28. April 2010, Neue Zürcher Zeitung
Fliegen trotz Vulkanasche
Der Weg zu einem sicheren Grenzwert für die Luftfahrt ist noch weit
Bisher galt die Devise: Flugzeuge sollen Vulkanasche auf jeden Fall meiden. Nun aber wollen Industrie und Behörden diese strenge Regelung lockern. Die Frage ist nur, wie viel Asche die Maschinen aushalten können.
Hanna Wick
Am Himmel über Europa ist alles wieder beim Alten. Der Eyjafjallajökull spuckt kaum noch Asche, die Flugzeuge fliegen nach Plan. Und trotzdem herrscht bei Behörden und Luftfahrtindustrie Hochbetrieb. Denn hier hat das Ringen um einen besseren Umgang mit Vulkanasche begonnen. Bisher hiess es im Protokoll: Wo Asche ist – und sei es auch noch so wenig –, dürfen keine Flugzeuge fliegen. Heute empfinden viele Experten diese Nulltoleranz-Strategie als zu streng. Vor allem die Airlines drängen auf einen Grenzwert für Vulkanasche, unterhalb dessen der Flugverkehr nicht eingeschränkt werden müsste. So einen Wert zu definieren, ist allerdings alles andere als einfach.
Aus der Geschichte gelernt
Dass die bisherige Regelung so strikt ist, hat mit dramatischen Ereignissen der Vergangenheit zu tun: 1982 gerieten...
28. April 2010, Neue Zürcher Zeitung
Fliegen trotz Vulkanasche
Der Weg zu einem sicheren Grenzwert für die Luftfahrt ist noch weit
Bisher galt die Devise: Flugzeuge sollen Vulkanasche auf jeden Fall meiden. Nun aber wollen Industrie und Behörden diese strenge Regelung lockern. Die Frage ist nur, wie viel Asche die Maschinen aushalten können.
Hanna Wick
Am Himmel über Europa ist alles wieder beim Alten. Der Eyjafjallajökull spuckt kaum noch Asche, die Flugzeuge fliegen nach Plan. Und trotzdem herrscht bei Behörden und Luftfahrtindustrie Hochbetrieb. Denn hier hat das Ringen um einen besseren Umgang mit Vulkanasche begonnen. Bisher hiess es im Protokoll: Wo Asche ist – und sei es auch noch so wenig –, dürfen keine Flugzeuge fliegen. Heute empfinden viele Experten diese Nulltoleranz-Strategie als zu streng. Vor allem die Airlines drängen auf einen Grenzwert für Vulkanasche, unterhalb dessen der Flugverkehr nicht eingeschränkt werden müsste. So einen Wert zu definieren, ist allerdings alles andere als einfach.
Aus der Geschichte gelernt
Dass die bisherige Regelung so strikt ist, hat mit dramatischen Ereignissen der Vergangenheit zu tun: 1982 gerieten zwei Boeing 747 mitten in die Aschewolke des indonesischen Vulkans Galunggung. Für die Piloten war die Wolke unsichtbar, weil der Bordradar die winzigen Partikel nicht entdecken kann. Innert weniger Minuten fielen bei beiden Maschinen alle vier Triebwerke aus. Erst nach mehreren Versuchen konnten die Piloten die Turbinen wieder starten und im nahen Jakarta landen. Passagiere wurden keine verletzt; die Triebwerke mussten komplett ersetzt werden.
Die Vorfälle waren ein Weckruf für die Luftfahrt. Sie zeigten, dass die Begegnung von Flugzeugen mit vulkanischer Asche Leben kosten könnte. Und dass sie enorme Reparaturkosten verursacht. Seither gilt die Devise, Aschewolken wenn immer möglich zu meiden; so empfehlen es Airlines und Flugzeughersteller in ihren Handbüchern. Sofort rief die Internationale Zivilluftfahrtorganisation ICAO eine Arbeitsgruppe für die Warnung vor Vulkanasche ins Leben und etablierte ein Überwachungssystem. Es wurden Regeln aufgestellt, wie Daten über Eruptionen gesammelt und ausgewertet werden sollen und wie Piloten über Ausbrüche auf ihren Flugrouten zu informieren sind. Denn es vergeht kaum ein Tag, an dem nicht irgendwo auf der Welt ein Vulkan aktiv ist.
Bei den meisten Vulkanausbrüchen werden die Flüge heute einfach um die Aschewolke herum gelenkt, ohne dass die Passagiere davon etwas mitbekommen. Einen zentralen Part spielen dabei die neun Volcanic Ash Advisory Centres. Sie haben den globalen Luftraum unter sich aufgeteilt und modellieren jeweils für ihr Gebiet das Auftreten von Vulkanasche in der Luft. Wegen ihrer Warnungen werden immer wieder zahlreiche Flüge annulliert – in jüngerer Vergangenheit zum Beispiel beim Ausbruch des Kasatochi auf den Aleuten im Jahr 2008. Nur selten hingegen kommt jede Warnung zu spät, und eine Maschine gerät unerwartet in eine Aschewolke. Bis heute sind insgesamt 90 solche Fälle bekannt; in 7 davon fielen Triebwerke aus, noch nie aber ist eine Maschine abgestürzt.
Grundsätzlich ist die Nulltoleranz- Strategie also erfolgreich. Trotzdem machen sich Experten schon lange Gedanken darüber, wie man einen Grenzwert für Vulkanasche festlegen könnte, damit es nicht zu übertriebenen Luftraumsperren kommt. Das Thema stand immer wieder auf der Traktandenliste der ICAO-Arbeitsgruppe, so auch bei der letzten Sitzung im März in Chile. Doch auch diesmal habe niemand eine Antwort darauf gewusst, wo der Grenzwert liegen könnte, sagt Fred Prata vom Norwegian Institute for Air Research. Auch die anwesenden Industrievertreter zeigten sich ratlos.
Asche im Getriebe
Dabei sind die Effekte von Vulkanasche auf Triebwerke im Prinzip gut bekannt. Die feinen, harten Partikel können die rotierenden Teile am Eingang der Turbinen abschmirgeln, zum Beispiel die Schaufeln des Verdichters (siehe Grafik). Das verschlechtert die Effizienz der Triebwerke und ihre Schubkraft. Die Vulkanasche wirkt hier ähnlich wie Wüstensand, der vor allem im Nahen Osten und in Afrika ein Problem ist. Flugzeuge, die dort unterwegs sind, müssen öfter gewartet werden. Einige wenige Triebwerkhersteller wie die deutsche Firma MTU Aero Engines bieten deshalb neuerdings spezielle Schutzschichten an, mit denen die Bauteile überzogen werden können. Sie basieren auf ultraharten Metall-Keramiken und würden möglicherweise auch gegen die erodierende Wirkung von Vulkanasche helfen.
Doch damit wäre das Problem Vulkanasche noch lange nicht aus der Welt. Weitaus schlimmer als die Erosion ist es nämlich, wenn die Asche tief ins Triebwerk vordringt: In den Brennkammern moderner Maschinen liegen die Temperaturen bei 1300 bis 1500 Grad Celsius – zumindest dann, wenn sie nicht im Leerlauf sind. Die Vulkanasche aber besteht zu einem Grossteil aus Silikaten, die schon bei rund 1100 Grad schmelzen. Sie wird also flüssig und lagert sich weiter hinten als dicke Glasschicht auf den Turbinenschaufeln ab. Manchmal blockiert sie auch die Kanäle für die Kühlluft und die Treibstoffeinspritzdüsen. All das kann das Triebwerk zerstören.
Vollständig vor der Verglasung schützen lassen sich Triebwerke nicht. Ein Filter vor der Turbine müsste sehr fein sein, um die winzigen Aschepartikel tatsächlich aus dem reissenden Luftstrom aussondern zu können. Das aber würde die Effizienz des Triebwerks enorm verringern und den Treibstoffverbrauch in die Höhe schnellen lassen. Glücklicherweise platzt die Verglasung teilweise wieder ab, wenn die Turbinenschaufeln erkalten. Diese bestehen nämlich aus Metall und ziehen sich deshalb beim Abkühlen stärker zusammen als die Glasschicht, wie Christoph Leyens vom Deutschen Zentrum für Luft- und Raumfahrt erklärt. Das Glas bricht in Stücke und wird vom Luftstrom weggeblasen. Daraufhin können die Triebwerke oft wieder gestartet werden.
Neben den Triebwerken zieht die Asche auch andere Flugzeugteile in Mitleidenschaft: Sie macht Geschwindigkeitsmesser untauglich, verschmutzt die Tanks und schmirgelt im Extremfall die Scheiben blind. Das beschert den Fluggesellschaften hohe Wartungskosten.
Unklar ist allerdings, ab welchen Asche-Konzentrationen die Schäden auftreten. Das ganze heutige Wissen stammt aus Untersuchungen von Flugzeugen, die durch Aschewolken geflogen sind. Aus solchen historischen Daten lassen sich aber schon deshalb keine Grenzwerte ableiten, weil man die damaligen Asche-Konzentrationen in der Luft meist nicht kennt. Klar sei heute nur, dass 50 Milligramm Asche pro Kubikmeter definitiv gefährlich seien, so Prata. Ebenso wenig weiss man darüber, welchen Einfluss die Grösse der Aschekörner hat und wie unterschiedliche Typen von Triebwerken reagieren.
Um all dies herauszufinden, müsste die Triebwerkindustrie Tests am Boden durchführen. Dabei würde man in einem Windkanal unter kontrollierten Bedingungen Vulkanasche in ein laufendes Düsentriebwerk hineinströmen lassen und danach die Schäden systematisch erfassen – ähnlich, wie dies für Wüstensand heute schon gemacht wird. Bisher haben die Hersteller solche kostspieligen Untersuchungen für Vulkanasche unterlassen. Es gebe bei der Zertifizierung von Triebwerken keine entsprechenden Auflagen, die solche Tests erforderten, heisst es beim Hersteller Pratt & Whitney. Andere Firmen wie Rolls-Royce und Snecma geben derzeit überhaupt keine Auskunft zum Thema.
Viele Forscher vermuten indes, dass die Unternehmen mehr wissen über die Anfälligkeit ihrer Turbinen auf Vulkanasche, als sie zugeben. «Es hat sicher schon mehr Begegnungen mit Asche gegeben, als gemeldet wurden», sagt William Rose von der Michigan Technological University. Man habe die Hersteller immer wieder nach Daten dazu gefragt, doch sie hätten nichts herausgegeben. Das dürfte sich nun ändern: Mit dem Ausbruch des Eyjafjallajökull hat das Problem weltweit an Priorität gewonnen. Jetzt fordern die Airlines die Hersteller plötzlich mit Nachdruck auf, Sicherheitsspannen für ihre Triebwerke anzugeben. Es gebe nicht nur Schwarz und Weiss, sondern einen Graubereich, so Steve Lott vom Welt-Dachverband der Fluggesellschaften, Iata.
Aus dem Hut gezaubert?
Zusätzlichen Druck hat vergangene Woche die britische Civil Aviation Authority (CAA) aufgebaut. Sie setzte ad hoc einen Grenzwert von 2 Milligramm Asche pro Kubikmeter fest. In Gebieten mit niedrigeren Asche-Konzentrationen durfte ab Mittwoch wieder geflogen werden. Gemäss diesem Wert hätte der Luftraum grösstenteils gar nicht gesperrt werden müssen. Die höchste über Mitteleuropa gemessene Konzentration vulkanischer Partikel lag bei etwa 0,6 Milligramm pro Kubikmeter. Dieser Wert wurde über dem Schweizer Mittelland gemessen; andernorts in Europa lag die Konzentration oft deutlich tiefer.
Offenbar hat die CAA ihren Wert in Zusammenarbeit mit der Industrie erarbeitet. Das wird vom Triebwerkhersteller General Electric bestätigt. Zur Frage, wie es gelingen konnte, so rasch eine Einigung zu erzielen, wo man doch schon lange nach einem Grenzwert sucht, wollte die CAA allerdings nicht Stellung nehmen. Die Kritik vonseiten der Forschung liess jedenfalls nicht lange auf sich warten. Der Wert vernachlässige die Expositionszeit, sagt Thomas Peter von der ETH Zürich – also jene Zeitspanne, in der ein Flugzeug der Asche ausgesetzt ist. Das sei ein grosses Manko, meint auch Thomas Casadevall vom United States Geological Survey. Zudem sage der Wert nichts über die Partikelgrösse der Asche aus. Ein guter Grenzwert sollte all diese Aspekte widerspiegeln. Dennoch dürfte der britische Wert nun als Ausgangspunkt für die Gespräche bei der ICAO dienen.
Doch auch wenn sich die Parteien dort bald auf einen Grenzwert einigen sollten, bleibt ein Problem bestehen: dass sich die Konzentration und die Partikelgrösse der Asche nicht für jeden Kubikmeter Himmel genau messen lassen. Nicht überall gibt es Flugzeuge mit entsprechenden Instrumenten, die man rasch losschicken kann. Dasselbe gilt für Laser, welche die Asche vom Boden aus vermessen. Ausserdem ändern sich Aschewolken laufend. Extrapolationen werden also wichtig bleiben. Heute verwenden die Volcanic Ash Advisory Centres eine Art Wettermodell, das die Ascheverteilung in der Atmosphäre simuliert. Es wird laufend mit neuen Berichten von Augenzeugen und Satellitendaten gefüttert und so verfeinert.
Eine andere Möglichkeit wäre, jedes Flugzeug mit einem Infrarotsensor auszustatten. Im Infrarotlicht lassen sich Aschepartikel von anderen Teilchen wie Wasser und Schwefelgasen unterscheiden. Prata hat schon vor mehreren Jahren einen solchen Sensor entwickelt und laut eigenen Angaben erfolgreich getestet. Das Gerät würde um die 30 000 Dollar kosten – bisher zu viel für die Airlines. Nach den Erfahrungen mit dem Eyjafjallajökull könnten sie nun aber zu dieser Investition bereit sein.
Artikel,Gedanken, Ideen, Links und Kommentare plus etwas Musik sowie ab und an etwas zum Schmunzeln, aber mit einer politischen bzw. geo-politischen Tendenz. Deutsch und Englisch. Kommentare und Artikel von Lesern sind willkommen!
Articles, thoughts, ideas and comments plus some music and the odd joke, though with a political and geo-political bent. German and English. Readers are invited to submit articles and comments!
Freitag, April 30, 2010
Donnerstag, April 29, 2010
Bröckelnde Macht des britischen Parlaments
27. April 2010, Neue Zürcher Zeitung
Bröckelnde Macht des britischen Parlaments
Unterschätzter Wandel der Verfassungswirklichkeit in Grossbritannien
Die britischen Wähler zögern, einer der beiden dominierenden Parteien ein starkes Regierungsmandat zu geben. Die Souveränität des Parlaments leidet unter dem verbreiteten Misstrauen. Die ungeschriebene Verfassung steht unter Reformdruck.
Peter Rásonyi, London
Der durch eine Fernsehdebatte der Parteiführer ausgelöste Exploit des ewigen Dritten in der britischen Parteienlandschaft, der Liberaldemokratischen Partei, sorgt im Vereinigten Königreich für Furore. Die fast täglich erscheinenden Umfragen positionieren die Partei weniger als zwei Wochen vor dem Wahltermin zumeist auf dem zweiten, mitunter gar auf dem ersten Platz vor der Labour Party und den Konservativen, was sich bis vor kurzem auch die optimistischsten Liberaldemokraten nicht erträumt hätten. Sollte die Partei den derzeitigen Anteil von rund 30 Prozent bis zur Wahl halten, käme es mit grosser Wahrscheinlichkeit erstmals seit 1974....
27. April 2010, Neue Zürcher Zeitung
Bröckelnde Macht des britischen Parlaments
Unterschätzter Wandel der Verfassungswirklichkeit in Grossbritannien
Die britischen Wähler zögern, einer der beiden dominierenden Parteien ein starkes Regierungsmandat zu geben. Die Souveränität des Parlaments leidet unter dem verbreiteten Misstrauen. Die ungeschriebene Verfassung steht unter Reformdruck.
Peter Rásonyi, London
Der durch eine Fernsehdebatte der Parteiführer ausgelöste Exploit des ewigen Dritten in der britischen Parteienlandschaft, der Liberaldemokratischen Partei, sorgt im Vereinigten Königreich für Furore. Die fast täglich erscheinenden Umfragen positionieren die Partei weniger als zwei Wochen vor dem Wahltermin zumeist auf dem zweiten, mitunter gar auf dem ersten Platz vor der Labour Party und den Konservativen, was sich bis vor kurzem auch die optimistischsten Liberaldemokraten nicht erträumt hätten. Sollte die Partei den derzeitigen Anteil von rund 30 Prozent bis zur Wahl halten, käme es mit grosser Wahrscheinlichkeit erstmals seit 1974 und zum vierten Mal seit einem Jahrhundert zu einem «hung parliament», in dem eine Minderheitsregierung oder eine Koalition mehrerer Parteien regieren müsste.
Eine «normale» Demokratie
Die meisten Briten sind von dieser Entwicklung überrascht. Die Konservativen und ihnen nahestehende Medien sind schockiert; der sicher geglaubte Wahlsieg steht plötzlich in der Schwebe. Sie haben deshalb eine harte Kampagne gegen die Liberaldemokraten eingeleitet und reden eine angebliche Finanzkrise herbei, sollte das Land die ausgetretenen Pfade des Zweiparteiensystems tatsächlich verlassen. Ein näher rückendes «hung parliament» zeugt indes von einem Wandel, der viel tiefer als die Frage geht, wer die nächste Regierung bilde. Für die Liberaldemokraten und ihren von den Medien plötzlich zum Star erkorenen Führer Nick Clegg bietet sich die Jahrhundertchance, die «ewige» Forderung eines faireren Wahlsystems, das den Parteien eine dem Wähleranteil entsprechende Vertretung im Unterhaus ermöglichen würde, durchzusetzen.
Doch der Wandel geht auch über eine blosse Wahlrechtsreform hinaus. Trotz allen Versuchen der beiden dominierenden Parteien, die jahrhundertealten Traditionen der ungeschriebenen Verfassung zu bewahren, hat sich die Verfassungswirklichkeit in den letzten drei Jahrzehnten dynamischer verändert, als dies gemeinhin wahrgenommen wird. Laut Patrick Dunleavy, einem Politologen an der London School of Economics, ist Grossbritannien auf dem Weg zu einer «normalen» liberalen Demokratie. Der in Oxford lehrende Staatsrechtler Vernon Bogdanor dokumentiert in seinem vor der Wahl erschienenen Buch «The New British Constitution» (Hart Publishing, Oxford 2009), wie die von den grossen Verfassungstheoretikern des neunzehnten Jahrhunderts Walter Bagehot und Albert Venn Dicey gepriesene Verfassung des Vereinigten Königreichs im Grunde bereits untergegangen ist, ohne dass sich die Konturen des neuen Verfassungsstaats schon gefestigt hätten.
Reformen unter New Labour
Die Liste der für die Verfassung relevanten Reformen, welche New Labour nach der Machtübernahme 1997 einführte, ist lang. Die Unabhängigkeit der Bank of England von der Regierung wurde gestärkt, Schottland, Wales und Nordirland erhielten nach der Abhaltung von Referenden eine autonome Verwaltung und eine gewählte Volksvertretung. Durch ein Referendum wurde die Direktwahl des Londoner Bürgermeisters eingeführt. Die Europa-Wahlen wurden auf ein Proporzwahlrecht umgestellt. Mit der Human Rights Act wurde die Europäische Konvention der Menschenrechte erstmals in Grossbritannien einklagbar. Die Zahl der Erblords im Oberhaus wurde reduziert. Mit der Freedom of Information Act wurde die Transparenz der Regierung erhöht. Der Einfluss der Regierung auf die Richterwahlen wurde beschnitten. Schliesslich wurde der Supreme Court geschaffen, der vom Oberhaus die oberste Gerichtsbarkeit übernimmt und damit dem wichtigen Prinzip der Gewaltentrennung entspricht.
Bei all den Reformen wurde peinlich genau darauf geachtet, dass die Souveränität des Parlaments formal erhalten blieb. Tatsächlich haben aber praktisch alle Reformen in oft widersprüchlicher und unvollkommener Weise zur Folge, dass die Kompetenzen des Parlaments beschnitten wurden. Den tiefsten Eingriff in die Souveränität hatte bereits 1972 die Anerkennung des Rechts der Europäischen Gemeinschaft gebracht, was bis heute gründlich verdrängt wird.
Institutionelle Fragen spielen auch im laufenden Wahlkampf keine grosse Rolle. Das notorische Desinteresse der Briten an Verfassungsfragen gründet in der ungeschriebenen Verfassung selbst, welche dem Parlament absolute Souveränität zugesteht. Es gibt keinen übergeordneten Verfassungstext, der vor dem Zugriff des Parlaments geschützt wäre. Es gibt keine Verfassungsgerichtsbarkeit, die ihm Schranken setzen würde. Die einzige Kontrollinstanz sind die politische Kultur, das tägliche Kräftemessen der Parteien beziehungsweise das wachsame Auge der Öffentlichkeit, welche die regierende Partei am nächsten Wahltermin abwählen kann. Wenn das Parlament alle Regeln jederzeit mit einfacher Mehrheit ändern kann, sind grundlegende Gedanken über die Verfassung von bedingter Bedeutung. Doch die Anzeichen mehren sich, dass das Vertrauen in die selbstregulierenden und kontrollierenden Kräfte der politischen Kultur und des politischen Establishments auf einen kritischen Wert gesunken ist.
Der Spesenskandal als Signal
Nur vor dem Hintergrund der seit Jahrhunderten behaupteten Souveränität des Parlaments ist nachvollziehbar, aus welcher Abgehobenheit heraus jene zahlreichen Abgeordneten und Lords stürzten, die durch die Enthüllungen des Spesenskandals durch die Tageszeitung «Daily Telegraph» im vergangenen Mai blossgestellt wurden. Viele haben bis heute nicht verstanden, wie das Volk sich das Recht herausnehmen konnte, ihre Spesenabrechnungen zu prüfen und zu bewerten. Gegen die im Nachhinein eingeführten Kontrollen, Beschränkungen und Rückforderungen ergingen Dutzende von Einsprachen empörter Parlamentarier. Noch nie in der jüngeren Geschichte gab es so viele Rücktritte von Abgeordneten wie vor dieser Wahl.
Der Spesenskandal dokumentiert den Verlust von Ansehen und Macht des britischen Parlaments. Dessen absolute Souveränität wird zwar wie so viele Institutionen in Grossbritannien zum Schein bewahrt. Westminster könnte theoretisch alle Reformen jederzeit rückgängig machen. Doch Akzeptanz und Legitimation dieser Machtfülle sind gesunken. Die beiden dominierenden Parteien vermögen immer weniger Wähler für sich zu gewinnen. Ihr Stimmanteil ist von zusammen 97 Prozent im Jahre 1951 auf knapp 70 Prozent bei der letzten Wahl 2005 geschrumpft (siehe Infografik). Gleichzeitig ging die Wahlbeteiligung auf 60 Prozent zurück. Labour regiert derzeit mit 55 Prozent der Sitze in Westminster, aber mit nur 36 Prozent der abgegebenen Wählerstimmen und 22 Prozent expliziter Zustimmung durch die Wahlberechtigten.
Die Abgabe von Kompetenzen in Schottland, Wales und Nordirland war eine Reaktion auf die sinkende Akzeptanz des langen Arms von Westminster in diesen Ländern. Labour und Konservative sind dort immer schwächer vertreten; die Konservativen haben derzeit einen einzigen schottischen Vertreter im Unterhaus. Auch in England ist eine wachsende regionale Polarisierung zu erkennen. Die Konservativen sind in weiten Teilen des ärmeren Nordengland nicht mehr mit Abgeordneten vertreten, und Labour ist in den meisten ländlichen Wahlkreisen des reichen Südostens chancenlos. Trotzdem beanspruchen Parlament und Regierung starke zentralisierte Kompetenzen im ganzen Land.
«Hung parliament» als Chance
Während die alte Verfassung bröckelt, ist die neue erst undeutlich zu erkennen. Die fortschreitende Beschränkung der parlamentarischen Souveränität, Dezentralisierung und mehr Bürgernähe sind Stichworte, welche die Richtung der Entwicklung weisen dürften. Der Prozess ist noch lange nicht abgeschlossen. Sollten die Konservativen im Mai eine absolute Mehrheit der Unterhaussitze erringen, dürfte er einstweilen erlahmen. Der Parteiführer David Cameron hat sich als entschiedener Gegner institutioneller Reformen profiliert. Das Wahlmanifest der Konservativen nennt zwar den Bedarf, das «zerbrochene politische System» zu reparieren und das Vertrauen wiederherzustellen. Die Vorschläge beschränken sich aber auf Nebenaspekte. Eine Wahlrechtsreform wird abgelehnt, und die Vision der «grossen Gesellschaft» anstelle des «grossen Staates» bleibt wolkig.
Sollten die Konservativen zur Regierungsbildung auf die Unterstützung durch die Liberaldemokraten angewiesen sein, werden diese eine Wahlrechtsreform durchzusetzen versuchen. Der Erfolg ist keineswegs sicher, denn das Drohpotenzial ist wegen der Möglichkeit der Regierung, jederzeit Neuwahlen einzuleiten, begrenzt. Während der drei kurzlebigen «hung parliaments» im 20. Jahrhundert haben sich die Liberalen jeweils nicht durchsetzen können.
Die Reformchancen sind grösser, sollte Labour als stärkste Partei aus der Wahl hervorgehen und mit Hilfe der Liberaldemokraten eine Regierung bilden. Premierminister Gordon Brown hat, reichlich spät, im Februar ein Gesetz vorgelegt, das ein Referendum über eine Wahlrechtsreform vorsah, aber nicht mehr verabschiedet wurde. Im Wahlmanifest verspricht Labour Verfassungsreformen, um die «tiefe Krise im Vertrauen in die Politik» zu überwinden. Dazu gehören Referenden über das Wahlrecht sowie über die Ersetzung des Oberhauses durch eine gewählte zweite Kammer. Die Dauer der Legislatur soll festgeschrieben werden, und es soll eine geschriebene Verfassung geben. Das Misstrauen der Liberaldemokraten gegenüber den Versprechungen Labours ist verständlicherweise gross, doch scheint die Partei Reformen gegenüber weniger abgeneigt zu sein als die Konservativen. Brown hat sich zuletzt persönlich dafür engagiert. Eine Abschwächung des Mehrheitswahlrechts könnte letztlich auch im Interesse von Labour sein, da sich die Partei ihrer Stärke nicht mehr so sicher sein kann.
Grossbritannien hat 18 von der harten Hand Margaret Thatchers geprägte Regierungsjahre unter den Konservativen, anschliessend 13 Jahre New Labour hinter sich. Beide Epochen waren von ungewöhnlich starken Mehrheiten der jeweiligen Partei im Unterhaus geprägt. Beide brachten tiefgreifende wirtschaftliche, gesellschaftliche und politische Umwälzungen und eine lange Phase der Prosperität. Folgt man den gegenwärtigen Meinungsumfragen, so scheinen die Wähler zu zögern, Brown oder Cameron ein ähnlich starkes Regierungsmandat zu verleihen. Die Gegenposition der Liberaldemokraten, mit einer breiter abgestützten und legitimierten Regierung die schwere Zeit der Wirtschafts- und Haushaltkrise zu meisten, entspricht zwar nicht der jüngeren britischen Tradition. Sie verbreitet aber offensichtlich auch nicht jenen Schrecken, den Konservative und Labour den Wählern einzureden versuchen. Grossbritannien wandelt sich rascher, als die starren Rituale des politischen Alltags auf den ersten Blick glauben machen.
Bröckelnde Macht des britischen Parlaments
Unterschätzter Wandel der Verfassungswirklichkeit in Grossbritannien
Die britischen Wähler zögern, einer der beiden dominierenden Parteien ein starkes Regierungsmandat zu geben. Die Souveränität des Parlaments leidet unter dem verbreiteten Misstrauen. Die ungeschriebene Verfassung steht unter Reformdruck.
Peter Rásonyi, London
Der durch eine Fernsehdebatte der Parteiführer ausgelöste Exploit des ewigen Dritten in der britischen Parteienlandschaft, der Liberaldemokratischen Partei, sorgt im Vereinigten Königreich für Furore. Die fast täglich erscheinenden Umfragen positionieren die Partei weniger als zwei Wochen vor dem Wahltermin zumeist auf dem zweiten, mitunter gar auf dem ersten Platz vor der Labour Party und den Konservativen, was sich bis vor kurzem auch die optimistischsten Liberaldemokraten nicht erträumt hätten. Sollte die Partei den derzeitigen Anteil von rund 30 Prozent bis zur Wahl halten, käme es mit grosser Wahrscheinlichkeit erstmals seit 1974....
27. April 2010, Neue Zürcher Zeitung
Bröckelnde Macht des britischen Parlaments
Unterschätzter Wandel der Verfassungswirklichkeit in Grossbritannien
Die britischen Wähler zögern, einer der beiden dominierenden Parteien ein starkes Regierungsmandat zu geben. Die Souveränität des Parlaments leidet unter dem verbreiteten Misstrauen. Die ungeschriebene Verfassung steht unter Reformdruck.
