gletscher, weil das Schmelzen von Eis ein rein physikalischer Vorgang ist, aber ihre biologische Wirkung fällt ungleich schwächer aus.
Im Freien sind die Lebewesen während eines Tages Temperaturspannen von 20 oder mehr Grad Celsius ausgesetzt. Im Jahreslauf bewegen sich die Unterschiede am Boden, wo die meisten Pflanzen und Tiere leben, von unter minus 30 Grad in den winterlichen Minima bis zu Maxima im Sommer, die bei starker Einstrahlung über plus 50 Grad ansteigen können. Die an den Wetterstationen standardisiert gemessenen Temperaturen haben eigentlich für kaum ein Lebewesen unmittelbare Bedeutung. Denn was lebt schon beständig frei in der Luft in eineinhalb Metern Höhe über dem Boden? Die Verbreitung sehr vieler Arten unserer Tiere und Pflanzen reicht zudem von der mediterranen Zone bis an den Polarkreis und vom Atlantik bis weit nach Innerasien hinein oder bis in den Fernen Osten. Riesig sind die Temperaturunterschiede darin. Die Klimaerwärmung der letzten vierzig Jahre betraf somit nur einen winzigen Ausschnitt aus der natürlichen Bandbreite der Lebensbedingungen.
Schliesslich ist zu bedenken, dass sich «die Natur» in den 1960er Jahren oder im späten 19. Jahrhundert ganz sicher nicht im besten aller möglichen Zustände befunden hat. Als Ausgangslage sind diese Zeiten beliebig. Dennoch werden Klimatrends darauf bezogen. Die lebendige Natur ist aber kein System, das sich in einem bestimmten Zustand befindet, sondern ein hochgradig dynamisches und komplexes biologisches Netzwerk von ausgleichenden und anpassenden Regulationsvorgängen. Ohne diese wäre das Leben gar nicht lebensfähig. Kein einziges natürliches System von nennenswerter Grösse ist bis anhin so gut erforscht, dass sein Verhalten über einen längeren Zeitraum hinweg vorausgesagt werden könnte. Vielleicht wird dies nie möglich sein, wenn die Chaostheorie recht hat.
Regress auf die Prognostiker
Für uns verbleibt damit das Problem, wie wir mit Prognosen umgehen sollten. Ein einfaches «weiter so wie bisher» wäre in zweifacher Hinsicht verkehrt. Denn einerseits kommen uns die Massnahmen oder Gegenmassnahmen, die aus den Prognosen abgeleitet wurden, teuer zu stehen. Die Mittel sollten jedoch nicht nur sinnvoll, sondern vor allem wirkungsvoll eingesetzt werden. Sinn ist Ansichts- oder Glaubenssache. Wirksamkeit lässt sich nachprüfen. Daran mangelt es am meisten. Denn die Urheber von Prognosen haben noch immer keine Regressansprüche zu befürchten, wenn sich herausstellen sollte, dass sie unrecht haben. Im Gegenteil: Eher werden weitere Mittel für noch «umfassendere Voraussagen» zur Verfügung gestellt.
Andererseits hilft die Ablehnung von Prognosen auch nicht weiter. Wir brauchen sie, denn viele Entscheidungen, die in der Gegenwart gefällt werden, wirken sich erst in der Zukunft aus. Deshalb sind solche Prognosen nötig, die jederzeit korrigiert und besseren Befunden angepasst werden können. Dazu müssen unbedingt auch die Vor- und Nachteile ordentlich abgewogen werden. Denn so gut wie jede Veränderung hat ihre guten Seiten. Ein erster Schritt zur Besserung wäre es daher, die Ersteller von Prognosen, die mit öffentlichen Mitteln in die Praxis umgesetzt werden, regresspflichtig in die Verantwortung zu nehmen. Bescheidenheit und weise Zurückhaltung dürften die Folge sein. Und ein ungleich besserer Wirkungsgrad der Mittel.
* Prof. Dr. Josef H. Reichholf arbeitet an der Zoologischen Staatssammlung und der Technischen Universität München. Kommendes Jahr wird sein neuestes Buch, «Eine kurze Naturgeschichte des letzten Jahrtausends», erscheinen.
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