Freitag, Dezember 11, 2009

NZZ: Den Tag ins Zimmer holen

9. Dezember 2009, Neue Zürcher Zeitung
Den Tag ins Zimmer holen
Biologisch wirksame Beleuchtungskonzepte zur Unterstützung der inneren Uhr

Blaues Licht ist ein wichtiger Bestandteil des Sonnenlichts und der zentrale Taktgeber der inneren Uhr. Mit neuen Lichtkonzepten simuliert man nun in Innenräumen das Tageslicht.

Hanna Wick

Der Mensch ist ein tagaktives Wesen. Er wacht am Tag und schläft in der Nacht. Zumindest war das vor Urzeiten einmal so. Heute sind wir daran gewöhnt, den Tag durch künstliches Licht zu verlängern, auch weit bis nach Mitternacht. Und viele Menschen verbringen die meiste Zeit nicht mehr unter freiem Himmel, sondern in Innenräumen. Diese sind zwar gut genug beleuchtet, um eine Arbeit auszuführen, nie aber so hell wie das Tageslicht.


9. Dezember 2009, Neue Zürcher Zeitung
Den Tag ins Zimmer holen
Biologisch wirksame Beleuchtungskonzepte zur Unterstützung der inneren Uhr

Blaues Licht ist ein wichtiger Bestandteil des Sonnenlichts und der zentrale Taktgeber der inneren Uhr. Mit neuen Lichtkonzepten simuliert man nun in Innenräumen das Tageslicht.

Hanna Wick

Der Mensch ist ein tagaktives Wesen. Er wacht am Tag und schläft in der Nacht. Zumindest war das vor Urzeiten einmal so. Heute sind wir daran gewöhnt, den Tag durch künstliches Licht zu verlängern, auch weit bis nach Mitternacht. Und viele Menschen verbringen die meiste Zeit nicht mehr unter freiem Himmel, sondern in Innenräumen. Diese sind zwar gut genug beleuchtet, um eine Arbeit auszuführen, nie aber so hell wie das Tageslicht.

Gesundheitliche Folgen


So ist der moderne Mensch ganz anderen Lichtsituationen ausgesetzt als seine Urahnen, und das kann gesundheitliche Folgen haben: Zu wenig oder zu viel Licht zur falschen Zeit bringt nämlich die innere Uhr aus dem Takt. Besonders hart betroffen sind Abend- und Nachtschichtarbeiter, zu denen in der EU etwa 20 Prozent der Beschäftigten gehören. Sie leiden oft an Schlaf- und Konzentrationsstörungen und müssen auch mit langfristigen Folgen rechnen. So haben Frauen, die nachts arbeiten, laut heutigem Wissensstand ein höheres Risiko, an Brustkrebs zu erkranken. Eine Ursache könnte ein Mangel des Hormons Melatonin sein; es ist bekannt dafür, den schädlichen oxidativen Stress in den Zellen zu vermindern.

Seit zwei Jahren stuft die WHO Nachtarbeit deshalb als «wahrscheinlich krebserregend» ein. Aufgrund dessen hat Dänemark im Frühling dieses Jahres als erstes Land weltweit damit begonnen, ehemalige Schichtarbeiterinnen mit Brustkrebs finanziell zu entschädigen. Und zahlreiche Länder prüfen, wie sich die negativen Folgen der Nachtarbeit mindern liessen. Zu den diskutierten Massnahmen gehört eine Lichtplanung, die den Tag-Nacht-Rhythmus der Schichtarbeiter möglichst wenig stört.

Ein wichtiger Impuls für diese Anstrengungen war die überraschende Entdeckung eines neuen Rezeptors in der Netzhaut im Jahr 2002. Der Lichtrezeptor spielt eine zentrale Rolle bei der Synchronisation der inneren Uhr mit dem «externen» Tagesverlauf und reagiert vor allem auf kurzwelliges, blaues Licht (siehe Kasten). Hier reichen schon sehr geringe Lichtstärken aus, um den Schlaf-Wach-Rhythmus von Probanden aus dem Takt zu bringen. So konnte Christian Cajochen von der Universität Basel nachweisen, dass schon eine 30-minütige Bestrahlung mit Blaulicht von nur 5 Lux am Abend die subjektive Aufmerksamkeit von Versuchspersonen in der Nacht erhöht und die Tiefschlafphasen verkürzt – verglichen mit einer Bestrahlung durch grünes Licht. Ausserdem sank der Melatonin-Spiegel deutlich ab.