Peter Rásonyi, London
Der durch eine Fernsehdebatte der Parteiführer ausgelöste Exploit des ewigen Dritten in der britischen Parteienlandschaft, der Liberaldemokratischen Partei, sorgt im Vereinigten Königreich für Furore. Die fast täglich erscheinenden Umfragen positionieren die Partei weniger als zwei Wochen vor dem Wahltermin zumeist auf dem zweiten, mitunter gar auf dem ersten Platz vor der Labour Party und den Konservativen, was sich bis vor kurzem auch die optimistischsten Liberaldemokraten nicht erträumt hätten. Sollte die Partei den derzeitigen Anteil von rund 30 Prozent bis zur Wahl halten, käme es mit grosser Wahrscheinlichkeit erstmals seit 1974 und zum vierten Mal seit einem Jahrhundert zu einem «hung parliament», in dem eine Minderheitsregierung oder eine Koalition mehrerer Parteien regieren müsste.
Eine «normale» Demokratie
Die meisten Briten sind von dieser Entwicklung überrascht. Die Konservativen und ihnen nahestehende Medien sind schockiert; der sicher geglaubte Wahlsieg steht plötzlich in der Schwebe. Sie haben deshalb eine harte Kampagne gegen die Liberaldemokraten eingeleitet und reden eine angebliche Finanzkrise herbei, sollte das Land die ausgetretenen Pfade des Zweiparteiensystems tatsächlich verlassen. Ein näher rückendes «hung parliament» zeugt indes von einem Wandel, der viel tiefer als die Frage geht, wer die nächste Regierung bilde. Für die Liberaldemokraten und ihren von den Medien plötzlich zum Star erkorenen Führer Nick Clegg bietet sich die Jahrhundertchance, die «ewige» Forderung eines faireren Wahlsystems, das den Parteien eine dem Wähleranteil entsprechende Vertretung im Unterhaus ermöglichen würde, durchzusetzen.
Doch der Wandel geht auch über eine blosse Wahlrechtsreform hinaus. Trotz allen Versuchen der beiden dominierenden Parteien, die jahrhundertealten Traditionen der ungeschriebenen Verfassung zu bewahren, hat sich die Verfassungswirklichkeit in den letzten drei Jahrzehnten dynamischer verändert, als dies gemeinhin wahrgenommen wird. Laut Patrick Dunleavy, einem Politologen an der London School of Economics, ist Grossbritannien auf dem Weg zu einer «normalen» liberalen Demokratie. Der in Oxford lehrende Staatsrechtler Vernon Bogdanor dokumentiert in seinem vor der Wahl erschienenen Buch «The New British Constitution» (Hart Publishing, Oxford 2009), wie die von den grossen Verfassungstheoretikern des neunzehnten Jahrhunderts Walter Bagehot und Albert Venn Dicey gepriesene Verfassung des Vereinigten Königreichs im Grunde bereits untergegangen ist, ohne dass sich die Konturen des neuen Verfassungsstaats schon gefestigt hätten.
Reformen unter New Labour
Die Liste der für die Verfassung relevanten Reformen, welche New Labour nach der Machtübernahme 1997 einführte, ist lang. Die Unabhängigkeit der Bank of England von der Regierung wurde gestärkt, Schottland, Wales und Nordirland erhielten nach der Abhaltung von Referenden eine autonome Verwaltung und eine gewählte Volksvertretung. Durch ein Referendum wurde die Direktwahl des Londoner Bürgermeisters eingeführt. Die Europa-Wahlen wurden auf ein Proporzwahlrecht umgestellt. Mit der Human Rights Act wurde die Europäische Konvention der Menschenrechte erstmals in Grossbritannien einklagbar. Die Zahl der Erblords im Oberhaus wurde reduziert. Mit der Freedom of Information Act wurde die Transparenz der Regierung erhöht. Der Einfluss der Regierung auf die Richterwahlen wurde beschnitten. Schliesslich wurde der Supreme Court geschaffen, der vom Oberhaus die oberste Gerichtsbarkeit übernimmt und damit dem wichtigen Prinzip der Gewaltentrennung entspricht.
Bei all den Reformen wurde peinlich genau darauf geachtet, dass die Souveränität des Parlaments formal erhalten blieb. Tatsächlich haben aber praktisch alle Reformen in oft widersprüchlicher und unvollkommener Weise zur Folge, dass die Kompetenzen des Parlaments beschnitten wurden. Den tiefsten Eingriff in die Souveränität hatte bereits 1972 die Anerkennung des Rechts der Europäischen Gemeinschaft gebracht, was bis heute gründlich verdrängt wird.
Institutionelle Fragen spielen auch im laufenden Wahlkampf keine grosse Rolle. Das notorische Desinteresse der Briten an Verfassungsfragen gründet in der ungeschriebenen Verfassung selbst, welche dem Parlament absolute Souveränität zugesteht. Es gibt keinen übergeordneten Verfassungstext, der vor dem Zugriff des Parlaments geschützt wäre. Es gibt keine Verfassungsgerichtsbarkeit, die ihm Schranken setzen würde. Die einzige Kontrollinstanz sind die politische Kultur, das tägliche Kräftemessen der Parteien beziehungsweise das wachsame Auge der Öffentlichkeit, welche die regierende Partei am nächsten Wahltermin abwählen kann. Wenn das Parlament alle Regeln jederzeit mit einfacher Mehrheit ändern kann, sind grundlegende Gedanken über die Verfassung von bedingter Bedeutung. Doch die Anzeichen mehren sich, dass das Vertrauen in die selbstregulierenden und kontrollierenden Kräfte der politischen Kultur und des politischen Establishments auf einen kritischen Wert gesunken ist.
Der Spesenskandal als Signal
Nur vor dem Hintergrund der seit Jahrhunderten behaupteten Souveränität des Parlaments ist nachvollziehbar, aus welcher Abgehobenheit heraus jene zahlreichen Abgeordneten und Lords stürzten, die durch die Enthüllungen des Spesenskandals durch die Tageszeitung «Daily Telegraph» im vergangenen Mai blossgestellt wurden. Viele haben bis heute nicht verstanden, wie das Volk sich das Recht herausnehmen konnte, ihre Spesenabrechnungen zu prüfen und zu bewerten. Gegen die im Nachhinein eingeführten Kontrollen, Beschränkungen und Rückforderungen ergingen Dutzende von Einsprachen empörter Parlamentarier. Noch nie in der jüngeren Geschichte gab es so viele Rücktritte von Abgeordneten wie vor dieser Wahl.
Der Spesenskandal dokumentiert den Verlust von Ansehen und Macht des britischen Parlaments. Dessen absolute Souveränität wird zwar wie so viele Institutionen in Grossbritannien zum Schein bewahrt. Westminster könnte theoretisch alle Reformen jederzeit rückgängig machen. Doch Akzeptanz und Legitimation dieser Machtfülle sind gesunken. Die beiden dominierenden Parteien vermögen immer weniger Wähler für sich zu gewinnen. Ihr Stimmanteil ist von zusammen 97 Prozent im Jahre 1951 auf knapp 70 Prozent bei der letzten Wahl 2005 geschrumpft (siehe Infografik). Gleichzeitig ging die Wahlbeteiligung auf 60 Prozent zurück. Labour regiert derzeit mit 55 Prozent der Sitze in Westminster, aber mit nur 36 Prozent der abgegebenen Wählerstimmen und 22 Prozent expliziter Zustimmung durch die Wahlberechtigten.
Die Abgabe von Kompetenzen in Schottland, Wales und Nordirland war eine Reaktion auf die sinkende Akzeptanz des langen Arms von Westminster in diesen Ländern. Labour und Konservative sind dort immer schwächer vertreten; die Konservativen haben derzeit einen einzigen schottischen Vertreter im Unterhaus. Auch in England ist eine wachsende regionale Polarisierung zu erkennen. Die Konservativen sind in weiten Teilen des ärmeren Nordengland nicht mehr mit Abgeordneten vertreten, und Labour ist in den meisten ländlichen Wahlkreisen des reichen Südostens chancenlos. Trotzdem beanspruchen Parlament und Regierung starke zentralisierte Kompetenzen im ganzen Land.
«Hung parliament» als Chance
Während die alte Verfassung bröckelt, ist die neue erst undeutlich zu erkennen. Die fortschreitende Beschränkung der parlamentarischen Souveränität, Dezentralisierung und mehr Bürgernähe sind Stichworte, welche die Richtung der Entwicklung weisen dürften. Der Prozess ist noch lange nicht abgeschlossen. Sollten die Konservativen im Mai eine absolute Mehrheit der Unterhaussitze erringen, dürfte er einstweilen erlahmen. Der Parteiführer David Cameron hat sich als entschiedener Gegner institutioneller Reformen profiliert. Das Wahlmanifest der Konservativen nennt zwar den Bedarf, das «zerbrochene politische System» zu reparieren und das Vertrauen wiederherzustellen. Die Vorschläge beschränken sich aber auf Nebenaspekte. Eine Wahlrechtsreform wird abgelehnt, und die Vision der «grossen Gesellschaft» anstelle des «grossen Staates» bleibt wolkig.
Sollten die Konservativen zur Regierungsbildung auf die Unterstützung durch die Liberaldemokraten angewiesen sein, werden diese eine Wahlrechtsreform durchzusetzen versuchen. Der Erfolg ist keineswegs sicher, denn das Drohpotenzial ist wegen der Möglichkeit der Regierung, jederzeit Neuwahlen einzuleiten, begrenzt. Während der drei kurzlebigen «hung parliaments» im 20. Jahrhundert haben sich die Liberalen jeweils nicht durchsetzen können.
Die Reformchancen sind grösser, sollte Labour als stärkste Partei aus der Wahl hervorgehen und mit Hilfe der Liberaldemokraten eine Regierung bilden. Premierminister Gordon Brown hat, reichlich spät, im Februar ein Gesetz vorgelegt, das ein Referendum über eine Wahlrechtsreform vorsah, aber nicht mehr verabschiedet wurde. Im Wahlmanifest verspricht Labour Verfassungsreformen, um die «tiefe Krise im Vertrauen in die Politik» zu überwinden. Dazu gehören Referenden über das Wahlrecht sowie über die Ersetzung des Oberhauses durch eine gewählte zweite Kammer. Die Dauer der Legislatur soll festgeschrieben werden, und es soll eine geschriebene Verfassung geben. Das Misstrauen der Liberaldemokraten gegenüber den Versprechungen Labours ist verständlicherweise gross, doch scheint die Partei Reformen gegenüber weniger abgeneigt zu sein als die Konservativen. Brown hat sich zuletzt persönlich dafür engagiert. Eine Abschwächung des Mehrheitswahlrechts könnte letztlich auch im Interesse von Labour sein, da sich die Partei ihrer Stärke nicht mehr so sicher sein kann.
Grossbritannien hat 18 von der harten Hand Margaret Thatchers geprägte Regierungsjahre unter den Konservativen, anschliessend 13 Jahre New Labour hinter sich. Beide Epochen waren von ungewöhnlich starken Mehrheiten der jeweiligen Partei im Unterhaus geprägt. Beide brachten tiefgreifende wirtschaftliche, gesellschaftliche und politische Umwälzungen und eine lange Phase der Prosperität. Folgt man den gegenwärtigen Meinungsumfragen, so scheinen die Wähler zu zögern, Brown oder Cameron ein ähnlich starkes Regierungsmandat zu verleihen. Die Gegenposition der Liberaldemokraten, mit einer breiter abgestützten und legitimierten Regierung die schwere Zeit der Wirtschafts- und Haushaltkrise zu meisten, entspricht zwar nicht der jüngeren britischen Tradition. Sie verbreitet aber offensichtlich auch nicht jenen Schrecken, den Konservative und Labour den Wählern einzureden versuchen. Grossbritannien wandelt sich rascher, als die starren Rituale des politischen Alltags auf den ersten Blick glauben machen.
Labels:
Bildung/Education,
Britain,
Deutsch,
Europe
Mittwoch, April 28, 2010
«Mehr Demokratie in der Wirtschaft fände ich angebracht»
Tages Anzeiger Online 26.04.2010
«Mehr Demokratie in der Wirtschaft fände ich angebracht»
Von Simone Meier.
Der Psychoanalytiker Peter Schneider spricht über den bösen Blick der Neidgesellschaft, erklärt, weshalb wir Vulkanen einfach nicht böse sein können, und plädiert für eine muntere Skepsis.
Wir wundern uns alle über das Geld, das so dreist in den Manager-Etagen der Grossbanken verlocht wird, und sind neidisch und hätten für unsere harte Büez auch gerne mehr. Und ich frage mich: Braucht es den Neid an sich eigentlich als Motor für unsere Leistungsgesellschaft?
Ich brauchte ihn nicht; mir würde das Geld allein völlig reichen. Aber Ihnen wahrscheinlich meine Antwort nicht. Also: Neid ist ein heikler Affekt; gerade wenn er als Motor funktionieren soll, muss er diskret bleiben bzw. darf sich nur in seiner zivilisierten Form – als neidlos neidische Anerkennung äussern. Purer Neid spornt nämlich keineswegs automatisch zu eigenen Leistungen an, sondern vor allem dazu, die Leistungen anderer herabzusetzen oder zu zerstören. Der böse Blick vergiftet aber nicht nur die Seelen der Neider, er schüchtert auch die Beneideten ein. Eine lediglich durch Neid angetriebene Leistungsgesellschaft....
Tages Anzeiger Online 26.04.2010
«Mehr Demokratie in der Wirtschaft fände ich angebracht»
Von Simone Meier.
Der Psychoanalytiker Peter Schneider spricht über den bösen Blick der Neidgesellschaft, erklärt, weshalb wir Vulkanen einfach nicht böse sein können, und plädiert für eine muntere Skepsis.
Wir wundern uns alle über das Geld, das so dreist in den Manager-Etagen der Grossbanken verlocht wird, und sind neidisch und hätten für unsere harte Büez auch gerne mehr. Und ich frage mich: Braucht es den Neid an sich eigentlich als Motor für unsere Leistungsgesellschaft?
Ich brauchte ihn nicht; mir würde das Geld allein völlig reichen. Aber Ihnen wahrscheinlich meine Antwort nicht. Also: Neid ist ein heikler Affekt; gerade wenn er als Motor funktionieren soll, muss er diskret bleiben bzw. darf sich nur in seiner zivilisierten Form – als neidlos neidische Anerkennung äussern. Purer Neid spornt nämlich keineswegs automatisch zu eigenen Leistungen an, sondern vor allem dazu, die Leistungen anderer herabzusetzen oder zu zerstören. Der böse Blick vergiftet aber nicht nur die Seelen der Neider, er schüchtert auch die Beneideten ein. Eine lediglich durch Neid angetriebene Leistungsgesellschaft würde einer Schulklasse gleichen, deren Hauptbeschäftigung darin bestünde, dem Klassenprimus das Leben schwer zu machen, was den Klassenbesten dazu zwänge, mehr Zeit für die Beschwichtigung der neidischen Klassenkameraden als für die Hausaufgaben aufzuwenden. Man müsste also Herrn Dougan im eigenen Interesse neidlos seine 70 Millionen per anno gönnen, wenn . . .
Wenn?
. . . wenn sein finanzieller Erfolg tatsächlich ein plausibles Mass seiner Leistung wäre. Was, wenn man andere Leistungen und deren bezifferbaren Ertrag vergleicht, nun doch mehr als zweifelhaft ist: Warum gibt es zwar Billignäherinnen in Pakistan, die einen Designer-Fummel so prima zusammenbüezen können, dass man ihn ungeachtet der darin enthaltenen Billiglohnarbeit für ein paar Tausender an der Bahnhofstrasse verkaufen kann – aber warum gibt es auf dem grossen indischen Kontinent keinen einzigen begabten Jungmanager, der Dougans verantwortungsvolle Aufgabe zum Dumpinglohn übernehmen könnte? Mit anderen Worten: Nicht jeder Neid auf jedes Geld führt zwangsläufig in eine vom Ressentiment vergiftete Neidgesellschaft. Sondern vielleicht auch nur zu ein paar kritischen Gedanken darüber, was gerecht ist und was nicht – weil Leistung und Erfolg/Geld nun einmal nicht bloss zwei verschiedene Wörter für ein und dieselbe Sache sind.
Fast könnte man meinen, dass die isländische Aschewolke direkt nach der UBS-Generalversammlung von den Banken inszeniert wurde, um den Volkszorn in eine Art Schicksalsgelassenheit gegenüber der Naturkatastrophe umzuleiten. Gibt es das eigentlich, einen Zorn des Menschen auf die Natur?
Unser Denken hat den Begriff eines Naturbösen schon vor geraumer Zeit aus seiner Vorstellungswelt verbannt. Was immer ein Vulkan anrichtet, niemand würde deshalb seinen Zorn gegen den feuerspeienden Berg selbst richten. Naturkatastrophen rücken stattdessen regelmässig menschliche Fehler ins Bewusstsein: Erdbeben offenbaren die Korruption der Baubehörden und die Geldgier skrupelloser Unternehmer, welche minderwertige Materialien verbaut und hochwertige verrechnet haben; Flutkatastrophen zeigen die Unfähigkeit der Politiker, Hilfsgüter zu verteilen; der Vulkanausbruch und die damit verbundenen Flugverbote weisen auf skandalöse Lücken in der globalen Wetterbeobachtung hin usw. Von Schicksalsergebenheit also keine Spur.
Der Mensch ist dem Menschen also böse, ganz egal, was geschieht?
Jede Naturkatastrophe mündet heutzutage in eine Anklage menschlicher Unzulänglichkeiten und menschengemachter Skandale. In der letzten Woche erging sich zum Beispiel ein Leserbriefschreiber in dieser Zeitung in einer Tirade gegen die «einkaufsverrückten Damen, die glauben, über das Wochenende zum selbstbefriedigenden Shopping nach New York fliegen zu müssen», und «die Herren, die glauben, ihre Lustknaben in Thailand besuchen zu müssen» – frevelnde Tätigkeiten, denen der Vulkan für ein paar Tage Einhalt geboten hat.
Dieses latente Misstrauen gegenüber der Politik, der Wissenschaft, den Banken, allen andern, ist ja ein grundsätzliches Problem. Gerade Sie als Psychoanalytiker sind doch auch damit beschäftigt, sehr viel Misstrauen wieder in Vertrauen zu verwandeln. Wie schaffen Sie das?
Ist das wirklich meine Aufgabe als Psychoanalytiker? Ich misstraue meinerseits solchen Zielvorgaben. Ist ein gewisses Misstrauen – nicht zuletzt sich selbst gegenüber – überhaupt so etwas Schlechtes? Und umgekehrt nicht eine bestimmte Art von Misstrauen, die sich im extremen Fall als paranoide Verschwörungstheorie äussert, nicht geradezu ein Ausdruck von zu wenig (Selbst-)Skepsis und allzu viel Selbstvertrauen? Es ist strukturell ziemlich dasselbe, ob ich z. B. «der Wissenschaft» blind vertraue oder ihr grundsätzlich misstraue, weil ich fest davon überzeugt bin, dass alle Forschungen ohnehin von der CIA ferngesteuert werden. Misstrauen in dieser Form ist blindes Vertrauen in die Schlechtigkeit der Welt – eine Haltung, die für konkrete Kritik schlecht taugt. Eine muntere Skepsis, die auch riskiert, mal falsch zu liegen, ist mir wesentlich sympathischer.
Heisst das etwa, Sie hätten vergangene Woche den Luftraum über Europa früher wieder geöffnet in der Hoffnung, dass einfach nichts passiert?
Wie kommen Sie auf die Idee?
«Eine muntere Skepsis, die riskiert, auch mal falsch zu liegen»...
. . . kann ja wohl nicht bedeuten, leichtsinnig das Leben von Flugpassagieren zu riskieren. Sondern, das Risiko einzugehen, selber blöd dazustehen.
Pardon, klar. Und letztlich ist diese Bereitschaft, sich selbst nicht ganz so ernst zu nehmen, ja auch ein Zeichen von Bescheidenheit. Denken Sie, dass es den Herren Villiger, Grübel und Konsorten etwa genau daran mangeln könnte?
Vielleicht, vielleicht auch nicht. Ich werde jetzt jedenfalls nicht den Dalai Lama machen und mehr Bescheidenheit und weniger Gier, mehr Spiritualität und weniger Materialismus oder von mir aus auch mehr Selbstironie im Wirtschaftsleben anmahnen. Mehr Demokratie in der Wirtschaft, wie sie die SP in ihrem neuen Parteiprogramm fordert, fände ich angebrachter. «Muntere Skepsis, die riskiert, auch mal falsch zu liegen . . .» ist eine Maxime fürs Denken, nicht fürs Regieren. Und auch nicht fürs Bankgeschäft – jedenfalls dann nicht, wenn nicht man selber, sondern vor allem andere fürs muntere Falschliegen geradestehen müssen. Was im Individuellen Skepsis ist, bedeutet im Politischen Demokratie und Recht: eine Vielfalt von «checks and balances», die mutige Schnellschüsse verhindern.
Schön, dass Sie sich an dieser Stelle für die SP ins Zeug legen. Was mir neulich sehr gefallen hat, war der Bericht über eine englische Studie, die belegt, dass Menschen mit einem höheren IQ lieber links wählen als andersrum. Dem scheinen Sie zuzustimmen, oder nicht?
Wenn die Wissenschaft das herausgefunden hat, bleibt einem schliesslich gar nichts anderes übrig . . .
Das dürfen Sie jetzt gerne noch erläutern!
Da ich der Wissenschaft noch so gerne beipflichte, wenn sie immer wieder mal herausfindet, wie entscheidend ein Fläschchen Rotwein am Abend mein Leben signifikant bis zum nächsten Morgen verlängert, werde ich doch die Seriosität wissenschaftlicher Studien an dieser oder auch anderer Stelle nicht mutwillig infrage stellen.
Mit Peter Schneider mailte Simone Meier
«Mehr Demokratie in der Wirtschaft fände ich angebracht»
Von Simone Meier.
Der Psychoanalytiker Peter Schneider spricht über den bösen Blick der Neidgesellschaft, erklärt, weshalb wir Vulkanen einfach nicht böse sein können, und plädiert für eine muntere Skepsis.
Wir wundern uns alle über das Geld, das so dreist in den Manager-Etagen der Grossbanken verlocht wird, und sind neidisch und hätten für unsere harte Büez auch gerne mehr. Und ich frage mich: Braucht es den Neid an sich eigentlich als Motor für unsere Leistungsgesellschaft?
Ich brauchte ihn nicht; mir würde das Geld allein völlig reichen. Aber Ihnen wahrscheinlich meine Antwort nicht. Also: Neid ist ein heikler Affekt; gerade wenn er als Motor funktionieren soll, muss er diskret bleiben bzw. darf sich nur in seiner zivilisierten Form – als neidlos neidische Anerkennung äussern. Purer Neid spornt nämlich keineswegs automatisch zu eigenen Leistungen an, sondern vor allem dazu, die Leistungen anderer herabzusetzen oder zu zerstören. Der böse Blick vergiftet aber nicht nur die Seelen der Neider, er schüchtert auch die Beneideten ein. Eine lediglich durch Neid angetriebene Leistungsgesellschaft....
Tages Anzeiger Online 26.04.2010
«Mehr Demokratie in der Wirtschaft fände ich angebracht»
Von Simone Meier.
Der Psychoanalytiker Peter Schneider spricht über den bösen Blick der Neidgesellschaft, erklärt, weshalb wir Vulkanen einfach nicht böse sein können, und plädiert für eine muntere Skepsis.
Wir wundern uns alle über das Geld, das so dreist in den Manager-Etagen der Grossbanken verlocht wird, und sind neidisch und hätten für unsere harte Büez auch gerne mehr. Und ich frage mich: Braucht es den Neid an sich eigentlich als Motor für unsere Leistungsgesellschaft?
Ich brauchte ihn nicht; mir würde das Geld allein völlig reichen. Aber Ihnen wahrscheinlich meine Antwort nicht. Also: Neid ist ein heikler Affekt; gerade wenn er als Motor funktionieren soll, muss er diskret bleiben bzw. darf sich nur in seiner zivilisierten Form – als neidlos neidische Anerkennung äussern. Purer Neid spornt nämlich keineswegs automatisch zu eigenen Leistungen an, sondern vor allem dazu, die Leistungen anderer herabzusetzen oder zu zerstören. Der böse Blick vergiftet aber nicht nur die Seelen der Neider, er schüchtert auch die Beneideten ein. Eine lediglich durch Neid angetriebene Leistungsgesellschaft würde einer Schulklasse gleichen, deren Hauptbeschäftigung darin bestünde, dem Klassenprimus das Leben schwer zu machen, was den Klassenbesten dazu zwänge, mehr Zeit für die Beschwichtigung der neidischen Klassenkameraden als für die Hausaufgaben aufzuwenden. Man müsste also Herrn Dougan im eigenen Interesse neidlos seine 70 Millionen per anno gönnen, wenn . . .
Wenn?
. . . wenn sein finanzieller Erfolg tatsächlich ein plausibles Mass seiner Leistung wäre. Was, wenn man andere Leistungen und deren bezifferbaren Ertrag vergleicht, nun doch mehr als zweifelhaft ist: Warum gibt es zwar Billignäherinnen in Pakistan, die einen Designer-Fummel so prima zusammenbüezen können, dass man ihn ungeachtet der darin enthaltenen Billiglohnarbeit für ein paar Tausender an der Bahnhofstrasse verkaufen kann – aber warum gibt es auf dem grossen indischen Kontinent keinen einzigen begabten Jungmanager, der Dougans verantwortungsvolle Aufgabe zum Dumpinglohn übernehmen könnte? Mit anderen Worten: Nicht jeder Neid auf jedes Geld führt zwangsläufig in eine vom Ressentiment vergiftete Neidgesellschaft. Sondern vielleicht auch nur zu ein paar kritischen Gedanken darüber, was gerecht ist und was nicht – weil Leistung und Erfolg/Geld nun einmal nicht bloss zwei verschiedene Wörter für ein und dieselbe Sache sind.
Fast könnte man meinen, dass die isländische Aschewolke direkt nach der UBS-Generalversammlung von den Banken inszeniert wurde, um den Volkszorn in eine Art Schicksalsgelassenheit gegenüber der Naturkatastrophe umzuleiten. Gibt es das eigentlich, einen Zorn des Menschen auf die Natur?
Unser Denken hat den Begriff eines Naturbösen schon vor geraumer Zeit aus seiner Vorstellungswelt verbannt. Was immer ein Vulkan anrichtet, niemand würde deshalb seinen Zorn gegen den feuerspeienden Berg selbst richten. Naturkatastrophen rücken stattdessen regelmässig menschliche Fehler ins Bewusstsein: Erdbeben offenbaren die Korruption der Baubehörden und die Geldgier skrupelloser Unternehmer, welche minderwertige Materialien verbaut und hochwertige verrechnet haben; Flutkatastrophen zeigen die Unfähigkeit der Politiker, Hilfsgüter zu verteilen; der Vulkanausbruch und die damit verbundenen Flugverbote weisen auf skandalöse Lücken in der globalen Wetterbeobachtung hin usw. Von Schicksalsergebenheit also keine Spur.
Der Mensch ist dem Menschen also böse, ganz egal, was geschieht?
Jede Naturkatastrophe mündet heutzutage in eine Anklage menschlicher Unzulänglichkeiten und menschengemachter Skandale. In der letzten Woche erging sich zum Beispiel ein Leserbriefschreiber in dieser Zeitung in einer Tirade gegen die «einkaufsverrückten Damen, die glauben, über das Wochenende zum selbstbefriedigenden Shopping nach New York fliegen zu müssen», und «die Herren, die glauben, ihre Lustknaben in Thailand besuchen zu müssen» – frevelnde Tätigkeiten, denen der Vulkan für ein paar Tage Einhalt geboten hat.
Dieses latente Misstrauen gegenüber der Politik, der Wissenschaft, den Banken, allen andern, ist ja ein grundsätzliches Problem. Gerade Sie als Psychoanalytiker sind doch auch damit beschäftigt, sehr viel Misstrauen wieder in Vertrauen zu verwandeln. Wie schaffen Sie das?
Ist das wirklich meine Aufgabe als Psychoanalytiker? Ich misstraue meinerseits solchen Zielvorgaben. Ist ein gewisses Misstrauen – nicht zuletzt sich selbst gegenüber – überhaupt so etwas Schlechtes? Und umgekehrt nicht eine bestimmte Art von Misstrauen, die sich im extremen Fall als paranoide Verschwörungstheorie äussert, nicht geradezu ein Ausdruck von zu wenig (Selbst-)Skepsis und allzu viel Selbstvertrauen? Es ist strukturell ziemlich dasselbe, ob ich z. B. «der Wissenschaft» blind vertraue oder ihr grundsätzlich misstraue, weil ich fest davon überzeugt bin, dass alle Forschungen ohnehin von der CIA ferngesteuert werden. Misstrauen in dieser Form ist blindes Vertrauen in die Schlechtigkeit der Welt – eine Haltung, die für konkrete Kritik schlecht taugt. Eine muntere Skepsis, die auch riskiert, mal falsch zu liegen, ist mir wesentlich sympathischer.
Heisst das etwa, Sie hätten vergangene Woche den Luftraum über Europa früher wieder geöffnet in der Hoffnung, dass einfach nichts passiert?
Wie kommen Sie auf die Idee?
«Eine muntere Skepsis, die riskiert, auch mal falsch zu liegen»...
. . . kann ja wohl nicht bedeuten, leichtsinnig das Leben von Flugpassagieren zu riskieren. Sondern, das Risiko einzugehen, selber blöd dazustehen.
Pardon, klar. Und letztlich ist diese Bereitschaft, sich selbst nicht ganz so ernst zu nehmen, ja auch ein Zeichen von Bescheidenheit. Denken Sie, dass es den Herren Villiger, Grübel und Konsorten etwa genau daran mangeln könnte?
