Tages Anzeiger Online
Plastik: Das verkannte Problem
Von Barbara Reye. Aktualisiert am 31.03.2010
Weltweit sammelt sich immer mehr Kunststoffmüll an. Auf den Meeren bedroht er seltene Tierarten. Und über die Nahrungskette landet das Plastik am Ende auch im Menschen.
Da sind sie wieder. Die Müllsammler in ihren knallgelben T-Shirts. Wie jedes Jahr säubern Studenten und Freiwillige den Strand der kleinen Insel Tsushima zwischen Korea und Japan von Plastikmüll. Alles angeschwemmtes Material. Ein buntes Sammelsurium aus Kanistern, Fischernetzen, Plastikflaschen, Badelatschen, Fussbällen, Bechern, Rohren und Kunststofffolien. Nach zwei Tagen sind 120 Lastwagen mit dem Unrat gefüllt. Und in die abgelegene Bucht kehrt umgehend die Idylle zurück.
Auch der österreichische Regisseur Werner Boote hat kräftig mit angepackt - und hat die Szene für seinen Dokumentarfilm «Plastic Planet»* festgehalten. Gereinigt worden sei aber nur eine kleine Bucht einer kleinen japanischen Insel, betont der Filmemacher etwas frustriert. Japan habe aber insgesamt mehr als 6800 Inseln. Zudem sei die Bucht in kurzer Zeit erneut mit Abfällen von Schiffen aus der Nähe übersät gewesen.
Chemischer Alleskönner
Plastik umgibt uns ständig und fast überall. Egal ob für simple Konsumgüter oder als Hightech-Material für Computerchips. Man kann es in allen Farben, Formen und Festigkeiten haben. Kunststoffe sind aufgrund ihrer....
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Plastik: Das verkannte Problem
Von Barbara Reye. Aktualisiert am 31.03.2010
Weltweit sammelt sich immer mehr Kunststoffmüll an. Auf den Meeren bedroht er seltene Tierarten. Und über die Nahrungskette landet das Plastik am Ende auch im Menschen.
Da sind sie wieder. Die Müllsammler in ihren knallgelben T-Shirts. Wie jedes Jahr säubern Studenten und Freiwillige den Strand der kleinen Insel Tsushima zwischen Korea und Japan von Plastikmüll. Alles angeschwemmtes Material. Ein buntes Sammelsurium aus Kanistern, Fischernetzen, Plastikflaschen, Badelatschen, Fussbällen, Bechern, Rohren und Kunststofffolien. Nach zwei Tagen sind 120 Lastwagen mit dem Unrat gefüllt. Und in die abgelegene Bucht kehrt umgehend die Idylle zurück.
Auch der österreichische Regisseur Werner Boote hat kräftig mit angepackt - und hat die Szene für seinen Dokumentarfilm «Plastic Planet»* festgehalten. Gereinigt worden sei aber nur eine kleine Bucht einer kleinen japanischen Insel, betont der Filmemacher etwas frustriert. Japan habe aber insgesamt mehr als 6800 Inseln. Zudem sei die Bucht in kurzer Zeit erneut mit Abfällen von Schiffen aus der Nähe übersät gewesen.
Chemischer Alleskönner
Plastik umgibt uns ständig und fast überall. Egal ob für simple Konsumgüter oder als Hightech-Material für Computerchips. Man kann es in allen Farben, Formen und Festigkeiten haben. Kunststoffe sind aufgrund ihrer unterschiedlichen chemischen Zusammensetzung äusserst vielseitig - aus ihnen bestehen hauchdünne Nylon-Strumpfhosen, klangvolle Schallplatten, robuste Abflussrohre und auch fälschungssichere Banknoten.