Bei weissem Licht braucht es höhere Beleuchtungsstärken von 1000 bis 10 000 Lux, um ähnlich starke Effekte hervorzurufen. (Zum Vergleich: Ein heller Sonnentag kann bis zu 100 000 Lux erreichen.) Blaues Licht beeinflusst die innere Uhr also besonders stark. Das überrascht nicht, wenn man bedenkt, dass der Blaulicht-Anteil des Tageslichts vom Morgen an stetig zunimmt, um mittags, in der Phase stärkster Wachheit, sein Maximum zu erreichen.

Vielleicht liessen sich die schädlichen Auswirkungen der Nachtarbeit also mindern, wenn in der Nacht möglichst auf «weckendes» Blaulicht verzichtet würde. Dies müsste allerdings geschehen, ohne die Konzentration und Aufmerksamkeit bei der Arbeit zu verringern – ein (noch) unlösbares Problem. Eine andere Strategie wird in der neugestalteten Gotthard-Autobahnraststätte im Kanton Uri verfolgt: Dort erleben die pausierenden Gäste – viele sind Lastwagenfahrer – keine normale, immergleiche Beleuchtung. Stattdessen läuft ein Programm, bei dem die Farbe und Stärke des Lichts dem Tagesverlauf nachempfunden ist – und zwar nachts dasselbe wie am Tag. Abends um sechs geht die Sonne also quasi ein zweites Mal auf. Um Mitternacht ist das Licht dann hell und kühl, so wie am Mittag. Ob dies bei den Kunden tatsächlich einen positiven Effekt hat, wurde bisher aber offenbar nicht untersucht.

Licht – ein Medikament?


Nicht nur Schichtarbeiter leiden unter schlechten Lichtbedingungen, sondern auch die Bewohner von Altersheimen. Sie sind häufig immobil und verlassen die Gebäude nur selten. Diese aber sind aus Spargründen oft nur schwach beleuchtet – obwohl gerade alte Menschen aufgrund getrübter Linsen mehr Licht brauchen als junge. Ausserdem hat das Licht in den Heimen den ganzen Tag dieselbe Einstellung. Die Folgen dieser schlechten Lichtverhältnisse sind häufige Nickerchen am Tag und Schlafstörungen in der Nacht, aber auch depressive Verstimmungen.

Da liegt die Idee nahe, die Aktivität der Patienten am Tag mit Licht zu steigern. Bereits sind dazu einige Studien publiziert worden, vor allem mit Demenzkranken. So hat etwa eine niederländische Gruppe vergangenes Jahr gezeigt, dass helles weisses Licht die Gemütslage, den Schlaf sowie die kognitiven und motorischen Fähigkeiten von Demenzpatienten verbessert. In einem Projekt der österreichischen Lichtfirma Zumtobel in Wien wiederum gelang es, durch helles Licht die Kommunikation der Bewohner mit dem Pflegepersonal zu steigern. Zudem beteiligten sie sich mehr an sozialen Aktivitäten als früher. Dabei spielte es eine untergeordnete Rolle, ob das helle Licht warmweiss eingestellt war oder kaltweiss wie das Tageslicht. In einer Folgestudie soll nun untersucht werden, ob sich mit dem neuen Licht auch das Schlafverhalten verbessern und der Medikamentenverbrauch senken lässt.

Ein anderer Anwendungsbereich für neue Lichtkonzepte sind Schulen. Denn Kinder leiden am Morgen oft an Lichtmangel – gerade im Winter, wenn es auf dem Schulweg noch stockfinster ist. Deshalb sind sie in der Schule nicht optimal aufnahmefähig. Ausreichend Licht, ob künstlich oder natürlich, könnte das Problem beheben.

Aufsehen erregte Anfang Jahr eine Studie aus Hamburg, wo einige Primarschulzimmer mit dynamischem Licht ausgestattet wurden. Morgens tauchte man die Schüler in helles, blauweisses Licht. Wurden die Schüler zu aktiv, konnten die Lehrer auf beruhigendes warmes Licht umschalten. Während eines Jahres untersuchten Forscher der Universitätsklinik Eppendorf, was dies bei den Kindern bewirkte. Das Resultat: Im Vergleich zu normal beleuchteten Kindern machten sie weniger Fehler und konnten besser lesen. Ausserdem verringerte sich die motorische Unruhe. Unter Fachleuten ist allerdings umstritten, ob diese Effekte tatsächlich nur auf das neue Licht zurückzuführen sind.