Vielleicht, vielleicht auch nicht. Ich werde jetzt jedenfalls nicht den Dalai Lama machen und mehr Bescheidenheit und weniger Gier, mehr Spiritualität und weniger Materialismus oder von mir aus auch mehr Selbstironie im Wirtschaftsleben anmahnen. Mehr Demokratie in der Wirtschaft, wie sie die SP in ihrem neuen Parteiprogramm fordert, fände ich angebrachter. «Muntere Skepsis, die riskiert, auch mal falsch zu liegen . . .» ist eine Maxime fürs Denken, nicht fürs Regieren. Und auch nicht fürs Bankgeschäft – jedenfalls dann nicht, wenn nicht man selber, sondern vor allem andere fürs muntere Falschliegen geradestehen müssen. Was im Individuellen Skepsis ist, bedeutet im Politischen Demokratie und Recht: eine Vielfalt von «checks and balances», die mutige Schnellschüsse verhindern.
Schön, dass Sie sich an dieser Stelle für die SP ins Zeug legen. Was mir neulich sehr gefallen hat, war der Bericht über eine englische Studie, die belegt, dass Menschen mit einem höheren IQ lieber links wählen als andersrum. Dem scheinen Sie zuzustimmen, oder nicht?
Wenn die Wissenschaft das herausgefunden hat, bleibt einem schliesslich gar nichts anderes übrig . . .
Das dürfen Sie jetzt gerne noch erläutern!
Da ich der Wissenschaft noch so gerne beipflichte, wenn sie immer wieder mal herausfindet, wie entscheidend ein Fläschchen Rotwein am Abend mein Leben signifikant bis zum nächsten Morgen verlängert, werde ich doch die Seriosität wissenschaftlicher Studien an dieser oder auch anderer Stelle nicht mutwillig infrage stellen.
Mit Peter Schneider mailte Simone Meier
Labels:
Bildung/Education,
Deutsch,
economy,
Schweiz
Dienstag, April 27, 2010
Vatikan erlaubt Sex mit Kindern ab zwölf Jahren
Die Welt Online
Vatikan erlaubt Sex mit Kindern ab zwölf Jahren
Von Lucas Wiegelmann 24. April 2010, 16:49 Uhr
Der Vatikanstaat hat in Europa das niedrigste Schutzalter für Kinder. Es liegt bei 12 Jahren, in Deutschland dagegen bei 14 und in der Schweiz bei 16. Das Schutzalter legt fest, wie alt ein Kind mindestens sein muss, damit Erwachsene und Jugendliche sexuelle Beziehungen mit ihm haben dürfen.
Unter dem Druck des Missbrauchsskandals bekennt sich die katholische Kirche neuerdings lautstark dazu, dass der Staat für die Aufklärung von Straftaten zuständig ist. Um dem Verdacht entgegenzutreten, Übergriffe könnten innerkirchlich vertuscht werden, stellt der Vatikan immer wieder klar: Bei der Aufarbeitung des Skandals soll weltliches Recht strikt beachtet, sollen Staatsanwaltschaften eingeschaltet werden.
Doch für Kinder, die im Vatikan selbst leben, ist das....
Die Welt Online
Vatikan erlaubt Sex mit Kindern ab zwölf Jahren
Von Lucas Wiegelmann 24. April 2010, 16:49 Uhr
Der Vatikanstaat hat in Europa das niedrigste Schutzalter für Kinder. Es liegt bei 12 Jahren, in Deutschland dagegen bei 14 und in der Schweiz bei 16. Das Schutzalter legt fest, wie alt ein Kind mindestens sein muss, damit Erwachsene und Jugendliche sexuelle Beziehungen mit ihm haben dürfen.
Unter dem Druck des Missbrauchsskandals bekennt sich die katholische Kirche neuerdings lautstark dazu, dass der Staat für die Aufklärung von Straftaten zuständig ist. Um dem Verdacht entgegenzutreten, Übergriffe könnten innerkirchlich vertuscht werden, stellt der Vatikan immer wieder klar: Bei der Aufarbeitung des Skandals soll weltliches Recht strikt beachtet, sollen Staatsanwaltschaften eingeschaltet werden.
Doch für Kinder, die im Vatikan selbst leben, ist das eigentlich keine beruhigende Nachricht. Der Vatikanstaat hat nämlich das niedrigste Schutzalter für Kinder in ganz Europa. Es liegt bei zwölf Jahren, in Deutschland dagegen bei 14 Jahren, in der Schweiz sogar bei 16 Jahren.
Als Schutzalter bezeichnet man die Altersgrenze für Kinder, ab der Erwachsene und Jugendliche unter Umständen sexuelle Beziehungen mit ihnen haben dürfen. Sprich: In Deutschland macht sich jeder strafbar, der an einem zwölf- oder dreizehnjährigen Kind sexuelle Handlungen vornimmt – ganz egal, ob es einwilligt oder nicht.
Im Vatikanstaat wäre das unter Umständen straffrei, etwa wenn kein Abhängigskeitsverhältnis zwischen den Partnern besteht. Grund ist ein juristisches Überbleibsel aus dem 19. Jahrhundert. Damals lag im italienischen Strafrecht die Altersgrenze für Sex bei zwölf Jahren.
Als der Vatikan sich 1929 in seiner heutigen Form gründete, übernahm er das italienische Strafgesetzbuch mit dieser Regelung. Es ist bis heute das weltliche Recht für vatikanische Staatsangehörige, gilt also parallel zum Kanonischen Recht für Kirchenangehörige.
Mittlerweile wurden zwar unterschiedliche Dinge geändert, zum Beispiel wurde die Todesstrafe abgeschafft. Aber das Schutzalter blieb bestehen – anders als in Italien, wo das Mindestalter schon vor Jahrzehnten auf 14 angehoben wurde.
Einige Rechtsgelehrte vertreten die Ansicht, dass es sich nur um eine Kuriosität ohne Bedeutung für die Praxis handelt: Es gibt zwar Kinder im Vatikan, denn dort leben nicht nur Geistliche, sondern auch Familien von Vatikanangestellten oder Offizieren der Schweizergarde.
Aber es dürften sehr wenige sein, der kleinste Staat der Welt hat insgesamt nur knapp 1000 Einwohner. Es ist nicht bekannt, ob die einschlägigen Strafartikel 331 und 333 des Codice Penale überhaupt schon einmal in einem vatikanischen Fall angewendet wurden.
Doch Kritiker bezweifeln, dass die Sonderregelung wirklich nur aus Unachtsamkeit oder Gleichgültigkeit beibehalten wird. Juristen wie der Wiener Professor Manfred Nowak gehen davon aus, dass die katholische Kirche das Schutzalter bewusst niedrig gewählt hat.
Nowak verweist auf Malta und Spanien. Malta hat als einziges europäisches Land ein ebenso niedriges Schutzalter wie der Vatikan. Spanien hatte noch bis vor sieben Jahren die gleiche Regelung, mittlerweile wurde die Altersgrenze auf 13 Jahre erhöht. Kein Land in Europa ist so stark katholisch geprägt wie Malta und Spanien – und der Vatikan.
Vatikan erlaubt Sex mit Kindern ab zwölf Jahren
Von Lucas Wiegelmann 24. April 2010, 16:49 Uhr
Der Vatikanstaat hat in Europa das niedrigste Schutzalter für Kinder. Es liegt bei 12 Jahren, in Deutschland dagegen bei 14 und in der Schweiz bei 16. Das Schutzalter legt fest, wie alt ein Kind mindestens sein muss, damit Erwachsene und Jugendliche sexuelle Beziehungen mit ihm haben dürfen.
Unter dem Druck des Missbrauchsskandals bekennt sich die katholische Kirche neuerdings lautstark dazu, dass der Staat für die Aufklärung von Straftaten zuständig ist. Um dem Verdacht entgegenzutreten, Übergriffe könnten innerkirchlich vertuscht werden, stellt der Vatikan immer wieder klar: Bei der Aufarbeitung des Skandals soll weltliches Recht strikt beachtet, sollen Staatsanwaltschaften eingeschaltet werden.
Doch für Kinder, die im Vatikan selbst leben, ist das....
Die Welt Online
Vatikan erlaubt Sex mit Kindern ab zwölf Jahren
Von Lucas Wiegelmann 24. April 2010, 16:49 Uhr
Der Vatikanstaat hat in Europa das niedrigste Schutzalter für Kinder. Es liegt bei 12 Jahren, in Deutschland dagegen bei 14 und in der Schweiz bei 16. Das Schutzalter legt fest, wie alt ein Kind mindestens sein muss, damit Erwachsene und Jugendliche sexuelle Beziehungen mit ihm haben dürfen.
Unter dem Druck des Missbrauchsskandals bekennt sich die katholische Kirche neuerdings lautstark dazu, dass der Staat für die Aufklärung von Straftaten zuständig ist. Um dem Verdacht entgegenzutreten, Übergriffe könnten innerkirchlich vertuscht werden, stellt der Vatikan immer wieder klar: Bei der Aufarbeitung des Skandals soll weltliches Recht strikt beachtet, sollen Staatsanwaltschaften eingeschaltet werden.
Doch für Kinder, die im Vatikan selbst leben, ist das eigentlich keine beruhigende Nachricht. Der Vatikanstaat hat nämlich das niedrigste Schutzalter für Kinder in ganz Europa. Es liegt bei zwölf Jahren, in Deutschland dagegen bei 14 Jahren, in der Schweiz sogar bei 16 Jahren.
Als Schutzalter bezeichnet man die Altersgrenze für Kinder, ab der Erwachsene und Jugendliche unter Umständen sexuelle Beziehungen mit ihnen haben dürfen. Sprich: In Deutschland macht sich jeder strafbar, der an einem zwölf- oder dreizehnjährigen Kind sexuelle Handlungen vornimmt – ganz egal, ob es einwilligt oder nicht.
Im Vatikanstaat wäre das unter Umständen straffrei, etwa wenn kein Abhängigskeitsverhältnis zwischen den Partnern besteht. Grund ist ein juristisches Überbleibsel aus dem 19. Jahrhundert. Damals lag im italienischen Strafrecht die Altersgrenze für Sex bei zwölf Jahren.
Als der Vatikan sich 1929 in seiner heutigen Form gründete, übernahm er das italienische Strafgesetzbuch mit dieser Regelung. Es ist bis heute das weltliche Recht für vatikanische Staatsangehörige, gilt also parallel zum Kanonischen Recht für Kirchenangehörige.
Mittlerweile wurden zwar unterschiedliche Dinge geändert, zum Beispiel wurde die Todesstrafe abgeschafft. Aber das Schutzalter blieb bestehen – anders als in Italien, wo das Mindestalter schon vor Jahrzehnten auf 14 angehoben wurde.
Einige Rechtsgelehrte vertreten die Ansicht, dass es sich nur um eine Kuriosität ohne Bedeutung für die Praxis handelt: Es gibt zwar Kinder im Vatikan, denn dort leben nicht nur Geistliche, sondern auch Familien von Vatikanangestellten oder Offizieren der Schweizergarde.
Aber es dürften sehr wenige sein, der kleinste Staat der Welt hat insgesamt nur knapp 1000 Einwohner. Es ist nicht bekannt, ob die einschlägigen Strafartikel 331 und 333 des Codice Penale überhaupt schon einmal in einem vatikanischen Fall angewendet wurden.
Doch Kritiker bezweifeln, dass die Sonderregelung wirklich nur aus Unachtsamkeit oder Gleichgültigkeit beibehalten wird. Juristen wie der Wiener Professor Manfred Nowak gehen davon aus, dass die katholische Kirche das Schutzalter bewusst niedrig gewählt hat.
Nowak verweist auf Malta und Spanien. Malta hat als einziges europäisches Land ein ebenso niedriges Schutzalter wie der Vatikan. Spanien hatte noch bis vor sieben Jahren die gleiche Regelung, mittlerweile wurde die Altersgrenze auf 13 Jahre erhöht. Kein Land in Europa ist so stark katholisch geprägt wie Malta und Spanien – und der Vatikan.
Labels:
Bildung/Education,
Deutsch,
Europe,
Religion
Mittwoch, April 21, 2010
Pakistans gefährliches Atomprogramm
20. April 2010, Neue Zürcher Zeitung
Pakistans gefährliches Atomprogramm
Politische Instabilität und die Präsenz von Terrorgruppen bilden ein nur schwer zu kalkulierendes Risiko
Die Furcht wächst, dass Terroristen waffenfähiges Spaltmaterial in die Hände bekommen könnten. Laut Experten stellt das politisch instabile Pakistan mit seinem Nukleararsenal in einem solchen Szenario der grösste Schwachpunkt dar.
Andrea Spalinger, Delhi
Regierungsvertreter aus 47 Staaten sind letzte Woche in Washington zu einem Gipfel über Nuklearsicherheit zusammengetroffen. In erster Linie ging es dabei in den Worten des Gastgebers, Barack Obama, um die «grösste Bedrohung für die globale Sicherheit», die Gefahr, dass Terroristen waffenfähiges Spaltmaterial in die Hände bekommen könnten. Während das Risiko eines atomaren Konflikts seit dem Ende des Kalten Krieges gesunken sei, sei die Gefahr eines nuklearen Anschlags sehr viel grösser geworden, so die Warnung des amerikanischen Präsidenten. Sollten Terrorgruppen in den Besitz hochangereicherten Urans oder von Plutonium kommen, hätte dies unvorstellbare Konsequenzen, sagte er und rief zu konkreten Schritten zur Sicherung des nuklearen Materials auf.
Ein altes Sorgenkind
Das grösste Sorgenkind der Amerikaner diesbezüglich ist Pakistan. Über das Proliferations-Netzwerk des langjährigen Chefs....
20. April 2010, Neue Zürcher Zeitung
Pakistans gefährliches Atomprogramm
Politische Instabilität und die Präsenz von Terrorgruppen bilden ein nur schwer zu kalkulierendes Risiko
Die Furcht wächst, dass Terroristen waffenfähiges Spaltmaterial in die Hände bekommen könnten. Laut Experten stellt das politisch instabile Pakistan mit seinem Nukleararsenal in einem solchen Szenario der grösste Schwachpunkt dar.
Andrea Spalinger, Delhi
Regierungsvertreter aus 47 Staaten sind letzte Woche in Washington zu einem Gipfel über Nuklearsicherheit zusammengetroffen. In erster Linie ging es dabei in den Worten des Gastgebers, Barack Obama, um die «grösste Bedrohung für die globale Sicherheit», die Gefahr, dass Terroristen waffenfähiges Spaltmaterial in die Hände bekommen könnten. Während das Risiko eines atomaren Konflikts seit dem Ende des Kalten Krieges gesunken sei, sei die Gefahr eines nuklearen Anschlags sehr viel grösser geworden, so die Warnung des amerikanischen Präsidenten. Sollten Terrorgruppen in den Besitz hochangereicherten Urans oder von Plutonium kommen, hätte dies unvorstellbare Konsequenzen, sagte er und rief zu konkreten Schritten zur Sicherung des nuklearen Materials auf.
Ein altes Sorgenkind
Das grösste Sorgenkind der Amerikaner diesbezüglich ist Pakistan. Über das Proliferations-Netzwerk des langjährigen Chefs des pakistanischen Atomprogramms, Abdul Qadeer Khan, sind Staaten wie Libyen, Nordkorea und Iran in den Besitz geheimer Atomtechnologie gelangt. 2003 flogen Khans Aktivitäten zwar auf, doch viele Fragen bleiben unbeantwortet und das Ausmass des Skandals unklar. Pakistans Behörden haben weder den Amerikanern noch der Internationalen Atomenergieagentur (IAEA) erlaubt, den Atomschmuggler zu verhören. Dies dürfte nicht nur damit zu tun haben, dass Khan in Pakistan als «Vater der Atombombe» ein Volksheld ist, sondern auch damit, dass seine kriminellen Geschäfte ohne Wissen der Armee kaum möglich gewesen wären.
Neben der dubiosen Vergangenheit bereitet Nuklearexperten auch die gegenwärtige Instabilität Pakistans Kopfzerbrechen. Während sein Atomwaffenarsenal rasant wächst, tummeln sich in dem Land die meistgesuchten Terroristen der Welt. Ein vergangene Woche vom Belfer Center for Science and International Affairs der Universität Harvard und der Nuclear Threat Initiative herausgegebener Bericht («Securing the Bomb») stellt denn auch fest, die Gefahr eines nuklearen Lecks sei nirgendwo grösser als in Pakistan. Das südasiatische Land hat die Sicherheitsmassnahmen in den letzten Jahren zwar hochgefahren und zum Schutz seines Atomarsenals eine Strategic Plans Division geschaffen, der 10 000 speziell ausgewählte und ausgebildete Sicherheitskräfte angehören. Experten zweifeln jedoch daran, dass diese Truppe der Gefahr gewachsen ist. Sowohl der Diebstahl von nuklearem Material durch Insider als auch ein Terrorangriff auf Atomanlagen seien weiterhin realistische Szenarien, schreibt der Autor des Berichts, Matthew Bunn. Wenn Terrorgruppen zu spektakulären Angriffen auf schwer gesicherte Ziele wie das Armeehauptquartier in Rawalpindi in der Lage seien, seien auch die über das ganze Land verteilten Reaktoren, nuklearen Forschungsanlagen und Waffenlager nicht sicher. Da traditionell enge Beziehungen zwischen den Sicherheitskräften und islamistischen Gruppen bestünden, könnte es Letzteren zudem gelingen, Spione in nukleare Anlagen einzuschleusen, befürchtet Bunn.
Neue Reaktoren
Besorgniserregend ist nicht zuletzt, dass Islamabad die Produktion von waffenfähigem Spaltmaterial derzeit ausweitet. Es baut drei neue Reaktoren zur Herstellung von Plutonium für eine neue Generation von Atomwaffen, und der amerikanische Geheimdienst CIA hat auf Satellitenbildern bereits erste Dampffahnen über einem der Kühltürme entdeckt. Pakistan hat den Bau offiziell nicht bestätigt, hinter vorgehaltener Hand argumentieren Regierungsbeamte aber, angesichts der indischen Bedrohung brauche man dringend neue Reaktoren. In der Tat produziert auch Indien derzeit neues waffenfähiges Plutonium in Anlagen, die vom Nuklearabkommen mit den USA (das nur die zivile Nutzung von Atomenergie umfasst) ausgeschlossen sind und von der IAEA nicht besichtigt werden können. Nach Schätzungen des Belfer Center lagern weltweit über 23 000 Atomwaffen, und mit den globalen Beständen an hochangereichertem Uran (1600 Tonnen) und Plutonium (500 Tonnen) könnten insgesamt etwa 200 000 Bomben hergestellt werden. Pakistan verfügt mit 70 bis 90 Nuklearsprengköpfen somit über ein eher bescheidenes Arsenal. Da ein kleiner Teil waffenfähigen Spaltmaterials allerdings ausreicht, um unvorstellbaren Schaden anzurichten, tut dies wenig zu Sache.
Beteuerungen Gilanis
Der Harvard-Professor Bunn ist nur einer von vielen Nonproliferations-Experten, die vor einem Leck in Pakistan warnen. Dennoch wurde über das Thema beim Gipfeltreffen in Washington nicht offiziell diskutiert. Das nukleare Wettrüsten in Südasien sei politisch zu heikel, als dass es auf die Tagesordnung hätte gesetzt werden können, verlautete aus Regierungskreisen. Präsident Obama sprach seine Bedenken nur in einem privaten Treffen mit Premierminister Gilani vor dem Gipfel an. Dabei soll er auch seinem Unmut darüber Luft gemacht haben, dass Islamabad Verhandlungen über einen Vertrag blockiert, der die Produktion von neuem Spaltmaterial weltweit stoppen soll.
Gilani versicherte in Washington zum wiederholten Male, Pakistan sei ein verantwortungsvoller Atomstaat und seine Nuklearwaffen seien in sicherer Hand. Auch die Armeeführung, die de facto die Kontrolle über das Atomprogramm hat, behauptet, das Kapitel Khan sei abgeschlossen und die nuklearen Geheimnisse seien heute sicher.
Nicht nur al-Kaida
Laut Rolf Mowatt-Larssen, einem Terrorexperten und jahrzehntelangen CIA-Mitarbeiter, stellt die Kaida mit Abstand die grösste Gefahr dar, weil sie sich bereits seit vielen Jahren darum bemüht, an Massenvernichtungswaffen zu kommen. Ihr Chef, Usama bin Ladin, hatte bereits 1998 öffentlich erklärt: «Es ist die Pflicht der Muslime, in den Besitz einer nuklearen Bombe zu kommen, um die Feinde Gottes zu terrorisieren.» Bruce Riedel von der Brookings Institution wiederum weist warnend darauf hin, dass nicht nur die Kaida, sondern auch andere Terrorgruppen in Pakistan wie die Lashkar-e Toiba nach Nuklearmaterial strebten. Die Hochburg der Lashkar ist der Punjab, wo auch die meisten Armeeoffiziere rekrutiert werden. Zwischen dem Militär und der Gruppe bestehen traditionell enge Bande, und die Gefahr, dass Letztere an Insiderwissen gelangt, ist laut Riedel deshalb gross.
Pakistans gefährliches Atomprogramm
Politische Instabilität und die Präsenz von Terrorgruppen bilden ein nur schwer zu kalkulierendes Risiko
Die Furcht wächst, dass Terroristen waffenfähiges Spaltmaterial in die Hände bekommen könnten. Laut Experten stellt das politisch instabile Pakistan mit seinem Nukleararsenal in einem solchen Szenario der grösste Schwachpunkt dar.
Andrea Spalinger, Delhi
Regierungsvertreter aus 47 Staaten sind letzte Woche in Washington zu einem Gipfel über Nuklearsicherheit zusammengetroffen. In erster Linie ging es dabei in den Worten des Gastgebers, Barack Obama, um die «grösste Bedrohung für die globale Sicherheit», die Gefahr, dass Terroristen waffenfähiges Spaltmaterial in die Hände bekommen könnten. Während das Risiko eines atomaren Konflikts seit dem Ende des Kalten Krieges gesunken sei, sei die Gefahr eines nuklearen Anschlags sehr viel grösser geworden, so die Warnung des amerikanischen Präsidenten. Sollten Terrorgruppen in den Besitz hochangereicherten Urans oder von Plutonium kommen, hätte dies unvorstellbare Konsequenzen, sagte er und rief zu konkreten Schritten zur Sicherung des nuklearen Materials auf.
Ein altes Sorgenkind
Das grösste Sorgenkind der Amerikaner diesbezüglich ist Pakistan. Über das Proliferations-Netzwerk des langjährigen Chefs....
20. April 2010, Neue Zürcher Zeitung
Pakistans gefährliches Atomprogramm
Politische Instabilität und die Präsenz von Terrorgruppen bilden ein nur schwer zu kalkulierendes Risiko
Die Furcht wächst, dass Terroristen waffenfähiges Spaltmaterial in die Hände bekommen könnten. Laut Experten stellt das politisch instabile Pakistan mit seinem Nukleararsenal in einem solchen Szenario der grösste Schwachpunkt dar.
Andrea Spalinger, Delhi
Regierungsvertreter aus 47 Staaten sind letzte Woche in Washington zu einem Gipfel über Nuklearsicherheit zusammengetroffen. In erster Linie ging es dabei in den Worten des Gastgebers, Barack Obama, um die «grösste Bedrohung für die globale Sicherheit», die Gefahr, dass Terroristen waffenfähiges Spaltmaterial in die Hände bekommen könnten. Während das Risiko eines atomaren Konflikts seit dem Ende des Kalten Krieges gesunken sei, sei die Gefahr eines nuklearen Anschlags sehr viel grösser geworden, so die Warnung des amerikanischen Präsidenten. Sollten Terrorgruppen in den Besitz hochangereicherten Urans oder von Plutonium kommen, hätte dies unvorstellbare Konsequenzen, sagte er und rief zu konkreten Schritten zur Sicherung des nuklearen Materials auf.
Ein altes Sorgenkind
Das grösste Sorgenkind der Amerikaner diesbezüglich ist Pakistan. Über das Proliferations-Netzwerk des langjährigen Chefs des pakistanischen Atomprogramms, Abdul Qadeer Khan, sind Staaten wie Libyen, Nordkorea und Iran in den Besitz geheimer Atomtechnologie gelangt. 2003 flogen Khans Aktivitäten zwar auf, doch viele Fragen bleiben unbeantwortet und das Ausmass des Skandals unklar. Pakistans Behörden haben weder den Amerikanern noch der Internationalen Atomenergieagentur (IAEA) erlaubt, den Atomschmuggler zu verhören. Dies dürfte nicht nur damit zu tun haben, dass Khan in Pakistan als «Vater der Atombombe» ein Volksheld ist, sondern auch damit, dass seine kriminellen Geschäfte ohne Wissen der Armee kaum möglich gewesen wären.
Neben der dubiosen Vergangenheit bereitet Nuklearexperten auch die gegenwärtige Instabilität Pakistans Kopfzerbrechen. Während sein Atomwaffenarsenal rasant wächst, tummeln sich in dem Land die meistgesuchten Terroristen der Welt. Ein vergangene Woche vom Belfer Center for Science and International Affairs der Universität Harvard und der Nuclear Threat Initiative herausgegebener Bericht («Securing the Bomb») stellt denn auch fest, die Gefahr eines nuklearen Lecks sei nirgendwo grösser als in Pakistan. Das südasiatische Land hat die Sicherheitsmassnahmen in den letzten Jahren zwar hochgefahren und zum Schutz seines Atomarsenals eine Strategic Plans Division geschaffen, der 10 000 speziell ausgewählte und ausgebildete Sicherheitskräfte angehören. Experten zweifeln jedoch daran, dass diese Truppe der Gefahr gewachsen ist. Sowohl der Diebstahl von nuklearem Material durch Insider als auch ein Terrorangriff auf Atomanlagen seien weiterhin realistische Szenarien, schreibt der Autor des Berichts, Matthew Bunn. Wenn Terrorgruppen zu spektakulären Angriffen auf schwer gesicherte Ziele wie das Armeehauptquartier in Rawalpindi in der Lage seien, seien auch die über das ganze Land verteilten Reaktoren, nuklearen Forschungsanlagen und Waffenlager nicht sicher. Da traditionell enge Beziehungen zwischen den Sicherheitskräften und islamistischen Gruppen bestünden, könnte es Letzteren zudem gelingen, Spione in nukleare Anlagen einzuschleusen, befürchtet Bunn.
Neue Reaktoren
Besorgniserregend ist nicht zuletzt, dass Islamabad die Produktion von waffenfähigem Spaltmaterial derzeit ausweitet. Es baut drei neue Reaktoren zur Herstellung von Plutonium für eine neue Generation von Atomwaffen, und der amerikanische Geheimdienst CIA hat auf Satellitenbildern bereits erste Dampffahnen über einem der Kühltürme entdeckt. Pakistan hat den Bau offiziell nicht bestätigt, hinter vorgehaltener Hand argumentieren Regierungsbeamte aber, angesichts der indischen Bedrohung brauche man dringend neue Reaktoren. In der Tat produziert auch Indien derzeit neues waffenfähiges Plutonium in Anlagen, die vom Nuklearabkommen mit den USA (das nur die zivile Nutzung von Atomenergie umfasst) ausgeschlossen sind und von der IAEA nicht besichtigt werden können. Nach Schätzungen des Belfer Center lagern weltweit über 23 000 Atomwaffen, und mit den globalen Beständen an hochangereichertem Uran (1600 Tonnen) und Plutonium (500 Tonnen) könnten insgesamt etwa 200 000 Bomben hergestellt werden. Pakistan verfügt mit 70 bis 90 Nuklearsprengköpfen somit über ein eher bescheidenes Arsenal. Da ein kleiner Teil waffenfähigen Spaltmaterials allerdings ausreicht, um unvorstellbaren Schaden anzurichten, tut dies wenig zu Sache.
Beteuerungen Gilanis
Der Harvard-Professor Bunn ist nur einer von vielen Nonproliferations-Experten, die vor einem Leck in Pakistan warnen. Dennoch wurde über das Thema beim Gipfeltreffen in Washington nicht offiziell diskutiert. Das nukleare Wettrüsten in Südasien sei politisch zu heikel, als dass es auf die Tagesordnung hätte gesetzt werden können, verlautete aus Regierungskreisen. Präsident Obama sprach seine Bedenken nur in einem privaten Treffen mit Premierminister Gilani vor dem Gipfel an. Dabei soll er auch seinem Unmut darüber Luft gemacht haben, dass Islamabad Verhandlungen über einen Vertrag blockiert, der die Produktion von neuem Spaltmaterial weltweit stoppen soll.
Gilani versicherte in Washington zum wiederholten Male, Pakistan sei ein verantwortungsvoller Atomstaat und seine Nuklearwaffen seien in sicherer Hand. Auch die Armeeführung, die de facto die Kontrolle über das Atomprogramm hat, behauptet, das Kapitel Khan sei abgeschlossen und die nuklearen Geheimnisse seien heute sicher.
Nicht nur al-Kaida
Laut Rolf Mowatt-Larssen, einem Terrorexperten und jahrzehntelangen CIA-Mitarbeiter, stellt die Kaida mit Abstand die grösste Gefahr dar, weil sie sich bereits seit vielen Jahren darum bemüht, an Massenvernichtungswaffen zu kommen. Ihr Chef, Usama bin Ladin, hatte bereits 1998 öffentlich erklärt: «Es ist die Pflicht der Muslime, in den Besitz einer nuklearen Bombe zu kommen, um die Feinde Gottes zu terrorisieren.» Bruce Riedel von der Brookings Institution wiederum weist warnend darauf hin, dass nicht nur die Kaida, sondern auch andere Terrorgruppen in Pakistan wie die Lashkar-e Toiba nach Nuklearmaterial strebten. Die Hochburg der Lashkar ist der Punjab, wo auch die meisten Armeeoffiziere rekrutiert werden. Zwischen dem Militär und der Gruppe bestehen traditionell enge Bande, und die Gefahr, dass Letztere an Insiderwissen gelangt, ist laut Riedel deshalb gross.
