Dienstag, Dezember 15, 2009

Das traurige Leben der Guerillera Miriam

Tages Anzeiger 14.12.2009
Das traurige Leben der Guerillera Miriam
Von Sandro Benini, Mexico City. Aktualisiert am 14.12.2009

18 Jahre lang war Zenaida Rueda alias Miriam bei der kolumbianischen Rebellentruppe Farc. Nun hat sie ein Buch geschrieben und erzählt von Drill, Märschen, Gefechten und Zwangsabtreibungen im Dschungel.

Zenaida Rueda war 17 Jahre alt, als die Farc ihrer Familie die übliche Quote abverlangte – üblich zumindest in der ländlichen Gegend, in der das Bauernmädchen aufgewachsen war. Ein Familienmitglied habe in den Reihen der Rebellenarmee gegen die kapitalistische Oligarchie und für den Kommunismus zu kämpfen, lautete die Forderung – entweder sie oder ihr Bruder....

Ausland
Tages Anzeiger 14.12.2009
Das traurige Leben der Guerillera Miriam
Von Sandro Benini, Mexico City. Aktualisiert am 14.12.2009

18 Jahre lang war Zenaida Rueda alias Miriam bei der kolumbianischen Rebellentruppe Farc. Nun hat sie ein Buch geschrieben und erzählt von Drill, Märschen, Gefechten und Zwangsabtreibungen im Dschungel.

Zenaida Rueda war 17 Jahre alt, als die Farc ihrer Familie die übliche Quote abverlangte – üblich zumindest in der ländlichen Gegend, in der das Bauernmädchen aufgewachsen war. Ein Familienmitglied habe in den Reihen der Rebellenarmee gegen die kapitalistische Oligarchie und für den Kommunismus zu kämpfen, lautete die Forderung – entweder sie oder ihr Bruder.

18 Jahre im Dienste der Farc


Dieses Schicksal wollte Zenaida ihrem Bruder ersparen. 18 Jahre lang trug sie deshalb die Uniform der Fuerzas Armadas Revolucionarias de Colombia (Farc), der grössten Guerilla der Welt. Im Januar 2009 desertierte sie, und jetzt ist in Kolumbien ihr Buch «Confesiones de una Guerrillera» («Geständnisse einer Guerillera») erschienen.

Es ist ein Bericht in einfacher Sprache, ohne Ansprüche, die Farc politisch einzuordnen oder die Motive ihrer Mitglieder psychologisch zu deuten. Auch eigene Gefühle beschreibt Rueda wortkarg, doch gerade dies verleiht ihren Geständnissen eine besondere Prägnanz. Sie schildert, was sie sieht und was sie erlebt, und stets ist dabei ein wenig die seelische Hornhaut zu spüren, die sie einer unerbittlichen Realität gegenüber schützen soll.

Drill, Märsche, Gefechte

Nachdem sich Zenaida Rueda der Farc angeschlossen hat, erhält sie den Kampfnamen Miriam. Das Leben als Revolutionärin ist eine einzige Plackerei, eine endlose Abfolge von Märschen, Gefechten und militärischen Übungen. «An einem normalen Tag steht ein Guerillero um 4.30 Uhr auf, bringt sein Schlaflager in Ordnung, geht auf die Latrine, putzt sich die Zähne. Ich gewöhnte mich nie daran, mit den anderen auf die Latrine zu gehen. Manchmal bestand sie lediglich aus einer breiten Grube, in die alle gleichzeitig defäkierten. Sie zu benutzen, war eine Tortur, weil alles voller Stechmücken war.»

Um 5 Uhr erhalten die Rebellen Kaffee und Frühstück – fast immer Reis mit Bohnen. Um 6.40 wird das Lager gesäubert, um 7.10 beginnen die Drillübungen, um 11 Uhr gibt es Mittagessen. Um 15 Uhr haben die Guerilleros 5 Minuten, um sich zu duschen, 2 Stunden später essen sie zu Abend; bei Einbruch der Dunkelheit gehen sie schlafen. Besonders öde findet Zenaida die Sitzungen, an denen Vorgesetzte aus den Schriften des Farc-Chefs Manuel Marulanda vorlesen oder Reden über Karl Marx halten.

Zwang zur Abtreibung

Miriam wird zur Funkerin ausgebildet, so bleibt ihr die Teilnahme an militärischen Gefechten meist erspart. Zweimal verliebt sie sich in einen Mitkämpfer, zweimal wird sie schwanger. Sie verheimlicht ihren Zustand, solange es geht, denn bei der Farc werden Föten selbst im siebten Monat noch abgetrieben. Nach der Geburt muss sie ihre Kinder in der Obhut von Bauernfamilien lassen. Der Kommandant ihrer Einheit heisst Victor Julio Suárez alias Mono Jojoy, der Affe Jojoy. Er gehört zum Sekretariat der Rebellenarmee und ist einer der bekanntesten Farc-Exponenten. Persönlich begegnet ihm Miriam viermal. Eines dieser Treffen ist ihr besonders in Erinnerung geblieben. «Der Alte sass auf einem Plastikstuhl, in Strandlatschen, ohne Hemd. In Wirklichkeit war er gar nicht so alt, aber wer bei der Guerilla über 35 oder 40 ist, den hat das harte Leben im Dschungel gezeichnet.»