Positive Effekte erhofft man sich auch von besserem Licht am Arbeitsplatz. Ob diese Hoffnung berechtigt ist, haben Forscher der Universität Surrey vergangenes Jahr in einem Bürogebäude in England untersucht. Sie bestrahlten je ein Stockwerk zuerst vier Wochen mit weissem Licht und dann vier Wochen mit blau angereichertem Licht oder umgekehrt. Sowohl Aufmerksamkeit als auch Gemütslage, Leistung, Konzentration und Sehkomfort waren beim blauweissen Licht signifikant verbessert. Auch konnten die Probanden in der Nacht besser schlafen. Ein Schwachpunkt der Studie ist allerdings, dass die subjektiven Messgrössen nicht durch objektive Messungen – etwa des Melatonin-Spiegels – ergänzt wurden.

Wichtige Lichtquellen im Büro sind nicht nur Lampen, sondern auch die Bildschirme. Biologisch besonders aktiv sind wahrscheinlich Modelle der neusten Generation mit Leuchtdioden, denn sie emittieren stark im blauen Wellenlängenbereich. Diese Hypothese hat Cajochen von der Universität Basel in einer Studie untersucht; die Ergebnisse deuten in die vermutete Richtung, sind aber noch nicht fertig ausgewertet.

All diese Resultate zeigen, dass die Forschungsaktivität im Gebiet der biologisch wirksamen Beleuchtung derzeit sehr rege ist; tagtäglich kommen neue Erkenntnisse hinzu. Noch sind allerdings längst nicht alle Fragen geklärt. So ist beispielsweise unklar, wie die Beleuchtung zeitlich optimal zu regeln ist. Nicht alle Menschen haben denselben Chronotyp: Die einen sind Abend-, die anderen Morgenmenschen. Kopfzerbrechen bereitet den Forschern auch, dass nicht jeder gleich stark auf blaues Licht reagiert. Studien zeigten, dass sich bei Personen, die meist draussen oder meist drinnen arbeiteten, die Sensitivität der Netzhaut langfristig verändere, erklärt Mirjam Münch von der ETH Lausanne. Es finde also ein Anpassungsprozess statt. Ausserdem gibt es wahrscheinlich genetische Unterschiede in der Lichtsensitivität.

Vorsicht bei Blaulicht-Doping

Die wohl umstrittenste Frage ist, ob mehr Blaulicht zu mehr Augenerkrankungen führt. Denn blaues Licht ist energieintensiver als gelbes oder rotes. Ein Hinweis darauf ist, dass sich die Linse mit dem Alter gelb färbt; das wird von Augenärzten als Schutz des Auges vor Blaulicht interpretiert. Auch vermutet man, dass eine hohe Lichtexposition die Entwicklung von altersabhängiger Makuladegeneration begünstigen könnte, wie Martin Schmid von der Augenklinik des Luzerner Kantonsspitals erklärt. Die Krankheit ist heute in der Schweiz einer der wichtigsten Gründe für Erblindung.

Die Sachlage ist allerdings alles andere als klar: Implantiert man Patienten mit grauem Star eine neue Linse, kommt es bei diesen laut neusten Erkenntnissen nicht zu mehr Fällen von Makuladegeneration, obwohl die Linse nun wieder mehr blaues Licht durchlässt. Noch könne man also nicht abschliessend beurteilen, ob blaues Licht für die Netzhaut besonders schädlich sei oder nicht, sagt Schmid. Er plädiert dafür, allfällige Probleme zu bedenken, bevor man Menschen plötzlich extrem mit Blaulicht beleuchtet.

Die praktische Anwendung aber schreitet voran: Die Industrie hat das neue Betätigungsfeld der biologisch wirksamen, dynamischen Beleuchtung sehr schnell erkannt und für sich erobert. Die beiden Marktführer Philips und Osram – aber auch zahlreiche kleinere Firmen – bieten bereits entsprechende Konzepte auf dem Markt an. Oft basieren diese auf herkömmlichen Leuchtstoffröhren in verschiedenen Lichtfarben, die hinter einer milchigen Deckenverkleidung aus Kunststoff angebracht sind und zwischen denen man hin und her schaltet. Auch Leuchtdioden werden eingesetzt. Sie haben den Vorteil, dass man die Farbe während des Betriebs kontinuierlich verändern kann.