Labels:
Deutsch,
Fundamentalism,
India,
oil,
Technology,
terrorism,
War against Terrorism,
WMD,
world
Samstag, April 17, 2010
Donnerstag, April 15, 2010
«Zürich ist eine Sexdestination, dazu sollte man endlich stehen»
«Zürich ist eine Sexdestination, dazu sollte man endlich stehen»
Interview: Tina Fassbind
Die Arbeitsbedingungen für die Prostituierten an der Langstrasse werden immer härter. Lea Bösiger, Beraterin für Sexworkerinnen, kennt die Probleme der Frauen. Und sie weiss, was Freier verlangen.
Lea Bösiger
Seit 10 Jahren ist Lea Bösiger in der Beratung- und Anlaufstelle «Isla Victoria» tätig. Davor arbeitete sie bereits bei der Aidsberatung Kanton Aargau und hatte in dieser Funktion täglich mit Sexworkerinnen zu tun. «Isla Victoria» ist ein Angebot der Zürcher Stadtmission und richtet sich an Frauen, die im Sexgewerbe arbeiten. Täglich besuchen rund 60 Sexworkerinnen die Anlaufstelle. «Wir besprechen alles, was Frauen bewegt – von persönlichen Dramen und Beziehnungsproblemen bis hin zu Erziehungsfragen und Pflichten im Aufenthaltsland», sagt Bösiger.
Immer mehr Roma-Frauen weichen vom Strassenstrich am Sihlquai ins Langstrassenquartier aus. Wie akut ist die Situation?
Es gab schon früher vereinzelt Prostituierte aus Ungarn, aber keine Romas. Im vergangenen Jahr haben rund 300 Prostituierte aus Ungarn während je 90 Tagen legal an der Langstrasse angeschafft. Die Lage ist....
«Zürich ist eine Sexdestination, dazu sollte man endlich stehen»
Interview: Tina Fassbind
Die Arbeitsbedingungen für die Prostituierten an der Langstrasse werden immer härter. Lea Bösiger, Beraterin für Sexworkerinnen, kennt die Probleme der Frauen. Und sie weiss, was Freier verlangen.
Immer mehr Roma-Frauen weichen vom Strassenstrich am Sihlquai ins Langstrassenquartier aus. Wie akut ist die Situation?
Es gab schon früher vereinzelt Prostituierte aus Ungarn, aber keine Romas. Im vergangenen Jahr haben rund 300 Prostituierte aus Ungarn während je 90 Tagen legal an der Langstrasse angeschafft. Die Lage ist also noch nicht so angespannt. Aber wie jede neue Ethnie, die in einem bestimmten Bereich in Erscheinung tritt, fallen diese Frauen auf.
Wie erleben Sie bei Ihrer Arbeit in der Beratungsstelle Isla Victoria die Roma-Frauen?
Wir haben noch nie negative Erfahrungen mit ihnen gemacht. Sie sind ausgesprochen nett, freundlich und anständig. Und sie sind im allgemeinen gerne hier, selbst wenn sie oft in beengten Wohnsituationen leben und wirtschaftlich unter Druck stehen. Mir fällt allerdings auf, dass viele von ihnen im Vergleich zu anderen Sexworkerinnen physisch und psychisch verbraucht wirken.
Warum ist das so?
Viele haben kein Geld. Wer arm ist, kann sich keinen Arzt leisten. Grippen werden nicht auskuriert, Zähne sind kaputt – da sieht man nicht aus wie eine blühende Rose.
Würden Sie die Roma-Frauen als Opfer bezeichnen, die in die Prostitution gedrängt werden?
Die Roma-Frauen gehören einem Kulturkreis an, der bereits im Heimatland grosse Probleme hat. Ihr Bildungsniveau ist schlecht, viele sind Analphabetinnen. Sie haben oft keine andere Möglichkeit, ihr Geld zu verdienen. Kommt hinzu, dass oft schon ihre Mütter angeschafft haben. Sie kennen nichts anderes. Ich sehe diese Frauen aber nicht generell als Opfer. Sie gehen einem Beruf nach wie andere auch.
Ist der Konkurrenzdruck zwischen den Prostituierten härter geworden?
Ja. Die Roma-Frauen gehen fordernder und direkter vor, als die anderen Frauen an der Langstrasse. Zudem steigt die Polizeipräsenz, wenn es mehr Prostituierte hat. Was wiederum zur Folge hat, dass weniger Freier unterwegs sind. Die Prostituierten verdienen also weniger – aber sie verdienen immer noch.
Gegenüber Rolf Vieli von Langstrasse Plus haben sich Prostituierte darüber beklagt, dass die Roma-Frauen alles tun und das zu Dumpingpreisen. Damit würden sie sie das Geschäft vermiesen. Ist das so?
Es gibt tatsächlich eine Änderung im Sexualverhalten: Es wird mehr Analverkehr verlangt. Warum das so ist, weiss ich nicht. Vielleicht liegt es an den neuen Pornos, in denen Analverkehr dazu gehört. Die meisten Prostituierten im Langstrassenquartier sind allerdings freischaffend und tun nur das, was sie machen möchten.
Gibt es denn keine Zuhälter an der Langstrasse?
Nein, die Geschichten von Zuhältern sind Märchen. Zumindest an der Langstrasse. Die gab es in den 50ern. Heute sind sie verschwunden. Mit den Roma-Clans fängt die Zuhälterei allerdings wieder an. Unter den Zuhältern sind übrigens auch Frauen.
Und damit geraten die Frauen wieder in die Abhängigkeit und werden Opfer von Gewalt?
Die Gewalt hat tatsächlich leicht zugenommen. Aber dieses Phänomen betrifft die gesamte Gesellschaft – und das Sexmilieu reagiert immer besonders sensibel auf solche Veränderungen. Zu Vergewaltigungen kommt es im Sexgewerbe allerdings nicht häufiger als im Familien- und Freundeskreis. Wenn es zu solchen Übergriffen kommt, dann schalten wir die Polizei ein und klären ab, ob die Frau zu einem Arzt muss und ob sie eine Anzeige erstatten will. Das kommt aber Gott sei Dank nicht oft vor.
Wie ist der Gewalt im Sexgewerbe am besten beizukommen?
Je emanzipierter die Gesellschaft mit dem Thema Prostitution umgeht, desto grösser ist der Schutz der Frauen. Ein toleranter Umgang mit Sexarbeit führt zu weniger Frauenhandel und weniger Gewalt. Je mehr Repressionen und je starrer die Formen sind, desto schlechter ist es für die Frauen. Viele verfolgen allerdings genau dieses Ziel: Sie wollen alles kontrollieren. Sexualität ist aber nicht kontrollierbar – auch wenn viele Leute froh darüber wären.
Und was kann die Stadt Zürich unternehmen, um die Macht der Roma-Clans einzudämmen?
Die Stadt hat schon im Zuge der Euro versucht, repressiver vorzugehen. Ich denke, es wäre besser, die Langstrasse klar als Rotlichtmilieu zu markieren. Zürich ist eine Sexdestination und man hat das Bedürfnis nach käuflichem Sex. Dazu sollte man endlich stehen.
Interview: Tina Fassbind
Die Arbeitsbedingungen für die Prostituierten an der Langstrasse werden immer härter. Lea Bösiger, Beraterin für Sexworkerinnen, kennt die Probleme der Frauen. Und sie weiss, was Freier verlangen.
Lea Bösiger
Seit 10 Jahren ist Lea Bösiger in der Beratung- und Anlaufstelle «Isla Victoria» tätig. Davor arbeitete sie bereits bei der Aidsberatung Kanton Aargau und hatte in dieser Funktion täglich mit Sexworkerinnen zu tun. «Isla Victoria» ist ein Angebot der Zürcher Stadtmission und richtet sich an Frauen, die im Sexgewerbe arbeiten. Täglich besuchen rund 60 Sexworkerinnen die Anlaufstelle. «Wir besprechen alles, was Frauen bewegt – von persönlichen Dramen und Beziehnungsproblemen bis hin zu Erziehungsfragen und Pflichten im Aufenthaltsland», sagt Bösiger.
Immer mehr Roma-Frauen weichen vom Strassenstrich am Sihlquai ins Langstrassenquartier aus. Wie akut ist die Situation?
Es gab schon früher vereinzelt Prostituierte aus Ungarn, aber keine Romas. Im vergangenen Jahr haben rund 300 Prostituierte aus Ungarn während je 90 Tagen legal an der Langstrasse angeschafft. Die Lage ist....
«Zürich ist eine Sexdestination, dazu sollte man endlich stehen»
Interview: Tina Fassbind
Die Arbeitsbedingungen für die Prostituierten an der Langstrasse werden immer härter. Lea Bösiger, Beraterin für Sexworkerinnen, kennt die Probleme der Frauen. Und sie weiss, was Freier verlangen.
Immer mehr Roma-Frauen weichen vom Strassenstrich am Sihlquai ins Langstrassenquartier aus. Wie akut ist die Situation?
Es gab schon früher vereinzelt Prostituierte aus Ungarn, aber keine Romas. Im vergangenen Jahr haben rund 300 Prostituierte aus Ungarn während je 90 Tagen legal an der Langstrasse angeschafft. Die Lage ist also noch nicht so angespannt. Aber wie jede neue Ethnie, die in einem bestimmten Bereich in Erscheinung tritt, fallen diese Frauen auf.
Wie erleben Sie bei Ihrer Arbeit in der Beratungsstelle Isla Victoria die Roma-Frauen?
Wir haben noch nie negative Erfahrungen mit ihnen gemacht. Sie sind ausgesprochen nett, freundlich und anständig. Und sie sind im allgemeinen gerne hier, selbst wenn sie oft in beengten Wohnsituationen leben und wirtschaftlich unter Druck stehen. Mir fällt allerdings auf, dass viele von ihnen im Vergleich zu anderen Sexworkerinnen physisch und psychisch verbraucht wirken.
Warum ist das so?
Viele haben kein Geld. Wer arm ist, kann sich keinen Arzt leisten. Grippen werden nicht auskuriert, Zähne sind kaputt – da sieht man nicht aus wie eine blühende Rose.
Würden Sie die Roma-Frauen als Opfer bezeichnen, die in die Prostitution gedrängt werden?
Die Roma-Frauen gehören einem Kulturkreis an, der bereits im Heimatland grosse Probleme hat. Ihr Bildungsniveau ist schlecht, viele sind Analphabetinnen. Sie haben oft keine andere Möglichkeit, ihr Geld zu verdienen. Kommt hinzu, dass oft schon ihre Mütter angeschafft haben. Sie kennen nichts anderes. Ich sehe diese Frauen aber nicht generell als Opfer. Sie gehen einem Beruf nach wie andere auch.
Ist der Konkurrenzdruck zwischen den Prostituierten härter geworden?
Ja. Die Roma-Frauen gehen fordernder und direkter vor, als die anderen Frauen an der Langstrasse. Zudem steigt die Polizeipräsenz, wenn es mehr Prostituierte hat. Was wiederum zur Folge hat, dass weniger Freier unterwegs sind. Die Prostituierten verdienen also weniger – aber sie verdienen immer noch.
Gegenüber Rolf Vieli von Langstrasse Plus haben sich Prostituierte darüber beklagt, dass die Roma-Frauen alles tun und das zu Dumpingpreisen. Damit würden sie sie das Geschäft vermiesen. Ist das so?
Es gibt tatsächlich eine Änderung im Sexualverhalten: Es wird mehr Analverkehr verlangt. Warum das so ist, weiss ich nicht. Vielleicht liegt es an den neuen Pornos, in denen Analverkehr dazu gehört. Die meisten Prostituierten im Langstrassenquartier sind allerdings freischaffend und tun nur das, was sie machen möchten.
Gibt es denn keine Zuhälter an der Langstrasse?
Nein, die Geschichten von Zuhältern sind Märchen. Zumindest an der Langstrasse. Die gab es in den 50ern. Heute sind sie verschwunden. Mit den Roma-Clans fängt die Zuhälterei allerdings wieder an. Unter den Zuhältern sind übrigens auch Frauen.
Und damit geraten die Frauen wieder in die Abhängigkeit und werden Opfer von Gewalt?
Die Gewalt hat tatsächlich leicht zugenommen. Aber dieses Phänomen betrifft die gesamte Gesellschaft – und das Sexmilieu reagiert immer besonders sensibel auf solche Veränderungen. Zu Vergewaltigungen kommt es im Sexgewerbe allerdings nicht häufiger als im Familien- und Freundeskreis. Wenn es zu solchen Übergriffen kommt, dann schalten wir die Polizei ein und klären ab, ob die Frau zu einem Arzt muss und ob sie eine Anzeige erstatten will. Das kommt aber Gott sei Dank nicht oft vor.
Wie ist der Gewalt im Sexgewerbe am besten beizukommen?
Je emanzipierter die Gesellschaft mit dem Thema Prostitution umgeht, desto grösser ist der Schutz der Frauen. Ein toleranter Umgang mit Sexarbeit führt zu weniger Frauenhandel und weniger Gewalt. Je mehr Repressionen und je starrer die Formen sind, desto schlechter ist es für die Frauen. Viele verfolgen allerdings genau dieses Ziel: Sie wollen alles kontrollieren. Sexualität ist aber nicht kontrollierbar – auch wenn viele Leute froh darüber wären.
Und was kann die Stadt Zürich unternehmen, um die Macht der Roma-Clans einzudämmen?
Die Stadt hat schon im Zuge der Euro versucht, repressiver vorzugehen. Ich denke, es wäre besser, die Langstrasse klar als Rotlichtmilieu zu markieren. Zürich ist eine Sexdestination und man hat das Bedürfnis nach käuflichem Sex. Dazu sollte man endlich stehen.
Mittwoch, April 14, 2010
Russland: Alles haben, ohne irgendetwas zu tun
Alles haben, ohne irgendetwas zu tun
Von Natalja Kljutscharjowa.
Der Materialismus zerstört Russlands Wesen. Einfacher Wohlstand ist nicht mehr erstrebenswert, alle wollen den märchenhaften, irrealen Reichtum wie Oligarchen und Popstars. Eine Russin erzählt.
Natalja Kljutscharjowa wurde 1981 in Perm (West-Ural) geboren. Sie studierte an der Pädagogischen Hochschule von Jaroslawl und arbeitete als Nachrichtenredaktorin am russischen Fernsehen. Derzeit ist sie Mitarbeiterin der Moskauer Zeitschrift «Erster September». 2006 erschienen ihr erster Gedichtband und ihr Roman «Endstation Russland», der bei Suhrkamp auf Deutsch erhältlich ist (187 S., ca. 18 Fr.). Unser Text ist die stark gekürzte Fassung eines Vortrags, den sie auf der Leipziger Buchmesse für das Autorenspecial des Literarischen Colloquiums Berlin gehalten hat. Er wird vollständig in der Zeitschrift «Sprache im technischen Zeitalter» erscheinen.
Alle wichtigen Ideen, die das nationale Bewusstsein und den Gang der Geschichte in unserem Land bestimmt haben, hat Russland von aussen übernommen. Doch einmal auf russischen Boden gelangt, verloren die philosophischen Konzeptionen den Charakter abstrakter Ideen und wurden (von den Führern, der Intelligenz oder dem ganzen Volk) als direkte Anleitung zum Handeln begriffen. Darin liegt etwas Religiöses, selbst wenn diese Ideen an sich antireligiös waren, wie der Marxismus......
Alles haben, ohne irgendetwas zu tun
Von Natalja Kljutscharjowa.
Der Materialismus zerstört Russlands Wesen. Einfacher Wohlstand ist nicht mehr erstrebenswert, alle wollen den märchenhaften, irrealen Reichtum wie Oligarchen und Popstars. Eine Russin erzählt.
Alle wichtigen Ideen, die das nationale Bewusstsein und den Gang der Geschichte in unserem Land bestimmt haben, hat Russland von aussen übernommen. Doch einmal auf russischen Boden gelangt, verloren die philosophischen Konzeptionen den Charakter abstrakter Ideen und wurden (von den Führern, der Intelligenz oder dem ganzen Volk) als direkte Anleitung zum Handeln begriffen. Darin liegt etwas Religiöses, selbst wenn diese Ideen an sich antireligiös waren, wie der Marxismus.
Materieller Wohlstand als Idol
Die letzte Idee, die wir nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion vom Westen übernommen haben, ist die Konsum-«Philosophie», die den materiellen Wohlstand zu einem unumstösslichen Wert des Seins erklärt. Auf russischen Boden gelangt, wurde diese Idee sofort zum Idol, verwandelte sich vom eigentlich normalen menschlichen Wunsch nach einem Leben in Komfort in einen Kult des Geldes, des Reichtums und des schnellen Profits.
Für die meisten Menschen im heutigen Russland bemisst sich der Sinn des Lebens in Dollar. Im Westen, scheint mir, ist die Konsumgesellschaft aus der protestantischen Ethik der Arbeit hervorgegangen, wo Verdienst und Arbeit in unmittelbarem Bezug zueinander stehen. In Russland dagegen traf die Ideologie des materiellen Wohlstands auf die in der Sowjetgesellschaft entstandene Abneigung gegen jegliche Arbeit, ja, deren Verachtung.
Verblendet von der Gier
Der Geisteszustand der postsowjetischen Gesellschaft lässt sich mit dem unübersetzbaren Ausdruck «chaljawa» definieren, was so viel heisst wie «alles haben, ohne irgendetwas zu tun». Die Helden des Massenbewusstseins sind Oligarchen und Diebe, die sich nur durch das Ausmass ihres Diebstahls voneinander unterscheiden. Fernsehen, Werbung, Popmusik und Boulevardpresse (für die überwiegende Mehrheit die einzige Lektüre) hypnotisieren das Bewusstsein rund um die Uhr mit Beispielen schicken Lebens. Die Massenmedien reichen überall hin, darum sind die Menschen überall verblendet von der Gier nach Reichtum – in Moskau ebenso wie im entlegensten Dorf.
Die Eltern vermitteln ihren Kindern keinerlei andere Werte mehr. Nach der Schule wollen fast alle Volks- oder Betriebswirt werden. Letztes Jahr gab das Bildungsministerium sogar eine offizielle Erklärung heraus: Besinnt euch, so viele Manager braucht das Land nicht! Doch das hat nicht geholfen.
Auf den Arbeitsmarkt drängen jedes Jahr Armeen geldgieriger junger Menschen mit grossem Appetit, gigantischer Faulheit und minimalen moralischen Hemmungen.
Eine Vielzahl bezahlter Nichtstuer
Relativ lange, fast zehn Jahre lang, passte sich die Wirtschaft – vermutlich dank Öl und Gas – dieser Lawine an. Und Menschen in der vollen Blüte ihrer geistigen und körperlichen Kräfte bekamen Geld dafür, dass sie tagelang in Büros herumsassen, Computerspiele spielten, in Chatrooms mit gleichgesinnten «Schwerarbeitern» plauderten und nur hin und wieder mal einen Bericht verfassten, um den Anschein von Arbeit zu erwecken. Real gearbeitet, also Häuser gebaut, die Strassen gekehrt usw., haben, so schien es, in dieser Zeit nur illegale Migranten aus den ehemaligen Sowjetrepubliken, die am helllichten Tag auf offener Strasse von Neonazis erschlagen wurden. Aber das ist ein anderes Thema.
Die Krise hat also vor allem das Kartenhaus des Büro-Müssiggangs einstürzen lassen. Ich finde, das war nützlich. Nicht nur, weil eine Vielzahl bezahlter Nichtstuer eine Art Krebsgeschwür der Wirtschaft sind.
Die Überproduktion von Managern hat noch einen weiteren Aspekt. Wer sein Leben nach dem Diktat gesellschaftlicher Klischees und Moden ausrichtet (der Managerberuf ist heutzutage Mode, im Gegensatz zum Arzt- oder Lehrerberuf), büsst die Fähigkeit zu selbstständigem Denken ein. Der übernimmt, ohne zu überlegen, eine von aussen aufgezwungene Lebensstrategie, ob sie ihm gefällt oder nicht, ob er für diese Tätigkeit geeignet ist oder nicht.
Wichtig ist nur eines: Geld zu verdienen
Etwas zu tun, was man liebt, Nutzen zu bringen, sein Talent zu realisieren, Freude und Befriedigung bei der Arbeit zu empfinden – das alles sind für die meisten meiner Landsleute altmodische Anachronismen. Das alles ist unwichtig. Wichtig ist nur eines: Geld zu verdienen.
Jede Idee, zum Absoluten erklärt, wird zum Gift, das sowohl die Menschheit wie auch jeden einzelnen Menschen vergiftet. Und die Konsumidee ist da keine Ausnahme.
Das russische Bewusstsein ist von seinem Wesen her radikal und utopisch. Darum streben die Menschen bei uns nicht einfach nach Wohlstand, sondern nach märchenhaftem, irrealem Reichtum. Das ist das Bild des Glücks, das die Massenmedien vermitteln. Die Regenbogenpresse wetteifert in der Beschreibung der Häuser von Popstars mit goldenen Klos und speziellen Autolifts, eigens dafür gedacht, dass man mit dem Auto bis ans Bett fahren kann.
Wer nicht über die unermesslichen Schätze verfügt, die für das Glück unabdingbar sind, fühlt sich natürlich unglücklich. Obwohl es der Mehrheit bei uns, wie gesagt, heute weit besser geht als früher. Doch das reicht den Menschen nicht. Die Werbung weckt unersättliche Gier, zieht die Menschen in die üble Unendlichkeit des Konsums.
Ein ungesundes Klima als Resultat
Das alles schafft ein ungesundes psychologisches Klima. Die Passanten auf der Strasse sind aggressiv, unfreundlich, düster, stets auf Konflikt aus. Zurückzustecken, wenn es irgendwie um Geld geht, und sei es eine noch so lächerliche Summe, ist absolut ausgeschlossen.
Ich werde nie vergessen, wie eine dicke, vor Sattheit strotzende Schaffnerin in einem Überlandbus eine alte Frau, die um eine kostenlose Fahrt zum Krankenhaus bat, mit saftigen obszönen Flüchen beschimpfte. Eine Fahrkarte kostete 20 Rubel (70 Rappen). Doch die Frau glaubte allen Ernstes, dass der erträumte Palast mit den goldenen Kloschüsseln in noch weitere Ferne rücken würde, wenn sie jetzt Barmherzigkeit zeigte. Die ganze Fahrt über schrie sie, als ginge es um Leben und Tod.
Dabei leben alte Menschen in Russland, besonders auf dem Land, in der Regel unterhalb der Armutsgrenze. Der Staat zahlt ihnen so geringe Renten, dass es nicht einmal für das Lebensnotwendigste reicht. Und für die Grossmutter, die um eine kostenlose Fahrt zum Krankenhaus bat, waren 20 Rubel eine unerschwingliche Summe.
Reichtum statt Barmherzigkeit
Dass der Staat so etwas zulässt, ist leider nicht neu. Doch eigentlich war das Volk in Russland immer barmherziger als der Staat. Heute aber droht der Kult des Reichtums in den Herzen der Menschen die Barmherzigkeit zu übertönen, die sie selbst während des stalinschen Terrors bewahrt hatten.
Ich lebe in einem Dorf bei Moskau. Laut Gesetz müssen die Fahrer von Minibussen alte Menschen zum halben Preis befördern. Um sich davor zu drücken und 10 Rubel zu sparen (35 Rappen), haben alle Fahrer die unterste Einstiegsstufe abgebrochen, und nun können nur noch junge, gesunde Menschen den Bus benutzen, denen man keinen Preisnachlass gewähren muss.
In Moskau arbeitet die Ärztin Jelisaweta Glinka, Doktor Lisa, wie sie genannt wird. Sie fährt jede Woche auf den Bahnhof, um Obdachlose medizinisch zu versorgen. Anders als in Europa ist das Sozialsystem in Russland erst in einem embryonalen Zustand. Möglich, dass Obdachlosen laut Gesetz eine medizinische Versorgung zusteht, real aber ist es für diese Menschen unmöglich, in ein Krankenhaus zu kommen. Also geht Doktor Lisa zu ihnen, um zu helfen. Freiwillig. Weil sie nicht anders kann.
Oligarchen wecken keinen Hass
Und dafür trifft sie ungebremster Hass. Natürlich nicht vonseiten der Obdachlosen. Sondern vonseiten gutsituierter Bürger, die in der Zeitung von Doktor Lisa lesen und ihre Ruhe einbüssen. Weil ihnen hier ein ganz anderes Verhaltensmodell gezeigt wird, eines, das nicht auf Nehmen gerichtet ist, sondern auf Geben. Und das ist für viele eine unerhörte Provokation, gegen die sie sich mit aller Kraft schützen, bewahren wollen. Doktor Lisa bekommt jeden Tag anonyme SMS mit Drohungen und Beschimpfungen. Obwohl sie ihr Verhalten nicht propagiert, niemandem Vorwürfe macht, nicht dazu aufruft, ihr zu folgen, sondern einfach nur tut, was sie tut.
Oligarchen hingegen, von denen jeder Dorftrunkenbold weiss, dass sie ihren Reichtum auf unredliche Weise erworben haben, wecken bei niemandem Hass. Sie werden bewundert, bestaunt, ja, sogar verehrt. Der Kult des Geldes verwischt die Hierarchie der moralischen Werte, Reichtum macht den Menschen zum unantastbaren Himmelsbewohner, für den allgemeine Normen von Recht und Gewissen nicht gelten.
Kaum jemand in Russland fühlt sich verantwortlich für das, was im Land vorgeht. Schuld sind immer andere: die Regierung, die Abgeordneten, die Amerikaner, die illegalen Migranten, die Nachbarn, die eigene Familie. Im Massenbewusstsein wirkt noch immer die von der sowjetischen Ideologie in Gang gesetzte Mechanik der Suche nach einem äusseren Feind fort. Es fehlt die Erkenntnis, dass man selbst versuchen kann, eine Situation, die einem nicht gefällt, zu ändern. Andererseits ist in Russland alles auf die Unterdrückung privater Initiativen gerichtet. Deshalb geben selbst die wenigen, die aus eigener Kraft etwas unternehmen wollen, oft auf.
Jede Einmischung bleibt nutzlos
Anders als in Europa hat die Presse in Russland keinerlei Einfluss auf das gesellschaftliche Leben. Ein Beamter, der in der Zeitung kritisiert wird, tut trotzdem seelenruhig weiter das, wofür er kritisiert wurde. Darum können Journalisten die Vernichtung privater Initiativen lediglich konstatieren, sie aber nicht stoppen. Auch direkte Einmischung bleibt nutzlos: offizielle Anfragen, Proteste, Briefe an den Präsidenten mit Hunderten oder Tausenden Unterschriften. Sämtliche europäischen Mechanismen der Einflussnahme der Zivilgesellschaft auf den Staat sind in Russland wirkungslos.
Die Krise der Verantwortung, von der ich bereits sprach, betrifft natürlich auch die Staatsmacht. Menschen, die in die führende Klasse hinauf streben, begreifen die Macht als Freipass, als ein «Alles ist erlaubt», als einen Garant für Ruhm und unbegrenzten Zugang zu Finanzströmen.
Nehmen wir einen Teilaspekt. Das Verhältnis zu den nationalen Ressourcen. Es ist ganz offensichtlich, dass parallel zur Ausbeute die Erforschung neuer Lagerstätten erfolgen muss. Doch laut Aussagen von Geologen aus meinem Freundeskreis wird schon seit einigen Jahren in Russland nur ausgebeutet. Das einzige Unternehmen, das auch geologische Erkundungen betrieb, war Michail Chodorkowskis Jukos. Es hat den Anschein, als wollten alle übrigen einfach nicht lange in diesem Land bleiben, weshalb es sie kein bisschen kümmert, was wird, wenn die jetzigen Lagerstätten erschöpft sind. Hauptsache, für sie reicht es. (Tages-Anzeiger)
Von Natalja Kljutscharjowa.
Der Materialismus zerstört Russlands Wesen. Einfacher Wohlstand ist nicht mehr erstrebenswert, alle wollen den märchenhaften, irrealen Reichtum wie Oligarchen und Popstars. Eine Russin erzählt.
Natalja Kljutscharjowa wurde 1981 in Perm (West-Ural) geboren. Sie studierte an der Pädagogischen Hochschule von Jaroslawl und arbeitete als Nachrichtenredaktorin am russischen Fernsehen. Derzeit ist sie Mitarbeiterin der Moskauer Zeitschrift «Erster September». 2006 erschienen ihr erster Gedichtband und ihr Roman «Endstation Russland», der bei Suhrkamp auf Deutsch erhältlich ist (187 S., ca. 18 Fr.). Unser Text ist die stark gekürzte Fassung eines Vortrags, den sie auf der Leipziger Buchmesse für das Autorenspecial des Literarischen Colloquiums Berlin gehalten hat. Er wird vollständig in der Zeitschrift «Sprache im technischen Zeitalter» erscheinen.
Alle wichtigen Ideen, die das nationale Bewusstsein und den Gang der Geschichte in unserem Land bestimmt haben, hat Russland von aussen übernommen. Doch einmal auf russischen Boden gelangt, verloren die philosophischen Konzeptionen den Charakter abstrakter Ideen und wurden (von den Führern, der Intelligenz oder dem ganzen Volk) als direkte Anleitung zum Handeln begriffen. Darin liegt etwas Religiöses, selbst wenn diese Ideen an sich antireligiös waren, wie der Marxismus......
Alles haben, ohne irgendetwas zu tun
Von Natalja Kljutscharjowa.