Kurz zuvor wurde ein Kämpfer verhaftet, weil man ihn beschuldigte zu spionieren. Die Vorstellung, dass «Infiltrierte» die Farc unterwandern und den Standort einzelner Einheiten an die Armee verraten, ist für die Kommandanten Obsession und Disziplinierungsmittel zugleich. Wer als einfacher Soldat aufmuckt, muss stets damit rechnen, vor einen «Kriegsrat» gestellt zu werden. Dabei dürfen die anderen Guerilleros im Prinzip über das Schicksal des Angeklagten abstimmen. Wenn sie sich aber weigern, per Handaufheben in seine Erschiessung einzuwilligen, geraten sie oft selbst in Verdacht, Infiltrierte zu sein. «Jojoy sagte, wir sollten uns nicht als Weicheier zeigen, wenn es darum gehe, für die Hinrichtung zu stimmen. Ich beobachtete meine Gefährten aus den Augenwinkeln. Einer nach dem anderen hob die Hand, und ich dachte: Ich muss mich anschliessen, sonst verhaften sie mich und behaupten, ich sei ebenfalls eine Infiltrierte.»

In Zenaida Ruedas Buch tritt auch eine Figur auf, von der man bisher nichts wusste. «Nie zuvor in meinem Leben hatte ich einen Zwerg gesehen. Rigo besass eine Uniform und eine kleine Beretta-Pistole; er hatte grotesk krumme Beine und einen riesigen Hintern.» Der Kleinwüchsige darf sich so gut wie alles herausnehmen, denn er ist ein Sohn von Manuel Marulanda – des legendären Farc-Begründers und Oberguerillero, der im vergangenen März einem Herzinfarkt erlag. «Wenn uns Helikopter oder Bodentruppen angriffen, mussten wir uns zuerst um den Zwerg kümmern. Er hatte eine Vorliebe für grosse, schöne Guerilleras, und er bekam sie, weil er Marulandas Sohn war.» Einmal beobachtet Miriam ein Treffen zwischen den beiden. In der Ferne erscheint eine Wagenkolonne, nähert sich. «Der Konvoi stoppte, Marulanda liess das Fenster hinunter. Wir alle nahmen Achtungstellung an. Als er den Zwerg kommen sah, öffnete er die Türe. «Hallo, Vater», sagte Rigo. «Hallo, mein Sohn», antwortete Marulanda. Mehr sagten sie nicht.»

Zermürbende Bombardements


Im Jahr 2002 hebt die kolumbianische Regierung die «entmilitarisierte Zone» auf – jenes Gebiet von der Grösse der Schweiz, das sie der Farc zuvor überlassen hatte. Da die Friedensverhandlungen gescheitert sind, startet die reguläre Armee eine gross angelegte Offensive. Die Schilderungen, wie die ständigen Bombardements die Rebellen zermürben und reihenweise desertieren lassen, gehören zum Eindrücklichsten in Ruedas Buch. Die vergebliche Sehnsucht, ihre Kinder, Eltern und Geschwister wiederzusehen, lässt sie in Groll und später Apathie versinken. Zur Strafe wird sie abkommandiert, eine Gruppe von Geiseln zu bewachen.

Darunter befindet sich der 37-jährige Ingenieur Juan Fernando Samudio, den die Farc eineinhalb Jahre zuvor entführt hat, um Lösegeld zu erpressen. Miriam überredet ihn zur Flucht. Eines Nachts nähert sich die Armee dem Camp. Bei einem Angriff wäre Miriam laut den Gesetzen der Farc verpflichtet, sämtliche Geiseln zu erschiessen. Stattdessen schleicht sie sich mit Samudio aus dem Lager und stellt sich der Armee.

Heute lebt Zenaida Rueda zurückgezogen in Bogotá. Die Regierung hat ihr eine Belohnung ausbezahlt und einen Leibwächter zur Verfügung gestellt, denn Deserteuren verzeiht die Farc nie. Im Vorwort zu ihrem Buch schreibt die ehemalige Geisel Samudio: «Dies ist die Geschichte einer Frau, für die das Leben nach 18 Jahren im Dschungel jeden Wert verloren hatte. Dennoch gelang es ihr, zu fliehen und ihre Familie wiederzusehen. Sie hat dabei ihr Leben riskiert, um ein anderes zu retten.»

(Tages-Anzeiger)

Erstellt: 14.12.2009, 04:00 Uhr

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