Normierungsbestrebungen

Die neuen Beleuchtungskonzepte erregen die Aufmerksamkeit der Kunden: Immer öfter sind Lichtplaner mit dem Wunsch nach dynamischer Beleuchtung konfrontiert. Davon profitieren auch Trittbrettfahrer. Im Internet sind bereits Lampen erhältlich, deren Nutzen schlecht oder gar nicht untermauert ist. Deshalb drängt die Lichtindustrie darauf, gewisse Standards einzuführen.

Vorreiter dieser Entwicklung ist das Deutsche Institut für Normung (DIN). Es hat bereits eine erste Vornorm erstellt, die wichtige Begriffe zur zirkadianen, nichtvisuellen Wirkung von Licht auf den Menschen klärt (DIN V 5031-100). «Nun arbeiten wir an einer weiteren Vornorm», sagt Christoph Schierz von der Technischen Universität Ilmenau. «Sie soll aufzeigen, wann und wie biologisch wirksame Beleuchtung einzusetzen ist und wie viel wirksamer sie ist als normales Licht.»

Viele Forscher glauben allerdings, dass es für eine solche Richtlinie noch zu früh ist. Noch seien zu viele Fragen offen, und es mangle an Studienergebnissen, um sich derart festzulegen, meint etwa Münch. Der Lichtexperte Mark Rea vom Rensselaer Polytechnic Institute in den USA hingegen begrüsst die Entwicklung. Es gebe genügend Anhaltspunkte, sich hinter gewisse Anwendungen von biodynamischer Beleuchtung bei Senioren und Kindern zu stellen; skeptischer ist er dagegen bei neuen Bürobeleuchtungen. Auch Cajochen findet es positiv, dass neben den visuellen Aspekten nun vermehrt die Wirkungen des Lichts auf die innere Uhr berücksichtigt werden. Denn Licht sei mehr als «nur» Sehen.

H. W. ⋅ Im menschlichen Körper ticken unzählige Uhren – zum Beispiel in den Zellen der Leber, der Nieren, der Lungen oder des Herzens. Sie folgen einem Rhythmus von ungefähr 24 Stunden (zirkadian = zirka ein Tag). Dirigiert werden diese Uhren von einer winzigen Hirnregion hinter dem Sehnerv, dem suprachiasmatischen Kern. Er gilt als Haupt-Schrittmacher für den zirkadianen Rhythmus des Menschen.

Sein starker Takt bleibt auch ohne Tageslicht bestehen. Das haben Experimente gezeigt, bei denen Probanden mehrere Wochen in Höhlen oder Bunkern verbrachten. Die Menschen folgten auch im dämmrigen Licht einer klaren Schlaf-Wach-Rhythmik. Der «Tag», den ihnen der suprachiasmatische Kern vorgab, dauerte allerdings immer etwas länger als 24 Stunden – und verschob sich deshalb mehr und mehr gegenüber der realen Ortszeit. Bei der Rückkehr ans Tageslicht äusserte sich das in einer Art Jetlag.

Um dieses «Freilaufen» der inneren Uhr zu verhindern, braucht es Licht von aussen. Eine wesentliche Rolle spielt dabei ein neu entdeckter Lichtrezeptor in der Netzhaut. Er basiert auf dem lichtsensiblen Molekül Melanopsin und hat eine direkte Verbindung zum suprachiasmatischen Kern. Meldet er diesem den Zustand «hell», so wird in der Zirbeldrüse nachts die Produktion des «Dunkelhormons» Melatonin unterdrückt. Erst wenn kein Licht mehr aufs Auge fällt, wird die Melatonin-Produktion nicht mehr zurückgehalten. Die Körpertemperatur sinkt, der Schlaf setzt ein.

So eicht der neue Rezeptor die innere Uhr des Menschen auf den Sonnenlauf. Er reagiert besonders empfindlich auf blaues Licht mit einer Wellenlänge von 460 bis 480 Nanometern. Die Stäbchen und Zapfen in der Netzhaut dagegen, mit denen wir sehen, sind am empfindlichsten im Grünbereich, bei rund 500 beziehungsweise 550 Nanometern.

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