Der Materialismus zerstört Russlands Wesen. Einfacher Wohlstand ist nicht mehr erstrebenswert, alle wollen den märchenhaften, irrealen Reichtum wie Oligarchen und Popstars. Eine Russin erzählt.
Alle wichtigen Ideen, die das nationale Bewusstsein und den Gang der Geschichte in unserem Land bestimmt haben, hat Russland von aussen übernommen. Doch einmal auf russischen Boden gelangt, verloren die philosophischen Konzeptionen den Charakter abstrakter Ideen und wurden (von den Führern, der Intelligenz oder dem ganzen Volk) als direkte Anleitung zum Handeln begriffen. Darin liegt etwas Religiöses, selbst wenn diese Ideen an sich antireligiös waren, wie der Marxismus.
Materieller Wohlstand als Idol
Die letzte Idee, die wir nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion vom Westen übernommen haben, ist die Konsum-«Philosophie», die den materiellen Wohlstand zu einem unumstösslichen Wert des Seins erklärt. Auf russischen Boden gelangt, wurde diese Idee sofort zum Idol, verwandelte sich vom eigentlich normalen menschlichen Wunsch nach einem Leben in Komfort in einen Kult des Geldes, des Reichtums und des schnellen Profits.
Für die meisten Menschen im heutigen Russland bemisst sich der Sinn des Lebens in Dollar. Im Westen, scheint mir, ist die Konsumgesellschaft aus der protestantischen Ethik der Arbeit hervorgegangen, wo Verdienst und Arbeit in unmittelbarem Bezug zueinander stehen. In Russland dagegen traf die Ideologie des materiellen Wohlstands auf die in der Sowjetgesellschaft entstandene Abneigung gegen jegliche Arbeit, ja, deren Verachtung.
Verblendet von der Gier
Der Geisteszustand der postsowjetischen Gesellschaft lässt sich mit dem unübersetzbaren Ausdruck «chaljawa» definieren, was so viel heisst wie «alles haben, ohne irgendetwas zu tun». Die Helden des Massenbewusstseins sind Oligarchen und Diebe, die sich nur durch das Ausmass ihres Diebstahls voneinander unterscheiden. Fernsehen, Werbung, Popmusik und Boulevardpresse (für die überwiegende Mehrheit die einzige Lektüre) hypnotisieren das Bewusstsein rund um die Uhr mit Beispielen schicken Lebens. Die Massenmedien reichen überall hin, darum sind die Menschen überall verblendet von der Gier nach Reichtum – in Moskau ebenso wie im entlegensten Dorf.
Die Eltern vermitteln ihren Kindern keinerlei andere Werte mehr. Nach der Schule wollen fast alle Volks- oder Betriebswirt werden. Letztes Jahr gab das Bildungsministerium sogar eine offizielle Erklärung heraus: Besinnt euch, so viele Manager braucht das Land nicht! Doch das hat nicht geholfen.
Auf den Arbeitsmarkt drängen jedes Jahr Armeen geldgieriger junger Menschen mit grossem Appetit, gigantischer Faulheit und minimalen moralischen Hemmungen.
Eine Vielzahl bezahlter Nichtstuer
Relativ lange, fast zehn Jahre lang, passte sich die Wirtschaft – vermutlich dank Öl und Gas – dieser Lawine an. Und Menschen in der vollen Blüte ihrer geistigen und körperlichen Kräfte bekamen Geld dafür, dass sie tagelang in Büros herumsassen, Computerspiele spielten, in Chatrooms mit gleichgesinnten «Schwerarbeitern» plauderten und nur hin und wieder mal einen Bericht verfassten, um den Anschein von Arbeit zu erwecken. Real gearbeitet, also Häuser gebaut, die Strassen gekehrt usw., haben, so schien es, in dieser Zeit nur illegale Migranten aus den ehemaligen Sowjetrepubliken, die am helllichten Tag auf offener Strasse von Neonazis erschlagen wurden. Aber das ist ein anderes Thema.
Die Krise hat also vor allem das Kartenhaus des Büro-Müssiggangs einstürzen lassen. Ich finde, das war nützlich. Nicht nur, weil eine Vielzahl bezahlter Nichtstuer eine Art Krebsgeschwür der Wirtschaft sind.
Die Überproduktion von Managern hat noch einen weiteren Aspekt. Wer sein Leben nach dem Diktat gesellschaftlicher Klischees und Moden ausrichtet (der Managerberuf ist heutzutage Mode, im Gegensatz zum Arzt- oder Lehrerberuf), büsst die Fähigkeit zu selbstständigem Denken ein. Der übernimmt, ohne zu überlegen, eine von aussen aufgezwungene Lebensstrategie, ob sie ihm gefällt oder nicht, ob er für diese Tätigkeit geeignet ist oder nicht.
Wichtig ist nur eines: Geld zu verdienen
Etwas zu tun, was man liebt, Nutzen zu bringen, sein Talent zu realisieren, Freude und Befriedigung bei der Arbeit zu empfinden – das alles sind für die meisten meiner Landsleute altmodische Anachronismen. Das alles ist unwichtig. Wichtig ist nur eines: Geld zu verdienen.
Jede Idee, zum Absoluten erklärt, wird zum Gift, das sowohl die Menschheit wie auch jeden einzelnen Menschen vergiftet. Und die Konsumidee ist da keine Ausnahme.
Das russische Bewusstsein ist von seinem Wesen her radikal und utopisch. Darum streben die Menschen bei uns nicht einfach nach Wohlstand, sondern nach märchenhaftem, irrealem Reichtum. Das ist das Bild des Glücks, das die Massenmedien vermitteln. Die Regenbogenpresse wetteifert in der Beschreibung der Häuser von Popstars mit goldenen Klos und speziellen Autolifts, eigens dafür gedacht, dass man mit dem Auto bis ans Bett fahren kann.
Wer nicht über die unermesslichen Schätze verfügt, die für das Glück unabdingbar sind, fühlt sich natürlich unglücklich. Obwohl es der Mehrheit bei uns, wie gesagt, heute weit besser geht als früher. Doch das reicht den Menschen nicht. Die Werbung weckt unersättliche Gier, zieht die Menschen in die üble Unendlichkeit des Konsums.
Ein ungesundes Klima als Resultat
Das alles schafft ein ungesundes psychologisches Klima. Die Passanten auf der Strasse sind aggressiv, unfreundlich, düster, stets auf Konflikt aus. Zurückzustecken, wenn es irgendwie um Geld geht, und sei es eine noch so lächerliche Summe, ist absolut ausgeschlossen.
Ich werde nie vergessen, wie eine dicke, vor Sattheit strotzende Schaffnerin in einem Überlandbus eine alte Frau, die um eine kostenlose Fahrt zum Krankenhaus bat, mit saftigen obszönen Flüchen beschimpfte. Eine Fahrkarte kostete 20 Rubel (70 Rappen). Doch die Frau glaubte allen Ernstes, dass der erträumte Palast mit den goldenen Kloschüsseln in noch weitere Ferne rücken würde, wenn sie jetzt Barmherzigkeit zeigte. Die ganze Fahrt über schrie sie, als ginge es um Leben und Tod.
Dabei leben alte Menschen in Russland, besonders auf dem Land, in der Regel unterhalb der Armutsgrenze. Der Staat zahlt ihnen so geringe Renten, dass es nicht einmal für das Lebensnotwendigste reicht. Und für die Grossmutter, die um eine kostenlose Fahrt zum Krankenhaus bat, waren 20 Rubel eine unerschwingliche Summe.
Reichtum statt Barmherzigkeit
Dass der Staat so etwas zulässt, ist leider nicht neu. Doch eigentlich war das Volk in Russland immer barmherziger als der Staat. Heute aber droht der Kult des Reichtums in den Herzen der Menschen die Barmherzigkeit zu übertönen, die sie selbst während des stalinschen Terrors bewahrt hatten.
Ich lebe in einem Dorf bei Moskau. Laut Gesetz müssen die Fahrer von Minibussen alte Menschen zum halben Preis befördern. Um sich davor zu drücken und 10 Rubel zu sparen (35 Rappen), haben alle Fahrer die unterste Einstiegsstufe abgebrochen, und nun können nur noch junge, gesunde Menschen den Bus benutzen, denen man keinen Preisnachlass gewähren muss.
In Moskau arbeitet die Ärztin Jelisaweta Glinka, Doktor Lisa, wie sie genannt wird. Sie fährt jede Woche auf den Bahnhof, um Obdachlose medizinisch zu versorgen. Anders als in Europa ist das Sozialsystem in Russland erst in einem embryonalen Zustand. Möglich, dass Obdachlosen laut Gesetz eine medizinische Versorgung zusteht, real aber ist es für diese Menschen unmöglich, in ein Krankenhaus zu kommen. Also geht Doktor Lisa zu ihnen, um zu helfen. Freiwillig. Weil sie nicht anders kann.
Oligarchen wecken keinen Hass
Und dafür trifft sie ungebremster Hass. Natürlich nicht vonseiten der Obdachlosen. Sondern vonseiten gutsituierter Bürger, die in der Zeitung von Doktor Lisa lesen und ihre Ruhe einbüssen. Weil ihnen hier ein ganz anderes Verhaltensmodell gezeigt wird, eines, das nicht auf Nehmen gerichtet ist, sondern auf Geben. Und das ist für viele eine unerhörte Provokation, gegen die sie sich mit aller Kraft schützen, bewahren wollen. Doktor Lisa bekommt jeden Tag anonyme SMS mit Drohungen und Beschimpfungen. Obwohl sie ihr Verhalten nicht propagiert, niemandem Vorwürfe macht, nicht dazu aufruft, ihr zu folgen, sondern einfach nur tut, was sie tut.
Oligarchen hingegen, von denen jeder Dorftrunkenbold weiss, dass sie ihren Reichtum auf unredliche Weise erworben haben, wecken bei niemandem Hass. Sie werden bewundert, bestaunt, ja, sogar verehrt. Der Kult des Geldes verwischt die Hierarchie der moralischen Werte, Reichtum macht den Menschen zum unantastbaren Himmelsbewohner, für den allgemeine Normen von Recht und Gewissen nicht gelten.
Kaum jemand in Russland fühlt sich verantwortlich für das, was im Land vorgeht. Schuld sind immer andere: die Regierung, die Abgeordneten, die Amerikaner, die illegalen Migranten, die Nachbarn, die eigene Familie. Im Massenbewusstsein wirkt noch immer die von der sowjetischen Ideologie in Gang gesetzte Mechanik der Suche nach einem äusseren Feind fort. Es fehlt die Erkenntnis, dass man selbst versuchen kann, eine Situation, die einem nicht gefällt, zu ändern. Andererseits ist in Russland alles auf die Unterdrückung privater Initiativen gerichtet. Deshalb geben selbst die wenigen, die aus eigener Kraft etwas unternehmen wollen, oft auf.
Jede Einmischung bleibt nutzlos
Anders als in Europa hat die Presse in Russland keinerlei Einfluss auf das gesellschaftliche Leben. Ein Beamter, der in der Zeitung kritisiert wird, tut trotzdem seelenruhig weiter das, wofür er kritisiert wurde. Darum können Journalisten die Vernichtung privater Initiativen lediglich konstatieren, sie aber nicht stoppen. Auch direkte Einmischung bleibt nutzlos: offizielle Anfragen, Proteste, Briefe an den Präsidenten mit Hunderten oder Tausenden Unterschriften. Sämtliche europäischen Mechanismen der Einflussnahme der Zivilgesellschaft auf den Staat sind in Russland wirkungslos.
Die Krise der Verantwortung, von der ich bereits sprach, betrifft natürlich auch die Staatsmacht. Menschen, die in die führende Klasse hinauf streben, begreifen die Macht als Freipass, als ein «Alles ist erlaubt», als einen Garant für Ruhm und unbegrenzten Zugang zu Finanzströmen.
Nehmen wir einen Teilaspekt. Das Verhältnis zu den nationalen Ressourcen. Es ist ganz offensichtlich, dass parallel zur Ausbeute die Erforschung neuer Lagerstätten erfolgen muss. Doch laut Aussagen von Geologen aus meinem Freundeskreis wird schon seit einigen Jahren in Russland nur ausgebeutet. Das einzige Unternehmen, das auch geologische Erkundungen betrieb, war Michail Chodorkowskis Jukos. Es hat den Anschein, als wollten alle übrigen einfach nicht lange in diesem Land bleiben, weshalb es sie kein bisschen kümmert, was wird, wenn die jetzigen Lagerstätten erschöpft sind. Hauptsache, für sie reicht es. (Tages-Anzeiger)
Montag, April 12, 2010
Bekenntnisse eines Pendlers
Tages Anzeiger Magazin Online
10.04.2010 von Martin Beglinger und Finn Canonica
Bekenntnisse eines Pendlers
Das Land steht unter Hochdruck, die Regierung unter Dauerkritik: Was sagt der amtsälteste Bundesrat dazu? An- und Einsichten von Moritz Leuenberger — samt einem brisanten Angebot zur Departementsreform
«Ich habe keine Schweinegrippe», sagt Moritz Leuenberger zur Begrüssung und versucht zu lächeln. Seine grauen Augen sind ziemlich rot und glasig an diesem letzten Samstag im Februar. Trotzdem steht er pünktlich an der vereinbarten Ecke, ein paar Meter von seinem Haus am Zürichberg entfernt. Hätten wir ihn nicht erwartet, man hätte ihn ohne weiteres übersehen können. Seine tief in die Stirn gezogene karierte Schirmmütze funktioniert als Tarnung perfekt.
Wir fahren mit dem Tram Richtung Zoo, biegen dann zu Fuss in den Wald ab, doch bevor wir über die Befindlichkeit des Landes zu reden beginnen, will er erst mal seine eigene Rolle klären. Oder besser: seine Rollen. Es war der von ihm hoch geschätzte Peter von Matt, der Leuenberger einmal als «Pendler» bezeichnet hat, als Pendler zwischen Innen- und Aussensicht, zwischen Politiker und Privatmann. Ein Bild, das ihm gefällt. Es gab Momente, da deckten sich diese Perspektiven, vor allem in seinem Jahr als Bundespräsident, 2001, als er von 9/11 bis zum Amoklauf in Zug eine Katastrophe nach der andern kommentieren musste. Da war hundert Prozent Identifikation mit Land und Funktion — «auch an Schwingfesten», wie er sagt. Doch normalerweise ist der Privatmann Leuenberger distanzierter gegenüber seiner Rolle als Bundesrat als vielleicht ein Kurt Furgler oder Willi Ritschard.
Für unseren Waldspaziergang ist er gewandet wie im Büro: Unter seinem dunkelgrauen Mantel trägt er einen dunkelblauen Anzug, ein hellblaues Hemd und eine dunkelblaue Krawatte. Lauter edle Stoffe. An sich könnten der Wald und die hundert Kilometer Distanz zum Bundesratsbüro zu einer Aussensicht auf die Politik verführen. Doch schon nach fünfzig Schritten auf dem schneebedeckten Waldweg betont Leuenberger, es wäre «viel zu billig, wenn ich jetzt Kritik von aussen....
Tages Anzeiger Magazin Online
10.04.2010 von Martin Beglinger und Finn Canonica ,
«Ich habe keine Schweinegrippe», sagt Moritz Leuenberger zur Begrüssung und versucht zu lächeln. Seine grauen Augen sind ziemlich rot und glasig an diesem letzten Samstag im Februar. Trotzdem steht er pünktlich an der vereinbarten Ecke, ein paar Meter von seinem Haus am Zürichberg entfernt. Hätten wir ihn nicht erwartet, man hätte ihn ohne weiteres übersehen können. Seine tief in die Stirn gezogene karierte Schirmmütze funktioniert als Tarnung perfekt.
Wir fahren mit dem Tram Richtung Zoo, biegen dann zu Fuss in den Wald ab, doch bevor wir über die Befindlichkeit des Landes zu reden beginnen, will er erst mal seine eigene Rolle klären. Oder besser: seine Rollen. Es war der von ihm hoch geschätzte Peter von Matt, der Leuenberger einmal als «Pendler» bezeichnet hat, als Pendler zwischen Innen- und Aussensicht, zwischen Politiker und Privatmann. Ein Bild, das ihm gefällt. Es gab Momente, da deckten sich diese Perspektiven, vor allem in seinem Jahr als Bundespräsident, 2001, als er von 9/11 bis zum Amoklauf in Zug eine Katastrophe nach der andern kommentieren musste. Da war hundert Prozent Identifikation mit Land und Funktion — «auch an Schwingfesten», wie er sagt. Doch normalerweise ist der Privatmann Leuenberger distanzierter gegenüber seiner Rolle als Bundesrat als vielleicht ein Kurt Furgler oder Willi Ritschard.
Für unseren Waldspaziergang ist er gewandet wie im Büro: Unter seinem dunkelgrauen Mantel trägt er einen dunkelblauen Anzug, ein hellblaues Hemd und eine dunkelblaue Krawatte. Lauter edle Stoffe. An sich könnten der Wald und die hundert Kilometer Distanz zum Bundesratsbüro zu einer Aussensicht auf die Politik verführen. Doch schon nach fünfzig Schritten auf dem schneebedeckten Waldweg betont Leuenberger, es wäre «viel zu billig, wenn ich jetzt Kritik von aussen am Bundesrat üben würde, auch wenn ich sie privat vielleicht für berechtigt hielte. Ich bin mitverantwortlich für die Regierungspolitik der letzten fünfzehn Jahre. Auch wenn ich manche Beschlüsse bekämpft habe, muss ich trotzdem zu ihnen stehen. Das gehört zum Schwierigsten in diesem Amt.»
Was auffällt, wenn er über die Befindlichkeit der Schweiz spricht: dass er eher beschwichtigt. Ein öffentlicher Satz wie von Kollegin Calmy-Rey, wonach die Schweiz «in einer Art Schock» lebe, ist von ihm nicht zu hören. Schwierige Zeiten ja, aber keine Untergangsstimmung. Dass die Schweiz nur noch gedeckelt werde, ihren Ruf rundherum ruiniert habe — nein, das sieht er gar nicht so. Es mag auch daran liegen, dass er hauptsächlich mit Verkehrs- und nicht mit Finanzministern zu tun hat, und gerade im Verkehrsbereich stehe die Schweiz «international in sehr hohem Ansehen».
Auch der Begriff Identitätskrise ist ihm zu dramatisch. Leuenberger sieht das Land auf Identitätssuche, doch das seien wir im Grunde ohnehin alle und immer. Wohin der Weg der Schweiz für ihn führt, das hat er in den letzten drei Monaten wieder wesentlich deutlicher gesagt als in den vergangenen zehn Jahren: in die EU. Zu lange hätten sich die Politiker vor den negativen Umfragen gefürchtet, anstatt deren Werte zu ändern zu versuchen. «Man will einfach nicht wahrhaben, wie wenig autonom wir als Nicht-EU-Mitglied in Wirklichkeit geworden sind.» Das sehe er in jeder Bundesratssitzung, bei der ein weiterer Stapel von Gesetzen mehr oder weniger diskussionslos an EU-Recht angepasst und durchgewunken werde. «Es ist eine Illusion zu glauben, ausserhalb der EU hätten wir mehr Gestaltungsmöglichkeiten als innerhalb.»
Skandale und ihre Folgen
Allzu alarmistisch mag Leuenberger auch deshalb nicht klingen, weil er als Politiker schon zu viele Krisen erlebt hat. «Und immer dachten wir, die gerade aktuelle sei nun wirklich die grauenerregendste aller Zeiten.» Er erwähnt Schweizerhalle (Wer erinnert sich in Bern oder Zürich noch an diese Katastrophe?) und die Geldwäscherei: zwei Beispiele für Krisen, auf die man eine gute politische Antwort gefunden habe, nämlich fortschrittliche Umweltschutz- und Geldwäschereigesetze. «Ich glaube, dass eine politische Antwort bei der Finanzkrise möglich ist.»
Braucht es dafür eine PUK? Er sagt weder Ja noch Nein, sondern: «Es ist gut, wenn Klarheit geschaffen wird.» In seiner Rolle als Bundesrat antwortet er: «Die Einsetzung einer PUK ist eine Vorverurteilung, eine Skandalisierung.» Finde man aber keinen Skandal, dann habe die PUK im öffentlichen Urteil «versagt». Das war schon bei jener PUK so, die der damalige Nationalrat Moritz Leuenberger im Jahr 1989 selber präsidiert hatte. Im Fall Kopp, der zu untersuchen war, hatte er keinen Skandal zu bieten. Doch zu seinem Glück war die PUK auf 700 000 Fichen des Schweizer Staatsschutzes gestossen, «obwohl die an sich nichts mit unserem Auftrag zu tun hatten». Der Fichenskandal wurde zu Moritz Leuenbergers grossem Karrierebeschleuniger.
21 Jahre später nun also die Finanz- und Bankgeheimniskrise. Dass heute selbst in freisinnigen Kreisen salonfähig wird, was «noch vor kurzem als Landesverrat galt» und er als SP-Nationalrat schon in den frühen Achtzigerjahren via «Bankeninitiative» gefordert hatte, das nimmt Leuenberger mit leiser Genugtuung zur Kenntnis. Lauter wird er beim Vorwurf, die Regierung habe keine Strategie gegen diese Krise gehabt. «Das ist eine heuchlerische Kritik. Die Wirtschaft hat über ihre Lobbys energisch politischen Einfluss genommen. Die Haltung des Bundesrates zum Bankgeheimnis und zur Steuerpolitik waren politisch so gewollt.»
Darf er (fast) nichts sagen aus Gründen der Kollegialität, dann flüchtet sich Moritz Leuenberger gerne in die Ironie. Und ist darin wohl ziemlich einzigartig. Welches Land leistet sich schon einen Minister, der das reale Drama um das schweizerische Bankgeheimnis in ein Märchen formt? Moritz Leuenberger hat das Märchen von den «sieben Heinzelmännchen» und ihrem «Baumgeheimnis» geschrieben. Und mit hörbarem Vergnügen auch selber auf DRS 2 vorgelesen. (Gewidmet hat er es Peter Bichsel zum 75. Geburtstag.) «Ein bisschen Politklamauk» will er sich nicht nehmen lassen.
Ha, rufen sofort alle Spötter, der Verkehrs-, Energie-, Umwelt- und Kommunikationsminister hat auch noch Zeit zum Märchenschreiben! Ja, hat er, doch dafür brauche er zweimal zehn Minuten plus eine kurze Sitzungspause, wird aus seiner Entourage versichert. Seine Bücher und Reden, die ihm sehr wichtig (und auch preisgekrönt) sind: reine Sonntags- und Ferienarbeit.
Gleichwohl, dass die Ironie ein heikles Feld ist, er weiss es nur zu gut. «Mit meiner Ironie habe ich viel kaputt gemacht, insbesondere mit meiner Selbstironie», sagt Leuenberger auf dem Waldweg. «Ich dachte immer, wenigstens über mich selber dürfe ich mich lustig machen. Doch darauf sind die Leute ganz besonders allergisch. Sogar aus meiner nächsten Umgebung höre ich den Vorwurf, ich dürfe mich nicht immer wieder selber abemache.»
Am Tag unseres Treffens ist ein Foto von Leuenberger im «Tages-Anzeiger» zu finden, das ihn seltsam schräg in seinem Bürostuhl hängend zeigt. Leuenberger gibt den Leidenden; eine selbstironische Pose mehr, könnte man vermuten. Ist sie aber nicht. Das sei keine absichtliche Pose gewesen, sondern ein blöder Zufall, sagt er. «Ich hätte dieses Bild sicher nicht ausgewählt!» Ein paar Tage später heisst es prompt in einem Leserbrief: «Platz machen! Wenn sich ein Bundesrat so ablichten lässt wie Moritz Leuenberger im Gespräch mit dem Tages-Anzeiger zum Finanzloch bei den Bahnen, so gehört dieser endlich abgelöst. Jedem Jugendlichen würde man wegen dieser Pose eine Watsche hinter die Ohren geben.»
Jetzt gibts erst mal Grüntee für den Verkehrsminister. Wir sitzen mittlerweile im Hotel Zürichberg, Leuenberger hat gleich eine Portion bestellt und wärmt nun seine Hände an der gusseisernen Teekanne.
Im Verlauf der nächsten zwei Stunden betont er mehr als einmal, dass die Mehr- und Minderheiten im Bundesrat «total wechselnd sind». Selbst bei Fragen der Finanzplatzstrategie sei es längst nicht so einfach, wie es von aussen scheine. Man müsse eben immer das Ganze sehen, nicht bloss das einzelne Geschäft. Sein Beispiel: die CO2-Abgabe. Vor ein paar Jahren sei sie noch chancenlos gewesen, auch im Bundesrat, doch heute ist sie umgesetzt, und darauf ist er stolz. Wie auch auf die Herabsetzung der Promillegrenze auf 0,5. Oder das bilaterale Verkehrsabkommen mit der EU. «Ist das Freude an der Macht?», fragt er selber? «Ja! Es ist die Freude, politisch etwas zu bewirken. Ich habe immer wieder umstrittene Vorlagen im Bundesrat durchgebracht, ohne dies öffentlich auszukosten, denn damit hätte ich meine Kollegen brüskiert. Zur Exekutivpolitik gehört nun mal auch eine fast klandestine Taktik.»
Härter im Nehmen
Am Schluss der Taktik steht der Kompromiss — oder sollte es zumindest. Doch der sei «zunehmend zu einem Schimpfwort geworden». Gefragt sei vielmehr «Kompromisslosigkeit», wie sie jeder zweite Werbespot über Autos rühme. Auch viele Medien verlangten nach dem kompromisslosen Duell, nach Sieger und Verlierer. Das entspreche nicht der Allparteienregierung, sondern unterspüle die Konsenspolitik. Doch halt, schiebt er sogleich nach, er wolle hier nicht die Medien schelten und in Nostalgie abgleiten. Denn er hat nicht vergessen, dass auch er «als Parlamentarier alles gemacht hat, um in die Schlagzeilen zu kommen. Früher war nicht alles besser.»
Hat ihn die Politik härter gemacht? Zynisch? «Zynisch war ich nie. Die Mitgliedschaft im Bundesrat hat mich härter im Nehmen gemacht. Aber nicht im Denken.» Er ist jetzt 63 und sitzt — mit Ausnahme von Philipp Etter, der es auf unglaubliche 25 Amtsjahre brachte — länger in der Regierung als jeder andere Bundesrat der Nachkriegszeit. Die Konkordanz hat er längst vollkommen verinnerlicht: «Es ist doch pervers, wie sich im Ausland Mehr- und Minderheit gegenseitig abschlachten. Da hänge ich doch sehr an unserem System mit gemeinsamer Verantwortung.»
Leuenbergers 68er-Generation hielt grundsätzlich alles für politisch, auch das Private. «Verklären will ich das gewiss nicht», sagt er, doch ihn stört, dass seit dem Mauerfall von 1989 «das gesamte Denken ökonomisiert worden ist, in der Gesellschaft wie in der Politik.» 1989 hatte seine PUK noch den bürgerlichen Filz zwischen Wirtschaft, Politik und Armee kritisiert. Heute sei das Gegenteil der Fall: die totale Separierung. Einstmals «staatstragende» Parteien wie die FDP, die diese Ökonomisierung mitgemacht hätten, sieht er deshalb zu einem «politischen Dienstleistungsbetrieb der Wirtschaft» degradiert. Mit dem neuen Regierungskollegen Didier Burkhalter versteht er sich zwar bestens, doch die Steineggers in der heutigen FDP scheint er zu vermissen. Leuenberger kommt auf Kaspar Villiger zu reden, mit dem er acht Jahre in der Regierung sass und der neulich in seiner Rolle als UBS-Präsident sagte, Beamte seien nie klüger als der Markt. «Ich würde meinem früheren Bundesratskollegen nie unterstellen, dass er nicht für das Gemeinwohl sei. Aber ich finde die Vorstellung radikal falsch, diesem sei am besten gedient, wenn man den Markt einfach frei laufen lasse. Wirtschaft ist nicht gleich Gemeinwohl.» Jedes Blaukehlchen müsse er in Franken und Rappen bewerten, um eine Mehrheit von dessen Schutz zu überzeugen. Dass eine artenreiche Natur ganz einfach schön ist, das reiche als Argument schon lange nicht mehr. Es braucht einen Preis. Und der liegt beim Blaukehlchen offenbar bei 237 Franken und 16 Rappen, wie sich Leuenbergers Mitarbeiter Vincenzo Mascioli, der seinen Chef begleitet, an eine absurde Studie erinnert. Freilich, dass auf die «Mode» der Ökonomisierung wieder eine Repolitisierung folgen werde, das ist für Leuenberger sicher.
«Entschuldigung», unterbricht eine ältere Dame das Gespräch resolut, «sind Sie nicht der Schweizer Verkehrsminister?» «Ja, der bin ich», sagt Leuenberger, «kann ich etwas verbessern?» — «Wir brauchen eine gute Zufahrt für das geplante Konzert- und Kongresshaus in Konstanz.» — «Gut, dann mache ich das sofort. Aber Sie müssen wissen, ich bin jetzt in einem Interview.» — «Ich bin die deutsche Computerpionierin Ilse Müller-Anzberger, schreiben Sie das auf!»
Zurück zum Bundesrat. Dass man dem Gremium «Kakofonie» vorwirft, findet er verlogen — vor allem, wenn der Vorwurf von jenen Journalisten stamme, die jeden Sonntag nach Differenzen in der Regierung fahnden würden, um sie zunächst genüsslich auszubreiten und hinterher als Kakofonie zu kritisieren.