Die Krux ist, dass seit Jahrzehnten die Menge an Kunststoffmüll in bedrohlichem Tempo wächst. Weltweit würden momentan allein in einem Jahr rund 280 Millionen Tonnen Kunststoff produziert, erklärt der Materialwissenschaftler Ulrich Suter, ehemaliger Vizepräsident Forschung an der ETH Zürich. Gegenüber 1950 habe diese Menge um das Hundertvierzigfache zugenommen. Deshalb sei es wichtig, in Zukunft noch mehr auf umweltschonende, recycelbare Produkte, etwa aus Polyethylenterephthalat (PET), zu setzen.
Schildkröten verfangen sich
Je nach Beschaffenheit, Ausgangsmaterial und Umweltbedingungen können Kunststoffe sehr langlebig sein und zersetzen sich oft erst nach Jahrhunderten vollständig. Aus diesem Grund wird Plastik an Land wiederverwertet, vergraben oder verbrannt. Doch im Meer dümpelt es mit den Wellen vor sich hin. Schmeisst die Schiffsbesatzung ihren Plastikabfall über Bord, schwimmt er im Wasser und bedroht die Tierwelt.
Nach den Angaben des Umweltprogramms der Vereinten Nationen (Unep) verfangen sich darin regelmässig sechs Arten von Meeresschildkröten, 51 Arten von Seevögeln und 32 Arten von Meeressäugern, darunter auch Delfine oder Schweinswale. Zum einen können sich die Meeresbewohner in den verlorenen Netzen, Angelleinen, Tauen oder weggeworfenem Kunststoffmaterial wie etwa Plastikbeuteln verheddern, sodass sie sich nicht mehr fortbewegen können und letztlich sterben. Zum anderen fressen sie aber auch das Plastik, wodurch sie dann ersticken oder irgendwann verhungern.
Unverdauliche Kost
Zum Beispiel fressen Meeresschildkröten oft durchsichtige Plastiksäcke, weil sie diese für Quallen halten, die zu ihren Hauptnahrungsquellen gehören. Betroffen ist auch der Eissturmvogel, der die Gewohnheit hat, an Sepiaschalen, also am Innenskelett der Tintenfische, zu picken. Auf diese Weise nimmt der Vogel Kalziumkarbonat auf, das er unter anderem für die Eischalenbildung benötigt. «Statt auf Sepiaschalen hackt er aber oft auf unverdaulichem Plastik herum», sagt Ulrich Claussen vom Fachgebiet Meeresschutz beim deutschen Umweltbundesamt in Dessau-Rosslau. Dies sei fatal, weil der in der Nordsee und im Nordatlantik weit verbreitete Hochseevogel durch die Aufnahme der Plastikteilchen ein Sättigungsgefühl verspüre und nicht mehr genug fresse. Anderseits verschluckt der Eissturmvogel aber auch Bruchstücke von Zahnbürsten, Feuerzeugen oder Schraubdeckeln, wie eine Studie der Universität Kiel ergab.
Die Forscher hatten zusammen mit Kollegen in den Niederlanden 304 verendete Eissturmvögel seziert und fast bei allen der untersuchten Tiere Plastikteile in ihren Mägen gefunden. Häufigste Todesursache war ein Darmverschluss.
In die Nahrungskette
Unter der Einwirkung von Sonne, Gezeiten, Wind und Wellen werden die ins Meer geworfenen Dinge aus Kunststoff immer kleiner und kleiner. «Solche winzigen Partikel sind weiterhin eine Gefahr für die Umwelt, weil sie aufgrund ihrer Grösse Schadstoffe gut anlagern können», sagt Experte Claussen. «Werden sie von kleinen Organismen gefressen, kommen die kontaminierten Teilchen in die Nahrungskette und somit auch in grössere Tiere wie beispielsweise Fische.» Die Partikel können auf diese Weise auch in den Menschen gelangen.
Besonders hoch ist die Dichte an Plastikmüll dort, wo Meeresströmungen starke Wirbel im Ozean verursachen und den Abfall ähnlich einem Badewannenabfluss im Kreis rotieren lassen. Im Zeitraum von mehreren Jahrzehnten hat sich etwa im Nordpazifik ein solches Karussell aus Abfällen gebildet. Es zirkuliert mehr als 500 Seemeilen vor der Westküste der USA und ist mittlerweile doppelt so gross wie der US-Bundesstaat Texas.
