Dienstag, Dezember 22, 2009

NZZ: Das Zwillings-Rätsel

13. Dezember 2009, NZZ am Sonntag
Das Zwillings-Rätsel

Warum gibt es an gewissen Orten gehäuft Zwillinge?

Ist es die Milch? Oder sind es die Folgen diabolischer Experimente des Nazi-Arztes Josef Mengele? Seit Jahrzehnten streiten sich die Experten über die Gründe, warum in einem kleinen Dorf im Süden Brasiliens weit überdurchschnittlich viele Zwillinge zur Welt kommen.

Von Wolfgang Kunath

Der stellvertretende Bürgermeister von Cândido Godói, einem kleinen Ort in Südbrasilien, seufzt. «Ich freu mich, dass nun endlich Schluss sein wird mit diesem Quatsch.» Man kann Mario Backes' Genugtuung gut verstehen. Denn seit Jahren ist seine Gemeinde immer wieder in den Schlagzeilen, immer wieder taucht eine gespenstische Theorie auf: Die aussergewöhnlich hohe Häufigkeit von Zwillingsgeburten unter den 6400 überwiegend deutschstämmigen Einwohnern von Cândido Godói gehe auf Josef Mengele zurück.

Der berüchtigte KZ-Arzt, der womöglich Hunderttausende....


13. Dezember 2009, NZZ am Sonntag
Das Zwillings-Rätsel

Warum gibt es an gewissen Orten gehäuft Zwillinge?

Ist es die Milch? Oder sind es die Folgen diabolischer Experimente des Nazi-Arztes Josef Mengele? Seit Jahrzehnten streiten sich die Experten über die Gründe, warum in einem kleinen Dorf im Süden Brasiliens weit überdurchschnittlich viele Zwillinge zur Welt kommen.

Von Wolfgang Kunath

Der stellvertretende Bürgermeister von Cândido Godói, einem kleinen Ort in Südbrasilien, seufzt. «Ich freu mich, dass nun endlich Schluss sein wird mit diesem Quatsch.» Man kann Mario Backes' Genugtuung gut verstehen. Denn seit Jahren ist seine Gemeinde immer wieder in den Schlagzeilen, immer wieder taucht eine gespenstische Theorie auf: Die aussergewöhnlich hohe Häufigkeit von Zwillingsgeburten unter den 6400 überwiegend deutschstämmigen Einwohnern von Cândido Godói gehe auf Josef Mengele zurück.

Der berüchtigte KZ-Arzt, der womöglich Hunderttausende in den Tod schickte und in Auschwitz an etwa 1500 Zwillingspaaren grausame Experimente unternahm, soll in den sechziger Jahren in Cândido Godói durch genetische Manipulationen einen Zwillings-Boom erzeugt haben. «Alles erfunden», sagt Backes und führt ein handfestes Argument an: «Welche konservative Bauersfrau liesse denn so etwas mit sich machen!»

«Terra dos gêmeos»


Backes' Zuversicht, dass «dieses Gerede» endlich aufhört, gründet vor allem auf der Wissenschaft. Brasilianische Genetiker wollen das Geheimnis lüften, warum in Cândido Godói die vielen Zwillinge geboren werden, auf die das kleine, vom Soja-, Weizen- und Maisanbau lebende Städtchen so stolz ist, dass es sich «terra dos gêmeos» nennt – Land der Zwillinge.

«Mit dieser Forschung wurde schon vor zwölf Jahren begonnen, und damals kursierte diese Mengele-Theorie auch schon», sagt die Genetikprofessorin Lavínia Faccini von der Bundes-Universität Porto Alegre. Aber zwischendurch stockte die Finanzierung, und erst seit kurzem ist wieder Geld da, um die Zwillingsforschung fortzuführen.

Und immerhin ein Ergebnis, sagt die Professorin im Interview, liegt jetzt schon vor: «Aufgrund der Geburtenregister, die wir untersucht haben, kann man die Mengele-Theorie definitiv ausschliessen.» Die Register beginnen 1927, bis 1959 sind sie zwar nicht so genau wie danach, aber dennoch: Bei 3 Prozent aller Geburten in Cândido Godói – und zwar praktisch konstant – kommen Zwillinge zur Welt, das sind mehr als doppelt so viel wie zum Beispiel in der Schweiz. Mit gar 7 Prozent noch höher ist die Zwillingsrate im zur Gemeinde gehörenden Weiler Linha São Pedro – aber auch das praktisch gleichbleibend über die Jahrzehnte hinweg. «Wir haben extra nach Clustern in den Sechzigern geforscht, als Mengele da gewesen sein soll», unterstreicht die Genetikerin, «aber die gibt es nicht.»