Trotzdem, Herr Leuenberger, die Dissonanzen sind doch offensichtlich, das ganze Land nimmt es so wahr. «Diese Regierung ist schliesslich dazu da, um auch schwere inhaltliche Differenzen intern auszufechten», sagt er dazu. Allerdings sei die Bereitschaft tatsächlich markant gesunken, Mehrheitsentscheide kollegial mitzutragen. Leuenberger erinnert an den Zürcher Regierungsrat Alfred Gilgen, den man einst «an den Galgen» wünschte, weil er einen Kulturpreis für Franz Hohler abgelehnt hatte. Dass es Gilgen selber war, der Hohler den Preis verleihen wollte, im Regierungsrat aber unterlag, das hat er nie öffentlich gemacht, sondern die unverdiente Brachialkritik stoisch hingenommen. Leuenberger selber hatte 1991, als frisch gewählter Zürcher Regierungsrat, dort eine «emanzipierte Kollegialität» einführen wollen, was hiesse, dass man die eigene Haltung zu einem Geschäft transparent machen dürfte und trotzdem loyal zu Mehrheitsentscheiden stünde. Seine Regierungskollegen lehnten dies damals ab, doch im Bundesrat von heute ist die «emanzipierte Kollegialität» längstens normal. Nicht nur die Medien sind an dieser Transparenz interessiert, auch die Parteien.
Und die Regierungsreform? Was sagt der amtsälteste Bundesrat dazu? Er seufzt erst mal. Hat in den letzten fünfzehn Jahren wohl zu viele Sitzungen, Arbeitsgruppen, Klausuren, Strategieberichte mit dem immergleichen Resultat erlebt: null. Auch er hat in dieser Runde wieder einen Vorschlag gemacht — ein vierjähriges Präsidium, wobei der Bundespräsident zugleich Aussenminister wäre und die längere Amtszeit zu besserem Networking nutzen könnte — obwohl er schon jetzt weiss, dass die Chancen dafür nahe bei null liegen. Ohnehin hält er die Endlosdiskussion über die Zahl von Bundesräten und Staatssekretären im Grunde für eine Flucht in Formalismen. Mit seinem mächtigen Generalsekretär Hans Werder hat Leuenberger einen faktischen Staatssekretär ohne Titel. «Ich glaube, dass wir mit den bestehenden Strukturen eine gute Politik betreiben könnten.» In der Politik sei es wie in den Vereinen: Ist man sich über Inhalte nicht einig, dann streitet man über die Statuten. Anstatt über die Ziele zu reden. Er sei, im Unterschied zu vielen Linken, nie der Meinung gewesen, Strukturen seien wichtiger als Personen. Das Amt präge nicht nur den Menschen, sondern der Mensch müsse vor allem das Amt prägen.
Heisst das nun: Weiter so wie bisher? Das nicht. Leuenberger sieht durchaus Veränderungsbedarf. Zum Beispiel bei der Neugliederung der Departemente. Klar, hier gehts um Macht. Und an deren Erhalt ist bislang noch jede Departementsreform gescheitert, die letzte 2006, damals am erbitterten Widerstand von Pascal Couchepin.
Jetzt will Leuenberger einen letzten Anlauf für einen grossen Umbau der Departemente nehmen. Es wäre ein Neustart nach den Gesamterneuerungswahlen von 2011. Sein eigenes Ressort, das Uvek, ist bislang das grösste von allen. Ein Monsterministerium. U(mwelt), V(erkehr) und E(nergie) möchte er behalten, also ein Nachhaltigkeitsdepartement, in dem er möglichst viel selber bestimmen kann und nicht auf Mehrheiten im Kollegium angewiesen ist. «Fast täglich treffe ich Entscheide zwischen Nutzen und Schützen, zwischen Wirtschaft und Umwelt, und dies in eigener Kompetenz tun zu können, ist natürlich sehr gut.» Soweit alles wie gehabt. Sehr neu ist hingegen der folgende Satz: «Ich könnte mir durchaus vorstellen, die Post und die Swisscom abzugeben» — also zwei Giganten mit insgesamt 65 000 Angestellten und einem Umsatz von mehr als 20 Milliarden Franken. Mehr will Leuenberger dazu nicht sagen, sicher aber ist schon jetzt: Der Vorschlag wird der Departementsreform massiven Schub verleihen. Und sicher ist auch: Ihn persönlich würde es nicht mehr treffen.
Der Grüntee ist leer getrunken, eigentlich hätte er noch Kaffee in der Stadt einkaufen wollen, doch dazu ist es jetzt zu spät. Nicht aber für einen Kinobesuch am Abend. Auf dem Programm steht Tom Fords «A Single Man». (Er wird ihn bei weitem nicht so toll wie Polanskis «Ghost Writer» finden.)
Vierzehn Tage später treffen wir uns ein zweites Mal, diesmal nicht mehr auf dem Zürichberg, sondern, auf seinen eigenen Wunsch, im Volkshaus, der bald hundertjährigen sozialdemokratischen Hochburg im Kreis 4. Neuerdings ist das Volkshaus ein hipper Szenetreff, dessen Gerant so ziemlich alles ausgemistet hat, was irgendwie an Gewerkschaften oder Selbstverwaltung erinnern könnte. Es liegt frischer Schnee Mitte März, Leuenberger ist wieder fit, und er scheint sich hier wohl zu fühlen. Ihm ist lieber, wenn man ihn mit dem Kreis 4 in Verbindung bringt, denn der Zürichberg riecht für ihn nach Fifa und Fiala, auch wenn seine SP hier unterdessen die wählerstärkste Partei ist mit 29 Prozent. An der Zürcher Langstrasse hatte er einst sein Anwaltsbüro («Häsch Lämpe mit der Schmier, gasch a d Langstrass vier», hiess es in den Achtzigerjahren). Noch heute lässt er sich seine Haare bei Giovanni schräg gegenüber schneiden.
Es sind zwar viele verstohlene Blicke, die ihm an unseren Tisch im Volkshaus folgen, doch angesprochen wird er hier nur einmal, von einem Passanten mit Kind und türkischem Akzent, der den Bundesrat von der Strasse aus entdeckt hat und nun eigens ins Restaurant kommt, um ihn persönlich mit Handschlag zu begrüssen. Das passiere ihm oft, sagt Leuenberger, auch mit ausländischen Taxifahrern, die im Übrigen hervorragend über die Schweiz Bescheid wüssten. Einer, ein Iraker, habe sich neulich bei ihm beklagt, wie die stolze demokratische Schweiz sich von diesem Ghadhafi vorführen lasse.
Das Gespräch im Volkshaus kommt auf den Begriff der Verantwortung. Leuenberger nimmt ihn sofort auf. «Er wird als Worthülse missbraucht, um horrende Managergehälter zu rechtfertigen.» Und in der Politik? Ist eine Konkordanzregierung mit sieben Gleichberechtigten nicht organisierte Verantwortungslosigkeit? Denn wenn alle gleich verantwortlich sind, ist es keiner. Darin sehe er eine gewisse Gefahr, sagt Leuenberger — aber nicht beim Bundesrat, sondern beim Parlament und bei den Kantonen, welche die Verantwortung gerne auf Bund und Regierung abschöben.
Eine Kritik hingegen akzeptiert er: den Hang zum Einzelkämpfertum in der Regierung. Man ist zu sehr Departementschef und zu wenig Bundesrat. Im Kampf ums eigene Gärtlein geht der Blick — die Verantwortung — fürs Ganze verloren. «Wäre ich Finanzminister, würde ich wahrscheinlich mit der gleichen Überzeugung für etwas anderes kämpfen als in der Rolle des Verkehrsministers», sagt Leuenberger. Will er mehr aufs Ganze schauen, muss er den anderen sechs mehr dreinreden. Also «Mitberichte» schreiben, wie das offiziell heisst. Das tue er derzeit deutlich mehr als auch schon. Mehr will er dazu nicht sagen, ausser dies: «Es gibt normalerweise ein gewisses gegenseitiges Grundvertrauen, dass alle Departemente wachsam abklären und gut vorausschauen. Und dann gibt es Zeiten, wo dieses Vertrauen aus personellen Gründen fehlt. Umso mehr gehört es zur Verantwortung, sich selber einzumischen.»
Aber noch einmal: Was heisst persönliche Verantwortung? «Für mich heisst es: Vor jedem Entscheid die Gegenfrage stellen, ob er richtig ist, und eine Antwort geben. Das führt zur systematischen Antwort an das Gewissen, zur Ver-Antwortung.» — Was immer das letztlich heissen mag, heisst es auch, dass jemand die Verantwortung übernehmen und zurücktreten muss, wenn er einen schweren Fehler begangen hat? «Jjjja…», sagt er dazu, aber jetzt wird ihm offenkundig unwohl. Zu schnell ist man damit für sein Empfinden bei der weltweiten Unkultur des «reflexartigen Rücktritts» gelandet. «Denn alle Schuld symbolisch auf sich nehmen und einfach abhauen, das halte ich auch wieder für verantwortungslos.»
«Nudelfertig» wegen Blocher
Dass ihn Christoph Blocher wegen des Flugzeugabsturzes von Überlingen indirekt zum Rücktritt aufgefordert habe, das stimme so nicht. Und selbst wenn er hätte: «Na und? Ein Rücktritt war ohnehin nicht die allgemeine Erwartung.» Nach diversen politisch verordneten Massnahmen sei «die Sicherheitskultur im Schweizer Flugbetrieb wieder gewährleistet». Das nenne er einen verantwortungsvollen Umgang.
Apropos Blocher: Ihr Verhältnis sei nie so schlecht gewesen, wie häufig kolportiert wurde, sagt Leuenberger. Gegen Ende der Amtszeit sei er «erstaunlich kompromissbereit» geworden, auch wenn er, Leuenberger, gelegentlich «nudelfertig» gewesen sei nach Sitzungen, in denen Blocher «selbst beim kleinsten Geschäft eine Volkstribunenrede gehalten» habe.
Was ihm fehlt, ist nicht Blocher, sondern eine «gute politische Fehlerkultur»; eine Kultur, in der man «Fehler, die jeder Politiker begeht, vernünftig diskutieren kann, ohne dass sie gleich holzhammermässig ausgeschlachtet werden. Es mangelt an der Bereitschaft zur redlichen Auseinandersetzung.» Am ehesten sei das vor kleinerem Publikum und vor allem ohne Medien möglich, also ohne Angst, dass einem jeder offen geäusserte Selbstzweifel gleich zu einem Strick gedreht werde. Wie fromm sein Wunsch im bundeshäuslichen Alltag ist, weiss er selber am besten, wenn ihm zwanzig Mikrofone entgegenschiessen und die Frage «Würden Sie Herrn Beglé nochmals wählen?». Es sind Momente, die er hasst. (Und in denen sich handkehrum viele Medienleute bestätigt sehen, die ihn schon lange für eine überempfindliche Diva halten.)
Auch wenn sich die Rücktrittsdiskussionen derzeit auf den Finanzminister konzentrieren, so sind auch regelmässig gallige Attacken auf Moritz Leuenberger zu hören. Nicht nur von Leserbriefschreibern, von der SVP gar nicht erst zu reden. Sondern zum Beispiel auch von Otto Stich, der neulich in der «Zeit» sagte: «Er war mein Nachfolger und dürfte jetzt langsam mal gehen. Ich habe ihm das auch schon gesagt. Aber er hört mir nicht zu. Er will halt zum dritten Mal Bundespräsident werden. Jä nu.» Gar nichts habe ihm Stich gesagt, ist Leuenbergers Antwort, kurz und spitz. Und Peter Bodenmann? Auch der stichelt seit Jahren gegen «den Moritz». «Bodenmann hat schon 1995 meine Wahl in den Bundesrat mit allen Mitteln bekämpft. Aber vielleicht war gerade dies meine grosse Chance, dass er und Andreas Gross damals so vehement gegen mich waren.»
In diesem Moment schaut er demonstrativ auf seine Uhr. Es folgt ein leicht gequälter Leuenberger-Blick zu seinem Mitarbeiter, dann einer Richtung Ausgang, das Klima am Tisch wird etwas frostig. Schliesslich sagt er: «Wollen wir jetzt eine Rücktrittsdiskussion führen? Dann stellen Sie Ihre klaren Forderungen!» Wir fordern gar nichts, wir möchten nur wissen, wie das alles bei ihm ankommt. «Hören Sie, ein Bundesrat ist immer umstritten, hoffentlich auch! Von allen geliebt zu werden, verträgt sich nicht mit Einflussnahme und Macht. Bei mir kommt noch die lange Amtszeit hinzu. Man findet, fünfzehn Jahre seien genug und hätte gerne mal eine Abwechslung. Das ist im Moment eine Modeströmung, doch da verlasse ich mich auf die formale Wahl.» Ohnehin höre er bei seinen Auftritten ganz andere Stimmen aus dem Publikum, nämlich Empörung über diese ewigen Rücktrittsforderungen. Und schliesslich: «Die Tatsache, dass ich dabei geblieben bin, zeigt, dass ich immer noch Freude daran habe.»
So, es ist gesagt! Die Stimmung hellt sich wieder etwas auf, und Leuenberger beisst ins beinharte Guetsli, das zum Kaffee serviert worden ist. Aber er bleibt dabei: In seinem fünfzehnten Amtsjahr will er sich alle Fragen verbeten haben, die für ihn nach Bilanz klingen. Können wir vergessen. «Ich befinde mich ganz und gar nicht in der Phase des abgerundeten Rückblicks.» Es gebe ja Leute, meint er wieder lächelnd zum Schluss, die bereits davor warnen, es könnte ihn noch eine unbefangene Altersradikalität zum Schaden der ganzen Schweiz befallen.
10.04.2010 von Martin Beglinger und Finn Canonica
Bekenntnisse eines Pendlers
Das Land steht unter Hochdruck, die Regierung unter Dauerkritik: Was sagt der amtsälteste Bundesrat dazu? An- und Einsichten von Moritz Leuenberger — samt einem brisanten Angebot zur Departementsreform
«Ich habe keine Schweinegrippe», sagt Moritz Leuenberger zur Begrüssung und versucht zu lächeln. Seine grauen Augen sind ziemlich rot und glasig an diesem letzten Samstag im Februar. Trotzdem steht er pünktlich an der vereinbarten Ecke, ein paar Meter von seinem Haus am Zürichberg entfernt. Hätten wir ihn nicht erwartet, man hätte ihn ohne weiteres übersehen können. Seine tief in die Stirn gezogene karierte Schirmmütze funktioniert als Tarnung perfekt.
Wir fahren mit dem Tram Richtung Zoo, biegen dann zu Fuss in den Wald ab, doch bevor wir über die Befindlichkeit des Landes zu reden beginnen, will er erst mal seine eigene Rolle klären. Oder besser: seine Rollen. Es war der von ihm hoch geschätzte Peter von Matt, der Leuenberger einmal als «Pendler» bezeichnet hat, als Pendler zwischen Innen- und Aussensicht, zwischen Politiker und Privatmann. Ein Bild, das ihm gefällt. Es gab Momente, da deckten sich diese Perspektiven, vor allem in seinem Jahr als Bundespräsident, 2001, als er von 9/11 bis zum Amoklauf in Zug eine Katastrophe nach der andern kommentieren musste. Da war hundert Prozent Identifikation mit Land und Funktion — «auch an Schwingfesten», wie er sagt. Doch normalerweise ist der Privatmann Leuenberger distanzierter gegenüber seiner Rolle als Bundesrat als vielleicht ein Kurt Furgler oder Willi Ritschard.
Für unseren Waldspaziergang ist er gewandet wie im Büro: Unter seinem dunkelgrauen Mantel trägt er einen dunkelblauen Anzug, ein hellblaues Hemd und eine dunkelblaue Krawatte. Lauter edle Stoffe. An sich könnten der Wald und die hundert Kilometer Distanz zum Bundesratsbüro zu einer Aussensicht auf die Politik verführen. Doch schon nach fünfzig Schritten auf dem schneebedeckten Waldweg betont Leuenberger, es wäre «viel zu billig, wenn ich jetzt Kritik von aussen....
Tages Anzeiger Magazin Online
10.04.2010 von Martin Beglinger und Finn Canonica ,
«Ich habe keine Schweinegrippe», sagt Moritz Leuenberger zur Begrüssung und versucht zu lächeln. Seine grauen Augen sind ziemlich rot und glasig an diesem letzten Samstag im Februar. Trotzdem steht er pünktlich an der vereinbarten Ecke, ein paar Meter von seinem Haus am Zürichberg entfernt. Hätten wir ihn nicht erwartet, man hätte ihn ohne weiteres übersehen können. Seine tief in die Stirn gezogene karierte Schirmmütze funktioniert als Tarnung perfekt.
Wir fahren mit dem Tram Richtung Zoo, biegen dann zu Fuss in den Wald ab, doch bevor wir über die Befindlichkeit des Landes zu reden beginnen, will er erst mal seine eigene Rolle klären. Oder besser: seine Rollen. Es war der von ihm hoch geschätzte Peter von Matt, der Leuenberger einmal als «Pendler» bezeichnet hat, als Pendler zwischen Innen- und Aussensicht, zwischen Politiker und Privatmann. Ein Bild, das ihm gefällt. Es gab Momente, da deckten sich diese Perspektiven, vor allem in seinem Jahr als Bundespräsident, 2001, als er von 9/11 bis zum Amoklauf in Zug eine Katastrophe nach der andern kommentieren musste. Da war hundert Prozent Identifikation mit Land und Funktion — «auch an Schwingfesten», wie er sagt. Doch normalerweise ist der Privatmann Leuenberger distanzierter gegenüber seiner Rolle als Bundesrat als vielleicht ein Kurt Furgler oder Willi Ritschard.
Für unseren Waldspaziergang ist er gewandet wie im Büro: Unter seinem dunkelgrauen Mantel trägt er einen dunkelblauen Anzug, ein hellblaues Hemd und eine dunkelblaue Krawatte. Lauter edle Stoffe. An sich könnten der Wald und die hundert Kilometer Distanz zum Bundesratsbüro zu einer Aussensicht auf die Politik verführen. Doch schon nach fünfzig Schritten auf dem schneebedeckten Waldweg betont Leuenberger, es wäre «viel zu billig, wenn ich jetzt Kritik von aussen am Bundesrat üben würde, auch wenn ich sie privat vielleicht für berechtigt hielte. Ich bin mitverantwortlich für die Regierungspolitik der letzten fünfzehn Jahre. Auch wenn ich manche Beschlüsse bekämpft habe, muss ich trotzdem zu ihnen stehen. Das gehört zum Schwierigsten in diesem Amt.»
Was auffällt, wenn er über die Befindlichkeit der Schweiz spricht: dass er eher beschwichtigt. Ein öffentlicher Satz wie von Kollegin Calmy-Rey, wonach die Schweiz «in einer Art Schock» lebe, ist von ihm nicht zu hören. Schwierige Zeiten ja, aber keine Untergangsstimmung. Dass die Schweiz nur noch gedeckelt werde, ihren Ruf rundherum ruiniert habe — nein, das sieht er gar nicht so. Es mag auch daran liegen, dass er hauptsächlich mit Verkehrs- und nicht mit Finanzministern zu tun hat, und gerade im Verkehrsbereich stehe die Schweiz «international in sehr hohem Ansehen».
Auch der Begriff Identitätskrise ist ihm zu dramatisch. Leuenberger sieht das Land auf Identitätssuche, doch das seien wir im Grunde ohnehin alle und immer. Wohin der Weg der Schweiz für ihn führt, das hat er in den letzten drei Monaten wieder wesentlich deutlicher gesagt als in den vergangenen zehn Jahren: in die EU. Zu lange hätten sich die Politiker vor den negativen Umfragen gefürchtet, anstatt deren Werte zu ändern zu versuchen. «Man will einfach nicht wahrhaben, wie wenig autonom wir als Nicht-EU-Mitglied in Wirklichkeit geworden sind.» Das sehe er in jeder Bundesratssitzung, bei der ein weiterer Stapel von Gesetzen mehr oder weniger diskussionslos an EU-Recht angepasst und durchgewunken werde. «Es ist eine Illusion zu glauben, ausserhalb der EU hätten wir mehr Gestaltungsmöglichkeiten als innerhalb.»
Skandale und ihre Folgen
Allzu alarmistisch mag Leuenberger auch deshalb nicht klingen, weil er als Politiker schon zu viele Krisen erlebt hat. «Und immer dachten wir, die gerade aktuelle sei nun wirklich die grauenerregendste aller Zeiten.» Er erwähnt Schweizerhalle (Wer erinnert sich in Bern oder Zürich noch an diese Katastrophe?) und die Geldwäscherei: zwei Beispiele für Krisen, auf die man eine gute politische Antwort gefunden habe, nämlich fortschrittliche Umweltschutz- und Geldwäschereigesetze. «Ich glaube, dass eine politische Antwort bei der Finanzkrise möglich ist.»
Braucht es dafür eine PUK? Er sagt weder Ja noch Nein, sondern: «Es ist gut, wenn Klarheit geschaffen wird.» In seiner Rolle als Bundesrat antwortet er: «Die Einsetzung einer PUK ist eine Vorverurteilung, eine Skandalisierung.» Finde man aber keinen Skandal, dann habe die PUK im öffentlichen Urteil «versagt». Das war schon bei jener PUK so, die der damalige Nationalrat Moritz Leuenberger im Jahr 1989 selber präsidiert hatte. Im Fall Kopp, der zu untersuchen war, hatte er keinen Skandal zu bieten. Doch zu seinem Glück war die PUK auf 700 000 Fichen des Schweizer Staatsschutzes gestossen, «obwohl die an sich nichts mit unserem Auftrag zu tun hatten». Der Fichenskandal wurde zu Moritz Leuenbergers grossem Karrierebeschleuniger.
21 Jahre später nun also die Finanz- und Bankgeheimniskrise. Dass heute selbst in freisinnigen Kreisen salonfähig wird, was «noch vor kurzem als Landesverrat galt» und er als SP-Nationalrat schon in den frühen Achtzigerjahren via «Bankeninitiative» gefordert hatte, das nimmt Leuenberger mit leiser Genugtuung zur Kenntnis. Lauter wird er beim Vorwurf, die Regierung habe keine Strategie gegen diese Krise gehabt. «Das ist eine heuchlerische Kritik. Die Wirtschaft hat über ihre Lobbys energisch politischen Einfluss genommen. Die Haltung des Bundesrates zum Bankgeheimnis und zur Steuerpolitik waren politisch so gewollt.»
Darf er (fast) nichts sagen aus Gründen der Kollegialität, dann flüchtet sich Moritz Leuenberger gerne in die Ironie. Und ist darin wohl ziemlich einzigartig. Welches Land leistet sich schon einen Minister, der das reale Drama um das schweizerische Bankgeheimnis in ein Märchen formt? Moritz Leuenberger hat das Märchen von den «sieben Heinzelmännchen» und ihrem «Baumgeheimnis» geschrieben. Und mit hörbarem Vergnügen auch selber auf DRS 2 vorgelesen. (Gewidmet hat er es Peter Bichsel zum 75. Geburtstag.) «Ein bisschen Politklamauk» will er sich nicht nehmen lassen.
Ha, rufen sofort alle Spötter, der Verkehrs-, Energie-, Umwelt- und Kommunikationsminister hat auch noch Zeit zum Märchenschreiben! Ja, hat er, doch dafür brauche er zweimal zehn Minuten plus eine kurze Sitzungspause, wird aus seiner Entourage versichert. Seine Bücher und Reden, die ihm sehr wichtig (und auch preisgekrönt) sind: reine Sonntags- und Ferienarbeit.
Gleichwohl, dass die Ironie ein heikles Feld ist, er weiss es nur zu gut. «Mit meiner Ironie habe ich viel kaputt gemacht, insbesondere mit meiner Selbstironie», sagt Leuenberger auf dem Waldweg. «Ich dachte immer, wenigstens über mich selber dürfe ich mich lustig machen. Doch darauf sind die Leute ganz besonders allergisch. Sogar aus meiner nächsten Umgebung höre ich den Vorwurf, ich dürfe mich nicht immer wieder selber abemache.»
Am Tag unseres Treffens ist ein Foto von Leuenberger im «Tages-Anzeiger» zu finden, das ihn seltsam schräg in seinem Bürostuhl hängend zeigt. Leuenberger gibt den Leidenden; eine selbstironische Pose mehr, könnte man vermuten. Ist sie aber nicht. Das sei keine absichtliche Pose gewesen, sondern ein blöder Zufall, sagt er. «Ich hätte dieses Bild sicher nicht ausgewählt!» Ein paar Tage später heisst es prompt in einem Leserbrief: «Platz machen! Wenn sich ein Bundesrat so ablichten lässt wie Moritz Leuenberger im Gespräch mit dem Tages-Anzeiger zum Finanzloch bei den Bahnen, so gehört dieser endlich abgelöst. Jedem Jugendlichen würde man wegen dieser Pose eine Watsche hinter die Ohren geben.»
Jetzt gibts erst mal Grüntee für den Verkehrsminister. Wir sitzen mittlerweile im Hotel Zürichberg, Leuenberger hat gleich eine Portion bestellt und wärmt nun seine Hände an der gusseisernen Teekanne.
Im Verlauf der nächsten zwei Stunden betont er mehr als einmal, dass die Mehr- und Minderheiten im Bundesrat «total wechselnd sind». Selbst bei Fragen der Finanzplatzstrategie sei es längst nicht so einfach, wie es von aussen scheine. Man müsse eben immer das Ganze sehen, nicht bloss das einzelne Geschäft. Sein Beispiel: die CO2-Abgabe. Vor ein paar Jahren sei sie noch chancenlos gewesen, auch im Bundesrat, doch heute ist sie umgesetzt, und darauf ist er stolz. Wie auch auf die Herabsetzung der Promillegrenze auf 0,5. Oder das bilaterale Verkehrsabkommen mit der EU. «Ist das Freude an der Macht?», fragt er selber? «Ja! Es ist die Freude, politisch etwas zu bewirken. Ich habe immer wieder umstrittene Vorlagen im Bundesrat durchgebracht, ohne dies öffentlich auszukosten, denn damit hätte ich meine Kollegen brüskiert. Zur Exekutivpolitik gehört nun mal auch eine fast klandestine Taktik.»
Härter im Nehmen
Am Schluss der Taktik steht der Kompromiss — oder sollte es zumindest. Doch der sei «zunehmend zu einem Schimpfwort geworden». Gefragt sei vielmehr «Kompromisslosigkeit», wie sie jeder zweite Werbespot über Autos rühme. Auch viele Medien verlangten nach dem kompromisslosen Duell, nach Sieger und Verlierer. Das entspreche nicht der Allparteienregierung, sondern unterspüle die Konsenspolitik. Doch halt, schiebt er sogleich nach, er wolle hier nicht die Medien schelten und in Nostalgie abgleiten. Denn er hat nicht vergessen, dass auch er «als Parlamentarier alles gemacht hat, um in die Schlagzeilen zu kommen. Früher war nicht alles besser.»
Hat ihn die Politik härter gemacht? Zynisch? «Zynisch war ich nie. Die Mitgliedschaft im Bundesrat hat mich härter im Nehmen gemacht. Aber nicht im Denken.» Er ist jetzt 63 und sitzt — mit Ausnahme von Philipp Etter, der es auf unglaubliche 25 Amtsjahre brachte — länger in der Regierung als jeder andere Bundesrat der Nachkriegszeit. Die Konkordanz hat er längst vollkommen verinnerlicht: «Es ist doch pervers, wie sich im Ausland Mehr- und Minderheit gegenseitig abschlachten. Da hänge ich doch sehr an unserem System mit gemeinsamer Verantwortung.»
Leuenbergers 68er-Generation hielt grundsätzlich alles für politisch, auch das Private. «Verklären will ich das gewiss nicht», sagt er, doch ihn stört, dass seit dem Mauerfall von 1989 «das gesamte Denken ökonomisiert worden ist, in der Gesellschaft wie in der Politik.» 1989 hatte seine PUK noch den bürgerlichen Filz zwischen Wirtschaft, Politik und Armee kritisiert. Heute sei das Gegenteil der Fall: die totale Separierung. Einstmals «staatstragende» Parteien wie die FDP, die diese Ökonomisierung mitgemacht hätten, sieht er deshalb zu einem «politischen Dienstleistungsbetrieb der Wirtschaft» degradiert. Mit dem neuen Regierungskollegen Didier Burkhalter versteht er sich zwar bestens, doch die Steineggers in der heutigen FDP scheint er zu vermissen. Leuenberger kommt auf Kaspar Villiger zu reden, mit dem er acht Jahre in der Regierung sass und der neulich in seiner Rolle als UBS-Präsident sagte, Beamte seien nie klüger als der Markt. «Ich würde meinem früheren Bundesratskollegen nie unterstellen, dass er nicht für das Gemeinwohl sei. Aber ich finde die Vorstellung radikal falsch, diesem sei am besten gedient, wenn man den Markt einfach frei laufen lasse. Wirtschaft ist nicht gleich Gemeinwohl.» Jedes Blaukehlchen müsse er in Franken und Rappen bewerten, um eine Mehrheit von dessen Schutz zu überzeugen. Dass eine artenreiche Natur ganz einfach schön ist, das reiche als Argument schon lange nicht mehr. Es braucht einen Preis. Und der liegt beim Blaukehlchen offenbar bei 237 Franken und 16 Rappen, wie sich Leuenbergers Mitarbeiter Vincenzo Mascioli, der seinen Chef begleitet, an eine absurde Studie erinnert. Freilich, dass auf die «Mode» der Ökonomisierung wieder eine Repolitisierung folgen werde, das ist für Leuenberger sicher.