Schwimmendes Wohnzimmer
Vor ein paar Wochen gab die Organisation Sea Education Association (SEA) bei einem Treffen von Meeresforschern in Portland in den USA bekannt, dass sie im Atlantik, nördlich der karibischen Inseln, eine weitere riesige Müllhalde gefunden habe. Dort würden bis zu 200 000 Plastikstücke pro Quadratkilometer auf dem Wasser treiben.
«Es ist erschreckend, was alles an Abfall im Meer landet», sagt Lars Gutow vom Alfred-Wegener-Institut in Bremerhaven, der während seiner Forschungsarbeiten im Mittelmeer schon auf halbe Wohnzimmereinrichtungen wie etwa Sofas gestossen ist. Normalerweise hole er aber vor allem Joghurtbecher, Plastikbehälter und kaputte Fischernetze aus dem Wasser.
In andere Meere driften
Eigentlich sucht der Meeresbiologe nach Insekten, Austern, Asseln oder Krustentieren, die auf Treibgut aller Art leben. Das heisst auf Holz und Algen, zunehmend aber auch auf Plastikmüll. Dabei hat er festgestellt, dass sich eine bestimmte Art von Asseln, die sogenannte Idotea metallica, bereits auf Kunststoffabfälle spezialisiert hat. Der kleine, metallisch schimmernde Krebs sei geradezu ein Plastik-Junkie, weil er fast überall auf dem Abfall hocke, den er als Transportvehikel nutze.
Obwohl diese bis zu zwei Zentimeter lange Assel ursprünglich in warmen Gewässern wie dem Mittelmeer beheimatet ist, kommt sie nun verstärkt auch in der Nordsee vor, die in den vergangenen Jahrzehnten wärmer geworden ist. Zum Glück verdränge sie aber die heimischen Asseln nicht, sagt Lars Gutow. Allerdings wisse man noch nicht, ob dies auch in anderen Regionen so sei. Immerhin könne man mit dem besonders haltbaren Material, quasi wie mit einem Taxi, durch Winde und Strömungen im Meer leider auch in ganz neue Gewässer driften.
Durchbruch gelang 1907
Der Dokumentarfilm «Plastic Planet» zeigt mögliche Umweltrisiken durch das billige, aus Erdöl und Erdgas chemisch hergestellte Material und macht deutlich, wie verschwenderisch die heutige Gesellschaft damit umgeht. Wie Familien rund um den Globus immer mehr Habseligkeiten aus Kunststoff in ihren Häusern horten, ohne es überhaupt gross zu bemerken.
Doch das war nicht immer so. Einst war die Erde frei von solchen aus grosstechnischen Abfallprodukten hergestellten Konsumgütern. Der Durchbruch ins Plastikzeitalter gelang dann dem belgischen Chemiker Leo Baekeland. Er stellte 1907 den ersten vollkommen synthetisch erzeugten Kunststoff her. Der ursprünglich aus einer einfachen Schuhmacherfamilie stammende Forscher läutete mit seinem hitzebeständigen, bruchfesten und chemisch stabilen Stoff Bakelit eine völlig neue Ära ein.
Für Regisseur Boote, dessen Grossvater einst selbst Geschäftsführer einer Kunststoff produzierenden Firma war und der viele schöne Geschenke aus Plastik bekam, ist klar, dass wir nach der Steinzeit, der Bronze- und Eisenzeit heute in der Plastikzeit leben. Und dass wir somit alle Kinder des Plastikzeitalters seien.
* Der Film «Plastic Planet» von Werner Boote kommt morgen in die Kinos. (Tages-Anzeiger)
Erstellt: 31.03.2010, 06:57 Uhr
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