Im Januar veröffentlichte der Argentinier Jorge Camarasa sein Buch «Mengele: Der Todesengel in Südamerika» und löste damit – wieder einmal – eine rund um den Globus reichende Debatte aus. Laut Camarasa reiste Mengele, dem nach dem Krieg die Flucht nach Argentinien gelang und der erst 1979 in Brasilien einem Schlaganfall erlag, in den frühen Sechzigern in der Gegend von Cândido Godói herum, stellte sich bald als Arzt, bald als Veterinär vor, verabreichte nicht näher bezeichnete Medizinen und unternahm genetische Manipulationen.

Dass sich Camarasa dabei auf das Buch von Anencir Flores, einem früheren Arzt und Bürgermeister der Zwillingsstadt, stützte, fiel nicht weiter auf: Auch Flores liess Mengele nach Cândido Godói kommen, aber er räumte später ein, dass er Realität und Fiktion verknüpft hatte.

«Vermutlich war Cândido Godói Mengeles Laboratorium, in dem er endlich seinen Traum verwirklichen konnte, eine Herrenrasse von blonden, blauäugigen Ariern heranzuzüchten», sagte Camarasa damals. Während ein Teil der Presse Skepsis äusserte und offen spottete über die abstruse These, nahmen andere Medien sie ernster, oder sie machten sich Camarasas Theorie zu eigen: «Mengeles Geheim-Labor entdeckt? Ein Historiker fand seine Spuren», titelte zum Beispiel die Berliner «B. Z.».

Was bisher nur Neonazi-Kreise behaupteten, wurde plötzlich auch in der seriösen Presse als möglich oder gar wahrscheinlich erwogen: dass die grausamen Experimente eines der grössten Verbrecher des 20. Jahrhunderts tatsächlich wissenschaftlichen Wert und in Cândido Godói noch dazu praktische Erfolge gehabt haben könnten. «Absurd», schimpft Professorin Faccini, «Mengele war wissenschaftlich eine Null.»

Auch die Biografie Mengeles spricht gegen Camarasas Theorie. Dem Todesengel von Auschwitz gelang 1949 mit Hilfe von Schweizer und vatikanischen Helfershelfern die Flucht nach Argentinien, wo er unbehelligt unter anderen Nazis lebte, von seiner Familie in Deutschland finanziert und von der deutschen Botschaft sogar mit einem Pass auf seinen wahren Namen ausgestattet.

Als jedoch der israelische Geheimdienst Mossad 1960 den Nazi-Verbrecher Adolf Eichmann in Argentinien entführte, um ihn in Israel vor Gericht zu stellen, bekam es Mengele mit der Angst zu tun. «Von nun an würde er kaum einen Moment seines verbleibenden Lebens verbringen, ohne ängstlich über die Schulter zu schauen», schreibt der Historiker Uki Goñi, der ein Standardwerk über die Nazi-Flucht nach Argentinien verfasst hat. Reist so einer durchs Land und bietet prüden Bäuerinnen Zwillingsgeburten an?

Blonde Zwillinge

Doch wenn die Mengele-Theorie ausgeschlossen werden kann, wie lassen sich dann die viele blonden Zwillinge von Cândido Godói erklären? Lavínia Faccini und ihre Kollegen wollen der sogenannten Gründertheorie nachgehen: «Nehmen wir hundert Familien, von denen eine die genetische Prädisposition für Zwillinge hat, davon ziehen drei an einen abgeschiedenen Ort», erläutert die Professorin, «wenn die mit der Zwillingsneigung dabei ist, steigt die Chance, dass dieses Merkmal auftritt, von 1 zu 100 auf 1 zu 3 – und so etwas könnte in dem Weiler Linha São Pedro passiert sein.»

Später wollen die Wissenschafter das genetische Material und die Wanderungsgeschichte der Familien untersuchen: «Linha São Pedro wurde von acht bis zehn Familien gegründet, die meisten deutsch, eine aus dem Aargau, aber keine reiste direkt aus Europa an, sondern sie kamen schon in einem zweiten Emigrationsschritt.»

Cândido Godói ist im Übrigen kein Einzelfall. Überdurchschnittliche Zwillingshäufigkeit wird da und dort auf der Welt festgestellt, etwa in Indien oder in Rumänien, und da oft in entlegenen, abgeschlossenen Orten, was für die Gründertheorie spricht. Andererseits sind Zwillinge bei manchen Völkern selten – in China und Japan etwa –, während andere wieder überdurchschnittlich viele Zwillingsgeburten registrieren, so etwa die Yoruba in Nigeria. Wie erklärt sich das?

«Wir wissen, dass die Umweltfaktoren einen Einfluss haben», sagt die Genetikprofessorin, «Frauen, die viel Milchprodukte zu sich nehmen, bekommen eher Zwillinge als Veganerinnen, ebenso wie Frauen, die gross und stark gebaut sind.» Aber keiner dieser Faktoren allein könne die vielen Zwillinge in Linha São Pedro erklären, meint Lavínia Faccini; denkbar sei die Kombination genetischer Faktoren mit bestimmten Umwelteinflüssen.

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