«Entschuldigung», unterbricht eine ältere Dame das Gespräch resolut, «sind Sie nicht der Schweizer Verkehrsminister?» «Ja, der bin ich», sagt Leuenberger, «kann ich etwas verbessern?» — «Wir brauchen eine gute Zufahrt für das geplante Konzert- und Kongresshaus in Konstanz.» — «Gut, dann mache ich das sofort. Aber Sie müssen wissen, ich bin jetzt in einem Interview.» — «Ich bin die deutsche Computerpionierin Ilse Müller-Anzberger, schreiben Sie das auf!»
Zurück zum Bundesrat. Dass man dem Gremium «Kakofonie» vorwirft, findet er verlogen — vor allem, wenn der Vorwurf von jenen Journalisten stamme, die jeden Sonntag nach Differenzen in der Regierung fahnden würden, um sie zunächst genüsslich auszubreiten und hinterher als Kakofonie zu kritisieren.
Trotzdem, Herr Leuenberger, die Dissonanzen sind doch offensichtlich, das ganze Land nimmt es so wahr. «Diese Regierung ist schliesslich dazu da, um auch schwere inhaltliche Differenzen intern auszufechten», sagt er dazu. Allerdings sei die Bereitschaft tatsächlich markant gesunken, Mehrheitsentscheide kollegial mitzutragen. Leuenberger erinnert an den Zürcher Regierungsrat Alfred Gilgen, den man einst «an den Galgen» wünschte, weil er einen Kulturpreis für Franz Hohler abgelehnt hatte. Dass es Gilgen selber war, der Hohler den Preis verleihen wollte, im Regierungsrat aber unterlag, das hat er nie öffentlich gemacht, sondern die unverdiente Brachialkritik stoisch hingenommen. Leuenberger selber hatte 1991, als frisch gewählter Zürcher Regierungsrat, dort eine «emanzipierte Kollegialität» einführen wollen, was hiesse, dass man die eigene Haltung zu einem Geschäft transparent machen dürfte und trotzdem loyal zu Mehrheitsentscheiden stünde. Seine Regierungskollegen lehnten dies damals ab, doch im Bundesrat von heute ist die «emanzipierte Kollegialität» längstens normal. Nicht nur die Medien sind an dieser Transparenz interessiert, auch die Parteien.
Und die Regierungsreform? Was sagt der amtsälteste Bundesrat dazu? Er seufzt erst mal. Hat in den letzten fünfzehn Jahren wohl zu viele Sitzungen, Arbeitsgruppen, Klausuren, Strategieberichte mit dem immergleichen Resultat erlebt: null. Auch er hat in dieser Runde wieder einen Vorschlag gemacht — ein vierjähriges Präsidium, wobei der Bundespräsident zugleich Aussenminister wäre und die längere Amtszeit zu besserem Networking nutzen könnte — obwohl er schon jetzt weiss, dass die Chancen dafür nahe bei null liegen. Ohnehin hält er die Endlosdiskussion über die Zahl von Bundesräten und Staatssekretären im Grunde für eine Flucht in Formalismen. Mit seinem mächtigen Generalsekretär Hans Werder hat Leuenberger einen faktischen Staatssekretär ohne Titel. «Ich glaube, dass wir mit den bestehenden Strukturen eine gute Politik betreiben könnten.» In der Politik sei es wie in den Vereinen: Ist man sich über Inhalte nicht einig, dann streitet man über die Statuten. Anstatt über die Ziele zu reden. Er sei, im Unterschied zu vielen Linken, nie der Meinung gewesen, Strukturen seien wichtiger als Personen. Das Amt präge nicht nur den Menschen, sondern der Mensch müsse vor allem das Amt prägen.
Heisst das nun: Weiter so wie bisher? Das nicht. Leuenberger sieht durchaus Veränderungsbedarf. Zum Beispiel bei der Neugliederung der Departemente. Klar, hier gehts um Macht. Und an deren Erhalt ist bislang noch jede Departementsreform gescheitert, die letzte 2006, damals am erbitterten Widerstand von Pascal Couchepin.
Jetzt will Leuenberger einen letzten Anlauf für einen grossen Umbau der Departemente nehmen. Es wäre ein Neustart nach den Gesamterneuerungswahlen von 2011. Sein eigenes Ressort, das Uvek, ist bislang das grösste von allen. Ein Monsterministerium. U(mwelt), V(erkehr) und E(nergie) möchte er behalten, also ein Nachhaltigkeitsdepartement, in dem er möglichst viel selber bestimmen kann und nicht auf Mehrheiten im Kollegium angewiesen ist. «Fast täglich treffe ich Entscheide zwischen Nutzen und Schützen, zwischen Wirtschaft und Umwelt, und dies in eigener Kompetenz tun zu können, ist natürlich sehr gut.» Soweit alles wie gehabt. Sehr neu ist hingegen der folgende Satz: «Ich könnte mir durchaus vorstellen, die Post und die Swisscom abzugeben» — also zwei Giganten mit insgesamt 65 000 Angestellten und einem Umsatz von mehr als 20 Milliarden Franken. Mehr will Leuenberger dazu nicht sagen, sicher aber ist schon jetzt: Der Vorschlag wird der Departementsreform massiven Schub verleihen. Und sicher ist auch: Ihn persönlich würde es nicht mehr treffen.
Der Grüntee ist leer getrunken, eigentlich hätte er noch Kaffee in der Stadt einkaufen wollen, doch dazu ist es jetzt zu spät. Nicht aber für einen Kinobesuch am Abend. Auf dem Programm steht Tom Fords «A Single Man». (Er wird ihn bei weitem nicht so toll wie Polanskis «Ghost Writer» finden.)
Vierzehn Tage später treffen wir uns ein zweites Mal, diesmal nicht mehr auf dem Zürichberg, sondern, auf seinen eigenen Wunsch, im Volkshaus, der bald hundertjährigen sozialdemokratischen Hochburg im Kreis 4. Neuerdings ist das Volkshaus ein hipper Szenetreff, dessen Gerant so ziemlich alles ausgemistet hat, was irgendwie an Gewerkschaften oder Selbstverwaltung erinnern könnte. Es liegt frischer Schnee Mitte März, Leuenberger ist wieder fit, und er scheint sich hier wohl zu fühlen. Ihm ist lieber, wenn man ihn mit dem Kreis 4 in Verbindung bringt, denn der Zürichberg riecht für ihn nach Fifa und Fiala, auch wenn seine SP hier unterdessen die wählerstärkste Partei ist mit 29 Prozent. An der Zürcher Langstrasse hatte er einst sein Anwaltsbüro («Häsch Lämpe mit der Schmier, gasch a d Langstrass vier», hiess es in den Achtzigerjahren). Noch heute lässt er sich seine Haare bei Giovanni schräg gegenüber schneiden.
Es sind zwar viele verstohlene Blicke, die ihm an unseren Tisch im Volkshaus folgen, doch angesprochen wird er hier nur einmal, von einem Passanten mit Kind und türkischem Akzent, der den Bundesrat von der Strasse aus entdeckt hat und nun eigens ins Restaurant kommt, um ihn persönlich mit Handschlag zu begrüssen. Das passiere ihm oft, sagt Leuenberger, auch mit ausländischen Taxifahrern, die im Übrigen hervorragend über die Schweiz Bescheid wüssten. Einer, ein Iraker, habe sich neulich bei ihm beklagt, wie die stolze demokratische Schweiz sich von diesem Ghadhafi vorführen lasse.
Das Gespräch im Volkshaus kommt auf den Begriff der Verantwortung. Leuenberger nimmt ihn sofort auf. «Er wird als Worthülse missbraucht, um horrende Managergehälter zu rechtfertigen.» Und in der Politik? Ist eine Konkordanzregierung mit sieben Gleichberechtigten nicht organisierte Verantwortungslosigkeit? Denn wenn alle gleich verantwortlich sind, ist es keiner. Darin sehe er eine gewisse Gefahr, sagt Leuenberger — aber nicht beim Bundesrat, sondern beim Parlament und bei den Kantonen, welche die Verantwortung gerne auf Bund und Regierung abschöben.
Eine Kritik hingegen akzeptiert er: den Hang zum Einzelkämpfertum in der Regierung. Man ist zu sehr Departementschef und zu wenig Bundesrat. Im Kampf ums eigene Gärtlein geht der Blick — die Verantwortung — fürs Ganze verloren. «Wäre ich Finanzminister, würde ich wahrscheinlich mit der gleichen Überzeugung für etwas anderes kämpfen als in der Rolle des Verkehrsministers», sagt Leuenberger. Will er mehr aufs Ganze schauen, muss er den anderen sechs mehr dreinreden. Also «Mitberichte» schreiben, wie das offiziell heisst. Das tue er derzeit deutlich mehr als auch schon. Mehr will er dazu nicht sagen, ausser dies: «Es gibt normalerweise ein gewisses gegenseitiges Grundvertrauen, dass alle Departemente wachsam abklären und gut vorausschauen. Und dann gibt es Zeiten, wo dieses Vertrauen aus personellen Gründen fehlt. Umso mehr gehört es zur Verantwortung, sich selber einzumischen.»
Aber noch einmal: Was heisst persönliche Verantwortung? «Für mich heisst es: Vor jedem Entscheid die Gegenfrage stellen, ob er richtig ist, und eine Antwort geben. Das führt zur systematischen Antwort an das Gewissen, zur Ver-Antwortung.» — Was immer das letztlich heissen mag, heisst es auch, dass jemand die Verantwortung übernehmen und zurücktreten muss, wenn er einen schweren Fehler begangen hat? «Jjjja…», sagt er dazu, aber jetzt wird ihm offenkundig unwohl. Zu schnell ist man damit für sein Empfinden bei der weltweiten Unkultur des «reflexartigen Rücktritts» gelandet. «Denn alle Schuld symbolisch auf sich nehmen und einfach abhauen, das halte ich auch wieder für verantwortungslos.»
«Nudelfertig» wegen Blocher
Dass ihn Christoph Blocher wegen des Flugzeugabsturzes von Überlingen indirekt zum Rücktritt aufgefordert habe, das stimme so nicht. Und selbst wenn er hätte: «Na und? Ein Rücktritt war ohnehin nicht die allgemeine Erwartung.» Nach diversen politisch verordneten Massnahmen sei «die Sicherheitskultur im Schweizer Flugbetrieb wieder gewährleistet». Das nenne er einen verantwortungsvollen Umgang.
Apropos Blocher: Ihr Verhältnis sei nie so schlecht gewesen, wie häufig kolportiert wurde, sagt Leuenberger. Gegen Ende der Amtszeit sei er «erstaunlich kompromissbereit» geworden, auch wenn er, Leuenberger, gelegentlich «nudelfertig» gewesen sei nach Sitzungen, in denen Blocher «selbst beim kleinsten Geschäft eine Volkstribunenrede gehalten» habe.
Was ihm fehlt, ist nicht Blocher, sondern eine «gute politische Fehlerkultur»; eine Kultur, in der man «Fehler, die jeder Politiker begeht, vernünftig diskutieren kann, ohne dass sie gleich holzhammermässig ausgeschlachtet werden. Es mangelt an der Bereitschaft zur redlichen Auseinandersetzung.» Am ehesten sei das vor kleinerem Publikum und vor allem ohne Medien möglich, also ohne Angst, dass einem jeder offen geäusserte Selbstzweifel gleich zu einem Strick gedreht werde. Wie fromm sein Wunsch im bundeshäuslichen Alltag ist, weiss er selber am besten, wenn ihm zwanzig Mikrofone entgegenschiessen und die Frage «Würden Sie Herrn Beglé nochmals wählen?». Es sind Momente, die er hasst. (Und in denen sich handkehrum viele Medienleute bestätigt sehen, die ihn schon lange für eine überempfindliche Diva halten.)
Auch wenn sich die Rücktrittsdiskussionen derzeit auf den Finanzminister konzentrieren, so sind auch regelmässig gallige Attacken auf Moritz Leuenberger zu hören. Nicht nur von Leserbriefschreibern, von der SVP gar nicht erst zu reden. Sondern zum Beispiel auch von Otto Stich, der neulich in der «Zeit» sagte: «Er war mein Nachfolger und dürfte jetzt langsam mal gehen. Ich habe ihm das auch schon gesagt. Aber er hört mir nicht zu. Er will halt zum dritten Mal Bundespräsident werden. Jä nu.» Gar nichts habe ihm Stich gesagt, ist Leuenbergers Antwort, kurz und spitz. Und Peter Bodenmann? Auch der stichelt seit Jahren gegen «den Moritz». «Bodenmann hat schon 1995 meine Wahl in den Bundesrat mit allen Mitteln bekämpft. Aber vielleicht war gerade dies meine grosse Chance, dass er und Andreas Gross damals so vehement gegen mich waren.»
In diesem Moment schaut er demonstrativ auf seine Uhr. Es folgt ein leicht gequälter Leuenberger-Blick zu seinem Mitarbeiter, dann einer Richtung Ausgang, das Klima am Tisch wird etwas frostig. Schliesslich sagt er: «Wollen wir jetzt eine Rücktrittsdiskussion führen? Dann stellen Sie Ihre klaren Forderungen!» Wir fordern gar nichts, wir möchten nur wissen, wie das alles bei ihm ankommt. «Hören Sie, ein Bundesrat ist immer umstritten, hoffentlich auch! Von allen geliebt zu werden, verträgt sich nicht mit Einflussnahme und Macht. Bei mir kommt noch die lange Amtszeit hinzu. Man findet, fünfzehn Jahre seien genug und hätte gerne mal eine Abwechslung. Das ist im Moment eine Modeströmung, doch da verlasse ich mich auf die formale Wahl.» Ohnehin höre er bei seinen Auftritten ganz andere Stimmen aus dem Publikum, nämlich Empörung über diese ewigen Rücktrittsforderungen. Und schliesslich: «Die Tatsache, dass ich dabei geblieben bin, zeigt, dass ich immer noch Freude daran habe.»
So, es ist gesagt! Die Stimmung hellt sich wieder etwas auf, und Leuenberger beisst ins beinharte Guetsli, das zum Kaffee serviert worden ist. Aber er bleibt dabei: In seinem fünfzehnten Amtsjahr will er sich alle Fragen verbeten haben, die für ihn nach Bilanz klingen. Können wir vergessen. «Ich befinde mich ganz und gar nicht in der Phase des abgerundeten Rückblicks.» Es gebe ja Leute, meint er wieder lächelnd zum Schluss, die bereits davor warnen, es könnte ihn noch eine unbefangene Altersradikalität zum Schaden der ganzen Schweiz befallen.
Sonntag, April 11, 2010
Die Zeit: Patente auf das Leben selbst
Zeit Online 09.04.2010
Pharmakonzerne
Lizenzen für Babys?
Patente auf Leben sind verboten. Trotzdem kämpfen Pharmakonzerne härter denn je um Exklusivrechte an Samen- und Eizellen. Allen voran eine alte deutsche Firma: Merck
Von Jutta Hoffritz
Datum 9.4.2010 - 13:51 Uhr
Als Johann Wolfgang Goethe an seinem Faust schrieb, war der Frankfurter Dichter oft bei den Mercks im nahen Darmstadt zu Gast. Mit einem Spross des Apothekerclans verband den jungen Dichter eine enge Freundschaft: Johann Heinrich Merck, selbst literarisch interessiert und zudem ein äußerst kritischer Geist, soll Goethe zur Figur des Mephisto inspiriert haben. Und vermutlich waren es auch die Merckschen Mörser und Phiolen, die ihm als Vorlage für die Laborszenen des Gelehrtendramas dienten.
Bei Merck ist man stolz auf die Firmengeschichte, die bis 1668 zurückgeht. Der mattgrüne Apothekerschrank aus der Goethe-Zeit steht im Werksmuseum auf einem Ehrenplatz, auch die Festschrift mit dem Verweis auf die Dichterfreundschaft stapelt sich dort neben dem Eingang. Fragen zu Mephisto & Co beantwortet Merck zurzeit allerdings zögerlich. Der Grund: Die älteste Pharmafirma der Welt steckt selbst mitten in einem ganz modernen Wissenschaftsthriller. Er spielt in gediegenen Schweizer Pharmalaboren sowie auf entlegenen Inseln der Karibik. Es geht um Profit, Patente und die Software des menschlichen Seins.
Je besser die Forscher die medizinischen Zusammenhänge verstehen, desto größer wird die Begier, dieses Wissen auch zu Geld zu machen. Das Patentrecht hilft dabei. Doch was bedeutet das für Patienten? Müssen sie fürchten, dass ein paar mächtige Pharmakonzerne der Konkurrenz verbieten, neue....
Zeit Online 09.04.2010
Pharmakonzerne
Lizenzen für Babys?
Patente auf Leben sind verboten. Trotzdem kämpfen Pharmakonzerne härter denn je um Exklusivrechte an Samen- und Eizellen. Allen voran eine alte deutsche Firma: Merck
Von Jutta Hoffritz
Datum 9.4.2010 - 13:51 Uhr
Als Johann Wolfgang Goethe an seinem Faust schrieb, war der Frankfurter Dichter oft bei den Mercks im nahen Darmstadt zu Gast. Mit einem Spross des Apothekerclans verband den jungen Dichter eine enge Freundschaft: Johann Heinrich Merck, selbst literarisch interessiert und zudem ein äußerst kritischer Geist, soll Goethe zur Figur des Mephisto inspiriert haben. Und vermutlich waren es auch die Merckschen Mörser und Phiolen, die ihm als Vorlage für die Laborszenen des Gelehrtendramas dienten.
Bei Merck ist man stolz auf die Firmengeschichte, die bis 1668 zurückgeht. Der mattgrüne Apothekerschrank aus der Goethe-Zeit steht im Werksmuseum auf einem Ehrenplatz, auch die Festschrift mit dem Verweis auf die Dichterfreundschaft stapelt sich dort neben dem Eingang. Fragen zu Mephisto & Co beantwortet Merck zurzeit allerdings zögerlich. Der Grund: Die älteste Pharmafirma der Welt steckt selbst mitten in einem ganz modernen Wissenschaftsthriller. Er spielt in gediegenen Schweizer Pharmalaboren sowie auf entlegenen Inseln der Karibik. Es geht um Profit, Patente und die Software des menschlichen Seins.
Je besser die Forscher die medizinischen Zusammenhänge verstehen, desto größer wird die Begier, dieses Wissen auch zu Geld zu machen. Das Patentrecht hilft dabei. Doch was bedeutet das für Patienten? Müssen sie fürchten, dass ein paar mächtige Pharmakonzerne der Konkurrenz verbieten, neue Pillen gegen Krebs und andere Plagen der Menschheit zu erfinden? Werden Eltern für künstlich gezeugte Kinder künftig lebenslang Lizenzgebühren zahlen müssen?
Der Weg dahin ist bereits beschritten. Und Merck ist vorne mit dabei.
So Faust-gleich sich die Forscher in Darmstadt auch bemühten in der Medizin, Chemie und Biologie – über ein Jahrzehnt lang haben sie keine eigenen Pillen erfunden. Bei Merck regierte das Mittelmaß. Entsprechend enthusiastisch wurde 2006 der Kauf der Genfer Firma Serono gefeiert. »Eine Hochzeit im Himmel«, schwärmte Pharmachef Elmar Schnee. Inzwischen jedoch droht aus der Verbindung Höllenärger zu erwachsen: Als Marktführer in der Fruchtbarkeitstherapie hielten sich die Schweizer offenbar für so omnipotent, dass sie zusammen mit ihren Wirkstoffen auch menschliche Eizellen, Spermien und sogar Embryos patentiert haben wollten.
Für Theologen ist das Blasphemie, Bioethiker fürchten die Monopolisierung menschlichen Lebens – weshalb der Gesetzgeber strenge Verbote aufstellte. Die europäische Biopatent-Richtlinie von 1998 schließt geistiges Eigentum am menschlichen Körper in allen Entwicklungsphasen – inklusive der Keimzellen – ausdrücklich aus. Was Unternehmen aber nicht hindert, solche Patente einzureichen.
Pharmakritiker Christoph Then warnt davor, dass ein kürzlich erteiltes Patent auf ein neues Medikament von Merck Serono dem Unternehmen mittelbar Rechte auf die behandelten Eizellen einräumt. »Kein Unternehmen soll aus einer Fruchtbarkeitstherapie Verwertungsansprüche auf menschliches Leben ableiten können«, kritisiert der Mediziner. Wochenlang hat er zusammen mit einer Kollegin die Akten des Europäischen Patentamts studiert. In dieser Woche will Then Einspruch einlegen.
Es wäre nicht das erste Mal, dass er die Genfer Forscher ärgert. Bevor Then jüngst das Institut Testbiotech (Verbandszweck: »Technikfolgenabschätzung«) gründete, arbeitete der Bayer fast zehn Jahre lang als Gentechnikexperte bei Greenpeace in Hamburg. Auch damals hatte er schon mit Serono zu tun – allerdings ohne es zu wissen.
So schlug Then erstmals im Jahr 2004 Alarm wegen eines Patents auf ein Medikament, das männliche Spermien mobiler und damit fortpflanzungsfähiger machen sollte. Er bemängelte, dass sich die Schutzrechte nicht nur auf den Wirkstoff, sondern auch auf die behandelten Samenzellen bezogen. Nur wenige Medien griffen den Fall damals auf. Thema zu komplex, Firma zu unbekannt: Applied Research Systems mit Sitz auf den entfernten Antillen – das war niemandem einen Aufreger wert.
Auch Then selbst hatte die Sache wohl zwischenzeitlich vergessen. Erst nachdem er in den Antragsunterlagen für das Merck-Serono-Patent erneut auf die Holding aus dem Steuerparadies stieß, begann er die Akten im Euro-Patentamt systematisch zu durchforsten. Er staunte nicht schlecht. Erstens ist Applied Research Systems eine Tochtergesellschaft von Serono und damit von Merck. Und zweitens hat der Tabubruch System. Insgesamt stieß Then auf Dutzende von Ansprüchen, die sich auf menschliche Keimzellen oder sogar Embryos erstrecken. »Ich habe selten ein Unternehmen erlebt, das patentmäßig so an die Grenzen geht – und darüber hinaus«, sagt Then.
Die meisten dieser Ansprüche schmetterte das Patentamt ab. Einiges ließen die Prüfer aber offenbar durchrutschen, was vielleicht daran liegen mag, dass man bei Serono findige Patentanwälte beschäftigte, die geschickt formulierten und die Objekte der Begierde sicherheitshalber gleich in mehrere Ansprüche einbauten.
So bestand das aktuell umstrittene Patent EP1794287 im Antrag insgesamt aus zehn Einzelansprüchen. Davon strichen die Prüfer unter anderem den, der direkt auf die Eizelle zielt, ließen dafür aber Nummer eins und acht stehen, in denen es scheinbar nur um die Reifung derselben geht (»Verfahren zur in-vitro-Fertilisation umfassend das Herstellen einer reifen Oozyte«). Weil Herstellungspatente – im Gegensatz zu Arbeitspatenten – aber auch die Früchte des Verfahrens schützen, erhalte Merck schließlich doch das Patent aufs Ei, moniert Then.
Bei Merck tut man sich schwer mit dem Thema. Auf eine Anfrage im vergangenen November hin mag zunächst niemand die Sache kommentieren. Danach dauert es fast drei Monate, bis sich ein Termin für einen Besuch bei der Schweizer Arzneitochter findet.
In Genf, wo Stararchitekt Helmut Jahn dem Unternehmen einen architekturpreisgekrönten Glasbau hinstellte, sitzt Pharmachef Elmar Schnee in seinem Büro – und mauert. Steuerlich, gibt er zu, sei Serono mit der Offshore-Holding »hart am Wind gefahren«, weswegen Merck darauf bestanden habe, das Konstrukt abzuschaffen. Patentrechtlich aber sei man sich keiner Schuld bewusst. »Wir stehen auf dem Standpunkt, wir haben kein Patent auf die Eizelle, sondern nur auf die Applikation«, sagt Schnee. Er lächelt freundlich und blickt geradeaus, vorbei an dem Bord, auf dem die Bilder seiner beiden Kinder stehen.
Siobhán Yeats sieht das anders, allerdings nur ein wenig: Man könne im Fall der Eizelle durchaus von einem »mittelbaren« Patent reden, meint die Direktorin, die beim Europäischen Patentamt für Biotechnologie zuständig ist. Das komme vor, die Unternehmen wollten das. Solange das Merck-Verfahren moralisch in Ordnung sei und die In-vitro-Fertilisation verbessere, finde sie das »ethisch akzeptabel«, wiegelt sie ab. Wenn es zu einem Einspruch käme, werde das Amt den aber selbstverständlich prüfen.
Man fürchtet Then – in der Industrie, unter Forschern und auch beim Europäischen Patentamt in München. Die Pförtner in dem wuchtigen Gebäude direkt gegenüber dem Deutschen Museum scherzen zwar mit ihm, wenn er kommt. Sie fragen, was er heute wieder vorhat. Und dann zeigen sie augenzwinkernd auf die Wand, wo sie früher sein Foto aufgehängt hatten – um ihn rechtzeitig zu erkennen, wenn er mit seinen Aktivisten anrückte.
»Das behindert die Forschung mehr, als ihr zu nützen«
Vor zehn Jahren kam er mit Greenpeace-Kollegen einmal mit einem Bierlaster voller Steine angefahren. Sie vermauerten die Zufahrt zum Amt, um gegen ein Patent der Universität Edinburgh zu protestieren. Diese hatte sich verbotenerweise genmanipulierte menschliche Embryonen schützen lassen. Noch während die Protestler mit den Steinen hantierten, kam einer aus dem Amt herunter und gestand den Fehler ein. Dann ging das Ganze seinen juristischen Gang – das Patent wurde widerrufen.
Vor sechs Jahren verbarrikadierten Then und seine Mannen dann den Haupteingang. Nachdem sich ein Unternehmen namens Vitrolife ein Verfahren zum Einfrieren befruchteter Eizellen nebst den Eizellen selbst hatte schützen lassen, stapelten die Aktivisten dort demonstrativ Eisblöcke mit tiefgekühlten Babypuppen. Wieder folgte ein langer Schriftwechsel; und dann die Korrektur.
Jetzt also steht Merck am Pranger, was wie eine Ironie der Geschichte anmutet. Seit dem Faust – und auch davor – beschäftigten sich zahllose Dramen, Romane und Filme mit Kunstkreaturen wie dem Homunculus. Diese Science-Fiction-Fantasien erhielten mit der Entschlüsselung des Genoms Anfang des neuen Jahrtausends neue Nahrung. Gleich mehrere Forscher kündigten kurz darauf einen Menschenklon an: der italienische Fruchtbarkeitsdoktor Severino Antinori ebenso wie die kanadische Sektenfirma Clonaid und der koreanische Stammzellforscher Hwang Woo-Suk. Doch alle drei selbst ernannten Menschenzüchter wurden als Aufschneider entlarvt. Und selbst eine mit allen Patenten der Welt bewaffnete Pharmafirma könnte auf die Schnelle wohl kaum erfolgreicher sein.
Wieso also reichen Firmen solche Patente ein? »Im schlimmsten Falle kann man mit solchen Patenten die weitere Erforschung und Verbesserung einer Technologie verhindern«, sagt Ingrid Schneider. Sie ist Bioethikerin und Politologin an der Universität Hamburg. Einerseits, so erklärt sie, seien Patente notwendig, um Innovation zu stimulieren. Kein Unternehmen investiere in teure Forschung, wenn es sein geistiges Eigentum später nicht schützen könne. Andererseits entwickle sich aber immer mehr die Tendenz, rund um Erfindungen Patente zu »Patentdickichten« aufzuhäufen, kritisiert Schneider: »Und das behindert die Forschung mehr, als ihr zu nützen.« Auch Jens Reich warnt vor zu vielen Patenten. »So werden potenzielle Innovatoren ferngehalten«, fürchtet der Biologe, Bürgerrechtler und Mitglied des Deutschen Ethikrates.
Besonders scheint diese Unart in der Pharmaindustrie zu grassieren: Waren es früher vor allem Tüftler aus der Autoindustrie und dem Maschinenbau, die sich Erfindungen sichern ließen, wurde die Gesundheitsbranche inzwischen Hauptnutzer des Patentsystems. Seit dem Jahr 1999 hat sich die Zahl der Anmeldungen aus diesem Bereich laut Europäischem Patentamt fast verdoppelt.
Und haben die Patienten von dieser Entwicklung profitiert? Nicht wirklich. Erstaunlicherweise kamen in jüngster Zeit nicht mehr, sondern eher weniger neue Arzneien in die Apotheken als früher: Die Patentflut ging mit einer Pillenflaute einher. Eine Paradoxie, die auf eine wachsende Zahl taktischer Patente hindeutet – und auf eine beginnende Innovationssklerose. Den Konzernen fällt kaum noch Neues ein. »Wir müssen darauf achten, dass wir nicht Instrumente schaffen, mit denen der Wettbewerb eingeschränkt werden kann«, urteilt auch Innovationsforscher Dietmar Harhoff von der Ludwig-Maximilians-Universität in München. »Das beste Instrument dagegen ist eine intensive Prüfung anhand strenger Maßstäbe.«
Profiteure des Systems sind Konzerne, solche, die sich ein Heer hauseigener Patentanwälte leisten können. Schwer haben es dagegen die Kleinen der Branche. Schwarz Pharma ist so ein Fall. Oder vielleicht sollte man besser sagen: war so ein Fall, denn seit gut drei Jahren ist der vor den Toren Düsseldorfs gelegene Betrieb Teil des belgischen Arzneiherstellers UCB. Als Patrick Schwarz-Schütte damals sichtlich emotional berührt den Verkauf des Familienunternehmens verkündete, sagte er wenig zu den Gründen.
Fragt man ihn heute, erzählt der früh ergraute Mann, dass ein Patentstreit den Ausschlag gab. Drei Produkte habe das Unternehmen gehabt. Bis eines Tages Post von Pfizer kam, dem größten Pharmaunternehmen der Welt. In dem Brief stand, dass eine der Arzneien ein Patent von Pfizer verletze. »Man hätte versuchen können, das zu invalidieren«, sagt Schwarz-Schütte, »aber gegen Pfizer mit seinen Riesenressourcen?« Der Konzern bot einen Vergleich an, zähneknirschend habe er zugestimmt.
Die Firma bekam daraufhin viel Geld, war aber alle Rechte an ihrer Inkontinenz-Arznei los. Pharmaunternehmer Schwarz-Schütte hatte eine Lektion gelernt: Ebenso wichtig wie das medizinische Wissen ist es, alle Winkelzüge des Patentrechts zu beherrschen. »Da wusste ich, wir müssen verkaufen.« Schwarz war kein großes Unternehmen: 4400 Mitarbeiter, darunter aber durchaus Juristen. Man fragt sich, wie es in ähnlicher Situation einem Biotech-Betrieb ergeht, einem Start-up, das aus ein paar Dutzend Forschern besteht?
»Die wenigen neuen Substanzen fielen allesamt beim klinischen Test durch«
Vor zwanzig Jahren, zu Beginn der Biotech-Ära wurde genau dieses Thema diskutiert, weshalb es auch Jahre dauerte, bis die EU eine Biopatent-Richtlinie verabschiedet hatte. Kritische Geister warnten damals davor, private Schutzrechte schon an der DNA – also am Quellcode der Schöpfung – ansetzen zu lassen. Sie forderten: »Kein Patent auf Leben«. Die Pharmaindustrie dagegen strebte nach umfangreichem geistigen Eigentum. Die Arzneiriesen wollten Stoffpatente fürs Genom, so wie vorher für ihre chemischen Substanzen. Es folgte eine gewaltige Lobbykampagne.
Die Kommission war schnell überzeugt. Und das Euro-Patentamt verteilte sowieso schon fleißig Biopatente. Erst als das Parlament in Straßburg aufbegehrte und erstmals in der Geschichte einem Brüsseler Gesetzeswerk die Unterstützung verweigerte, gingen die Eurokraten überhaupt auf die Bedenken der Kritiker ein. Schließlich schlossen sie Embryonen und Keimzellen von der Patentierung aus. Das besänftigte zumindest die Kirchen, die beim Thema Fruchtbarkeit empfindlich sind. Ansonsten unternahm Brüssel nichts gegen den Allmachtsanspruch der Arzneikonzerne.
So kam es zum Wettlauf um die DNA. Gewinner waren die, die sich gleich zu Anfang Patente auf die Gene sicherten, die für weitverbreitete Krankheiten wie Krebs oder Diabetes verantwortlich sind. Verlierer sind dagegen diejenigen, die seither an entsprechenden Arzneien forschen. Selbst wenn sie an völlig neuen Wirkmechanismen arbeiten, müssen sie der etablierten Konkurrenz Lizenzen zahlen. Und wenn Dermatologen feststellen, dass Hautwarzen durch ein Gen ausgelöst werden, das man einst als Krebsverursacher patentierte, dürfen auch sie ihr Medikamente nur mit Erlaubnis der Patentbesitzer auf den Markt bringen.
In den USA versucht man dem inzwischen Einhalt zu gebieten. Vergangene Woche annullierte ein New Yorker Gericht Patente des Diagnostikakonzerns Myriad Genetics, der sich die Rechte auf zwei Brustkrebsgene gesichert hatte und seine Tests nun als Monopolist anbot. Geklagt hatten Patienten, die sich durch den mangelnden Wettbewerb beeinträchtigt sahen. Möglicherweise gibt es für die Gerichte bald noch mehr zu tun, denn ein Fünftel des menschlichen Genoms ist verteilt. Natürlich würde kein Unternehmen freiwillig zugeben, dass es sich bei irgendeinem seiner Schutzrechte um ein taktisches Patent handelt – formuliert einzig, um die Konkurrenz vom Forschungsgegenstand fernzuhalten. Merck macht da keine Ausnahme: So gibt sich der Pharmachef im Interview demonstrativ als Freund des Wettbewerbs. »Ich bin der Meinung, es müssen immer mehrere Firmen an einem Ziel forschen – damit am Ende ein oder zwei davon erfolgreich sind«, sagt Schnee. Und sollte jemand zu der Auffassung gelangen, dass sein Unternehmen doch ein exklusives Recht auf die Eizelle erlangt habe, dann bekämen andere Firmen selbstverständlich die freie Lizenz, daran zu forschen, verspricht er. »Wir verteidigen dieses nicht«, sagt er. »Ich stehe zu dem Gesetz.«
Wenn das so ist, hat Schnee durchaus Gelegenheit, guten Willen zu zeigen: Inzwischen hat Patentwächter Then nämlich einen weiteren Antrag von Merck Serono zutage gefördert: EP1697504. Wieder geht es um eine Fertilitätstherapie, und wieder sind gleich mehrere Ansprüche auf das Ei gerichtet. Und weil das Patent noch nicht bewilligt ist, könne Merck es durch ein paar Streichungen entschärfen, sagt Then.
Der Pharmachef selbst will dazu nichts mehr sagen. Auch zum alten Spermapatent bleibt Schnee Antworten schuldig. Er werde sich erkundigen, wehrt er schon beim Gespräch in Genf ab. Später melden sich noch einmal seine Kommunikatoren mit der Botschaft, das Unternehmen habe in diesem und einem ähnlichen Fall inzwischen auf Schutzrechte verzichtet – an den Spermien wie auch an der Therapie selbst.
Schwer zu glauben, dass dies »aus ethischen Gründen« geschah, wie Sprecher Gangolf Schrimpf nahelegt. Die ökonomischen Gründe liegen näher: Denn Fortschritte in der Therapie bleiben seit Langem aus – ganz besonders bei der Behandlung von Männern. »Die wenigen Substanzen, die die Industrie in den vergangenen Jahren erforschte, fielen allesamt beim klinischen Test durch«, klagt Sabine Kliesch, Andrologin an der Uniklinik Münster. Bei der Behandlung von Frauen sieht es nur wenig besser aus. Die wichtigste Innovation war Anfang der neunziger Jahre die Einführung der rekombinanten Gonadotropine anstelle von Hormonen auf Urinbasis. Es folgte ein Patentstreit, den Serono gewann – ein Konkurrent zahlt seitdem Lizenzen, ein anderer verzichtet auf die Neuerung. Und selbst Marktführer Serono sucht vergeblich nach neuen Bestsellern. Er hat Steuern optimiert, die Konkurrenz kujoniert, aber in der Forschung letztlich nicht reüssiert.
Was bleibt, ist eine Firmenstrategie, die den Schutz weiter schwächt, den die Ursprünge menschlichen Lebens heute genießen. Dem Darmstädter Unternehmen Merck ergeht es derweil wie einst dem Faust, der sich mit den Mächten der Finsternis verband, um Glück und Erkenntnis zu gewinnen, und tragisch endete. Merck erbt nun die Debatte um ethische Grenzüberschreitungen, die dem Ruf des Unternehmens schadet. Der alte Merck fand übrigens vor mehr als 200 Jahren, sein Freund Goethe habe das Drama »mit der größten Treue der Natur abgestohlen«.
Pharmakonzerne
Lizenzen für Babys?
Patente auf Leben sind verboten. Trotzdem kämpfen Pharmakonzerne härter denn je um Exklusivrechte an Samen- und Eizellen. Allen voran eine alte deutsche Firma: Merck
Von Jutta Hoffritz
Datum 9.4.2010 - 13:51 Uhr
Als Johann Wolfgang Goethe an seinem Faust schrieb, war der Frankfurter Dichter oft bei den Mercks im nahen Darmstadt zu Gast. Mit einem Spross des Apothekerclans verband den jungen Dichter eine enge Freundschaft: Johann Heinrich Merck, selbst literarisch interessiert und zudem ein äußerst kritischer Geist, soll Goethe zur Figur des Mephisto inspiriert haben. Und vermutlich waren es auch die Merckschen Mörser und Phiolen, die ihm als Vorlage für die Laborszenen des Gelehrtendramas dienten.
Bei Merck ist man stolz auf die Firmengeschichte, die bis 1668 zurückgeht. Der mattgrüne Apothekerschrank aus der Goethe-Zeit steht im Werksmuseum auf einem Ehrenplatz, auch die Festschrift mit dem Verweis auf die Dichterfreundschaft stapelt sich dort neben dem Eingang. Fragen zu Mephisto & Co beantwortet Merck zurzeit allerdings zögerlich. Der Grund: Die älteste Pharmafirma der Welt steckt selbst mitten in einem ganz modernen Wissenschaftsthriller. Er spielt in gediegenen Schweizer Pharmalaboren sowie auf entlegenen Inseln der Karibik. Es geht um Profit, Patente und die Software des menschlichen Seins.
Je besser die Forscher die medizinischen Zusammenhänge verstehen, desto größer wird die Begier, dieses Wissen auch zu Geld zu machen. Das Patentrecht hilft dabei. Doch was bedeutet das für Patienten? Müssen sie fürchten, dass ein paar mächtige Pharmakonzerne der Konkurrenz verbieten, neue....
Zeit Online 09.04.2010
Pharmakonzerne
Lizenzen für Babys?
Patente auf Leben sind verboten. Trotzdem kämpfen Pharmakonzerne härter denn je um Exklusivrechte an Samen- und Eizellen. Allen voran eine alte deutsche Firma: Merck
Von Jutta Hoffritz
Datum 9.4.2010 - 13:51 Uhr
Als Johann Wolfgang Goethe an seinem Faust schrieb, war der Frankfurter Dichter oft bei den Mercks im nahen Darmstadt zu Gast. Mit einem Spross des Apothekerclans verband den jungen Dichter eine enge Freundschaft: Johann Heinrich Merck, selbst literarisch interessiert und zudem ein äußerst kritischer Geist, soll Goethe zur Figur des Mephisto inspiriert haben. Und vermutlich waren es auch die Merckschen Mörser und Phiolen, die ihm als Vorlage für die Laborszenen des Gelehrtendramas dienten.
Bei Merck ist man stolz auf die Firmengeschichte, die bis 1668 zurückgeht. Der mattgrüne Apothekerschrank aus der Goethe-Zeit steht im Werksmuseum auf einem Ehrenplatz, auch die Festschrift mit dem Verweis auf die Dichterfreundschaft stapelt sich dort neben dem Eingang. Fragen zu Mephisto & Co beantwortet Merck zurzeit allerdings zögerlich. Der Grund: Die älteste Pharmafirma der Welt steckt selbst mitten in einem ganz modernen Wissenschaftsthriller. Er spielt in gediegenen Schweizer Pharmalaboren sowie auf entlegenen Inseln der Karibik. Es geht um Profit, Patente und die Software des menschlichen Seins.
Je besser die Forscher die medizinischen Zusammenhänge verstehen, desto größer wird die Begier, dieses Wissen auch zu Geld zu machen. Das Patentrecht hilft dabei. Doch was bedeutet das für Patienten? Müssen sie fürchten, dass ein paar mächtige Pharmakonzerne der Konkurrenz verbieten, neue Pillen gegen Krebs und andere Plagen der Menschheit zu erfinden? Werden Eltern für künstlich gezeugte Kinder künftig lebenslang Lizenzgebühren zahlen müssen?
Der Weg dahin ist bereits beschritten. Und Merck ist vorne mit dabei.
So Faust-gleich sich die Forscher in Darmstadt auch bemühten in der Medizin, Chemie und Biologie – über ein Jahrzehnt lang haben sie keine eigenen Pillen erfunden. Bei Merck regierte das Mittelmaß. Entsprechend enthusiastisch wurde 2006 der Kauf der Genfer Firma Serono gefeiert. »Eine Hochzeit im Himmel«, schwärmte Pharmachef Elmar Schnee. Inzwischen jedoch droht aus der Verbindung Höllenärger zu erwachsen: Als Marktführer in der Fruchtbarkeitstherapie hielten sich die Schweizer offenbar für so omnipotent, dass sie zusammen mit ihren Wirkstoffen auch menschliche Eizellen, Spermien und sogar Embryos patentiert haben wollten.
Für Theologen ist das Blasphemie, Bioethiker fürchten die Monopolisierung menschlichen Lebens – weshalb der Gesetzgeber strenge Verbote aufstellte. Die europäische Biopatent-Richtlinie von 1998 schließt geistiges Eigentum am menschlichen Körper in allen Entwicklungsphasen – inklusive der Keimzellen – ausdrücklich aus. Was Unternehmen aber nicht hindert, solche Patente einzureichen.
Pharmakritiker Christoph Then warnt davor, dass ein kürzlich erteiltes Patent auf ein neues Medikament von Merck Serono dem Unternehmen mittelbar Rechte auf die behandelten Eizellen einräumt. »Kein Unternehmen soll aus einer Fruchtbarkeitstherapie Verwertungsansprüche auf menschliches Leben ableiten können«, kritisiert der Mediziner. Wochenlang hat er zusammen mit einer Kollegin die Akten des Europäischen Patentamts studiert. In dieser Woche will Then Einspruch einlegen.
Es wäre nicht das erste Mal, dass er die Genfer Forscher ärgert. Bevor Then jüngst das Institut Testbiotech (Verbandszweck: »Technikfolgenabschätzung«) gründete, arbeitete der Bayer fast zehn Jahre lang als Gentechnikexperte bei Greenpeace in Hamburg. Auch damals hatte er schon mit Serono zu tun – allerdings ohne es zu wissen.
So schlug Then erstmals im Jahr 2004 Alarm wegen eines Patents auf ein Medikament, das männliche Spermien mobiler und damit fortpflanzungsfähiger machen sollte. Er bemängelte, dass sich die Schutzrechte nicht nur auf den Wirkstoff, sondern auch auf die behandelten Samenzellen bezogen. Nur wenige Medien griffen den Fall damals auf. Thema zu komplex, Firma zu unbekannt: Applied Research Systems mit Sitz auf den entfernten Antillen – das war niemandem einen Aufreger wert.
Auch Then selbst hatte die Sache wohl zwischenzeitlich vergessen. Erst nachdem er in den Antragsunterlagen für das Merck-Serono-Patent erneut auf die Holding aus dem Steuerparadies stieß, begann er die Akten im Euro-Patentamt systematisch zu durchforsten. Er staunte nicht schlecht. Erstens ist Applied Research Systems eine Tochtergesellschaft von Serono und damit von Merck. Und zweitens hat der Tabubruch System. Insgesamt stieß Then auf Dutzende von Ansprüchen, die sich auf menschliche Keimzellen oder sogar Embryos erstrecken. »Ich habe selten ein Unternehmen erlebt, das patentmäßig so an die Grenzen geht – und darüber hinaus«, sagt Then.
Die meisten dieser Ansprüche schmetterte das Patentamt ab. Einiges ließen die Prüfer aber offenbar durchrutschen, was vielleicht daran liegen mag, dass man bei Serono findige Patentanwälte beschäftigte, die geschickt formulierten und die Objekte der Begierde sicherheitshalber gleich in mehrere Ansprüche einbauten.
So bestand das aktuell umstrittene Patent EP1794287 im Antrag insgesamt aus zehn Einzelansprüchen. Davon strichen die Prüfer unter anderem den, der direkt auf die Eizelle zielt, ließen dafür aber Nummer eins und acht stehen, in denen es scheinbar nur um die Reifung derselben geht (»Verfahren zur in-vitro-Fertilisation umfassend das Herstellen einer reifen Oozyte«). Weil Herstellungspatente – im Gegensatz zu Arbeitspatenten – aber auch die Früchte des Verfahrens schützen, erhalte Merck schließlich doch das Patent aufs Ei, moniert Then.
Bei Merck tut man sich schwer mit dem Thema. Auf eine Anfrage im vergangenen November hin mag zunächst niemand die Sache kommentieren. Danach dauert es fast drei Monate, bis sich ein Termin für einen Besuch bei der Schweizer Arzneitochter findet.
In Genf, wo Stararchitekt Helmut Jahn dem Unternehmen einen architekturpreisgekrönten Glasbau hinstellte, sitzt Pharmachef Elmar Schnee in seinem Büro – und mauert. Steuerlich, gibt er zu, sei Serono mit der Offshore-Holding »hart am Wind gefahren«, weswegen Merck darauf bestanden habe, das Konstrukt abzuschaffen. Patentrechtlich aber sei man sich keiner Schuld bewusst. »Wir stehen auf dem Standpunkt, wir haben kein Patent auf die Eizelle, sondern nur auf die Applikation«, sagt Schnee. Er lächelt freundlich und blickt geradeaus, vorbei an dem Bord, auf dem die Bilder seiner beiden Kinder stehen.
Siobhán Yeats sieht das anders, allerdings nur ein wenig: Man könne im Fall der Eizelle durchaus von einem »mittelbaren« Patent reden, meint die Direktorin, die beim Europäischen Patentamt für Biotechnologie zuständig ist. Das komme vor, die Unternehmen wollten das. Solange das Merck-Verfahren moralisch in Ordnung sei und die In-vitro-Fertilisation verbessere, finde sie das »ethisch akzeptabel«, wiegelt sie ab. Wenn es zu einem Einspruch käme, werde das Amt den aber selbstverständlich prüfen.
Man fürchtet Then – in der Industrie, unter Forschern und auch beim Europäischen Patentamt in München. Die Pförtner in dem wuchtigen Gebäude direkt gegenüber dem Deutschen Museum scherzen zwar mit ihm, wenn er kommt. Sie fragen, was er heute wieder vorhat. Und dann zeigen sie augenzwinkernd auf die Wand, wo sie früher sein Foto aufgehängt hatten – um ihn rechtzeitig zu erkennen, wenn er mit seinen Aktivisten anrückte.
»Das behindert die Forschung mehr, als ihr zu nützen«
Vor zehn Jahren kam er mit Greenpeace-Kollegen einmal mit einem Bierlaster voller Steine angefahren. Sie vermauerten die Zufahrt zum Amt, um gegen ein Patent der Universität Edinburgh zu protestieren. Diese hatte sich verbotenerweise genmanipulierte menschliche Embryonen schützen lassen. Noch während die Protestler mit den Steinen hantierten, kam einer aus dem Amt herunter und gestand den Fehler ein. Dann ging das Ganze seinen juristischen Gang – das Patent wurde widerrufen.
Vor sechs Jahren verbarrikadierten Then und seine Mannen dann den Haupteingang. Nachdem sich ein Unternehmen namens Vitrolife ein Verfahren zum Einfrieren befruchteter Eizellen nebst den Eizellen selbst hatte schützen lassen, stapelten die Aktivisten dort demonstrativ Eisblöcke mit tiefgekühlten Babypuppen. Wieder folgte ein langer Schriftwechsel; und dann die Korrektur.
Jetzt also steht Merck am Pranger, was wie eine Ironie der Geschichte anmutet. Seit dem Faust – und auch davor – beschäftigten sich zahllose Dramen, Romane und Filme mit Kunstkreaturen wie dem Homunculus. Diese Science-Fiction-Fantasien erhielten mit der Entschlüsselung des Genoms Anfang des neuen Jahrtausends neue Nahrung. Gleich mehrere Forscher kündigten kurz darauf einen Menschenklon an: der italienische Fruchtbarkeitsdoktor Severino Antinori ebenso wie die kanadische Sektenfirma Clonaid und der koreanische Stammzellforscher Hwang Woo-Suk. Doch alle drei selbst ernannten Menschenzüchter wurden als Aufschneider entlarvt. Und selbst eine mit allen Patenten der Welt bewaffnete Pharmafirma könnte auf die Schnelle wohl kaum erfolgreicher sein.
Wieso also reichen Firmen solche Patente ein? »Im schlimmsten Falle kann man mit solchen Patenten die weitere Erforschung und Verbesserung einer Technologie verhindern«, sagt Ingrid Schneider. Sie ist Bioethikerin und Politologin an der Universität Hamburg. Einerseits, so erklärt sie, seien Patente notwendig, um Innovation zu stimulieren. Kein Unternehmen investiere in teure Forschung, wenn es sein geistiges Eigentum später nicht schützen könne. Andererseits entwickle sich aber immer mehr die Tendenz, rund um Erfindungen Patente zu »Patentdickichten« aufzuhäufen, kritisiert Schneider: »Und das behindert die Forschung mehr, als ihr zu nützen.« Auch Jens Reich warnt vor zu vielen Patenten. »So werden potenzielle Innovatoren ferngehalten«, fürchtet der Biologe, Bürgerrechtler und Mitglied des Deutschen Ethikrates.
Besonders scheint diese Unart in der Pharmaindustrie zu grassieren: Waren es früher vor allem Tüftler aus der Autoindustrie und dem Maschinenbau, die sich Erfindungen sichern ließen, wurde die Gesundheitsbranche inzwischen Hauptnutzer des Patentsystems. Seit dem Jahr 1999 hat sich die Zahl der Anmeldungen aus diesem Bereich laut Europäischem Patentamt fast verdoppelt.
Und haben die Patienten von dieser Entwicklung profitiert? Nicht wirklich. Erstaunlicherweise kamen in jüngster Zeit nicht mehr, sondern eher weniger neue Arzneien in die Apotheken als früher: Die Patentflut ging mit einer Pillenflaute einher. Eine Paradoxie, die auf eine wachsende Zahl taktischer Patente hindeutet – und auf eine beginnende Innovationssklerose. Den Konzernen fällt kaum noch Neues ein. »Wir müssen darauf achten, dass wir nicht Instrumente schaffen, mit denen der Wettbewerb eingeschränkt werden kann«, urteilt auch Innovationsforscher Dietmar Harhoff von der Ludwig-Maximilians-Universität in München. »Das beste Instrument dagegen ist eine intensive Prüfung anhand strenger Maßstäbe.«
Profiteure des Systems sind Konzerne, solche, die sich ein Heer hauseigener Patentanwälte leisten können. Schwer haben es dagegen die Kleinen der Branche. Schwarz Pharma ist so ein Fall. Oder vielleicht sollte man besser sagen: war so ein Fall, denn seit gut drei Jahren ist der vor den Toren Düsseldorfs gelegene Betrieb Teil des belgischen Arzneiherstellers UCB. Als Patrick Schwarz-Schütte damals sichtlich emotional berührt den Verkauf des Familienunternehmens verkündete, sagte er wenig zu den Gründen.
Fragt man ihn heute, erzählt der früh ergraute Mann, dass ein Patentstreit den Ausschlag gab. Drei Produkte habe das Unternehmen gehabt. Bis eines Tages Post von Pfizer kam, dem größten Pharmaunternehmen der Welt. In dem Brief stand, dass eine der Arzneien ein Patent von Pfizer verletze. »Man hätte versuchen können, das zu invalidieren«, sagt Schwarz-Schütte, »aber gegen Pfizer mit seinen Riesenressourcen?« Der Konzern bot einen Vergleich an, zähneknirschend habe er zugestimmt.
Die Firma bekam daraufhin viel Geld, war aber alle Rechte an ihrer Inkontinenz-Arznei los. Pharmaunternehmer Schwarz-Schütte hatte eine Lektion gelernt: Ebenso wichtig wie das medizinische Wissen ist es, alle Winkelzüge des Patentrechts zu beherrschen. »Da wusste ich, wir müssen verkaufen.« Schwarz war kein großes Unternehmen: 4400 Mitarbeiter, darunter aber durchaus Juristen. Man fragt sich, wie es in ähnlicher Situation einem Biotech-Betrieb ergeht, einem Start-up, das aus ein paar Dutzend Forschern besteht?
»Die wenigen neuen Substanzen fielen allesamt beim klinischen Test durch«
Vor zwanzig Jahren, zu Beginn der Biotech-Ära wurde genau dieses Thema diskutiert, weshalb es auch Jahre dauerte, bis die EU eine Biopatent-Richtlinie verabschiedet hatte. Kritische Geister warnten damals davor, private Schutzrechte schon an der DNA – also am Quellcode der Schöpfung – ansetzen zu lassen. Sie forderten: »Kein Patent auf Leben«. Die Pharmaindustrie dagegen strebte nach umfangreichem geistigen Eigentum. Die Arzneiriesen wollten Stoffpatente fürs Genom, so wie vorher für ihre chemischen Substanzen. Es folgte eine gewaltige Lobbykampagne.
Die Kommission war schnell überzeugt. Und das Euro-Patentamt verteilte sowieso schon fleißig Biopatente. Erst als das Parlament in Straßburg aufbegehrte und erstmals in der Geschichte einem Brüsseler Gesetzeswerk die Unterstützung verweigerte, gingen die Eurokraten überhaupt auf die Bedenken der Kritiker ein. Schließlich schlossen sie Embryonen und Keimzellen von der Patentierung aus. Das besänftigte zumindest die Kirchen, die beim Thema Fruchtbarkeit empfindlich sind. Ansonsten unternahm Brüssel nichts gegen den Allmachtsanspruch der Arzneikonzerne.
So kam es zum Wettlauf um die DNA. Gewinner waren die, die sich gleich zu Anfang Patente auf die Gene sicherten, die für weitverbreitete Krankheiten wie Krebs oder Diabetes verantwortlich sind. Verlierer sind dagegen diejenigen, die seither an entsprechenden Arzneien forschen. Selbst wenn sie an völlig neuen Wirkmechanismen arbeiten, müssen sie der etablierten Konkurrenz Lizenzen zahlen. Und wenn Dermatologen feststellen, dass Hautwarzen durch ein Gen ausgelöst werden, das man einst als Krebsverursacher patentierte, dürfen auch sie ihr Medikamente nur mit Erlaubnis der Patentbesitzer auf den Markt bringen.
In den USA versucht man dem inzwischen Einhalt zu gebieten. Vergangene Woche annullierte ein New Yorker Gericht Patente des Diagnostikakonzerns Myriad Genetics, der sich die Rechte auf zwei Brustkrebsgene gesichert hatte und seine Tests nun als Monopolist anbot. Geklagt hatten Patienten, die sich durch den mangelnden Wettbewerb beeinträchtigt sahen. Möglicherweise gibt es für die Gerichte bald noch mehr zu tun, denn ein Fünftel des menschlichen Genoms ist verteilt. Natürlich würde kein Unternehmen freiwillig zugeben, dass es sich bei irgendeinem seiner Schutzrechte um ein taktisches Patent handelt – formuliert einzig, um die Konkurrenz vom Forschungsgegenstand fernzuhalten. Merck macht da keine Ausnahme: So gibt sich der Pharmachef im Interview demonstrativ als Freund des Wettbewerbs. »Ich bin der Meinung, es müssen immer mehrere Firmen an einem Ziel forschen – damit am Ende ein oder zwei davon erfolgreich sind«, sagt Schnee. Und sollte jemand zu der Auffassung gelangen, dass sein Unternehmen doch ein exklusives Recht auf die Eizelle erlangt habe, dann bekämen andere Firmen selbstverständlich die freie Lizenz, daran zu forschen, verspricht er. »Wir verteidigen dieses nicht«, sagt er. »Ich stehe zu dem Gesetz.«
Wenn das so ist, hat Schnee durchaus Gelegenheit, guten Willen zu zeigen: Inzwischen hat Patentwächter Then nämlich einen weiteren Antrag von Merck Serono zutage gefördert: EP1697504. Wieder geht es um eine Fertilitätstherapie, und wieder sind gleich mehrere Ansprüche auf das Ei gerichtet. Und weil das Patent noch nicht bewilligt ist, könne Merck es durch ein paar Streichungen entschärfen, sagt Then.
Der Pharmachef selbst will dazu nichts mehr sagen. Auch zum alten Spermapatent bleibt Schnee Antworten schuldig. Er werde sich erkundigen, wehrt er schon beim Gespräch in Genf ab. Später melden sich noch einmal seine Kommunikatoren mit der Botschaft, das Unternehmen habe in diesem und einem ähnlichen Fall inzwischen auf Schutzrechte verzichtet – an den Spermien wie auch an der Therapie selbst.
Schwer zu glauben, dass dies »aus ethischen Gründen« geschah, wie Sprecher Gangolf Schrimpf nahelegt. Die ökonomischen Gründe liegen näher: Denn Fortschritte in der Therapie bleiben seit Langem aus – ganz besonders bei der Behandlung von Männern. »Die wenigen Substanzen, die die Industrie in den vergangenen Jahren erforschte, fielen allesamt beim klinischen Test durch«, klagt Sabine Kliesch, Andrologin an der Uniklinik Münster. Bei der Behandlung von Frauen sieht es nur wenig besser aus. Die wichtigste Innovation war Anfang der neunziger Jahre die Einführung der rekombinanten Gonadotropine anstelle von Hormonen auf Urinbasis. Es folgte ein Patentstreit, den Serono gewann – ein Konkurrent zahlt seitdem Lizenzen, ein anderer verzichtet auf die Neuerung. Und selbst Marktführer Serono sucht vergeblich nach neuen Bestsellern. Er hat Steuern optimiert, die Konkurrenz kujoniert, aber in der Forschung letztlich nicht reüssiert.
Was bleibt, ist eine Firmenstrategie, die den Schutz weiter schwächt, den die Ursprünge menschlichen Lebens heute genießen. Dem Darmstädter Unternehmen Merck ergeht es derweil wie einst dem Faust, der sich mit den Mächten der Finsternis verband, um Glück und Erkenntnis zu gewinnen, und tragisch endete. Merck erbt nun die Debatte um ethische Grenzüberschreitungen, die dem Ruf des Unternehmens schadet. Der alte Merck fand übrigens vor mehr als 200 Jahren, sein Freund Goethe habe das Drama »mit der größten Treue der Natur abgestohlen«.
Labels:
Bildung/Education,
Deutsch,
Schweiz,
Science,
world
Abonnieren
Posts (Atom)