Montag, April 12, 2010

Bekenntnisse eines Pendlers

Tages Anzeiger Magazin Online
10.04.2010 von Martin Beglinger und Finn Canonica
Bekenntnisse eines Pendlers

Das Land steht unter Hochdruck, die Regierung unter Dauerkritik: Was sagt der amtsälteste Bundesrat dazu? An- und Einsichten von Moritz Leuenberger — samt einem brisanten Angebot zur Departementsreform

«Ich habe keine Schweinegrippe», sagt Moritz Leuenberger zur Begrüssung und versucht zu lächeln. Seine grauen Augen sind ziemlich rot und glasig an diesem letzten Samstag im Februar. Trotzdem steht er pünktlich an der vereinbarten Ecke, ein paar Meter von seinem Haus am Zürichberg entfernt. Hätten wir ihn nicht erwartet, man hätte ihn ohne weiteres übersehen können. Seine tief in die Stirn gezogene karierte Schirmmütze funktioniert als Tarnung perfekt.

Wir fahren mit dem Tram Richtung Zoo, biegen dann zu Fuss in den Wald ab, doch bevor wir über die Befindlichkeit des Landes zu reden beginnen, will er erst mal seine eigene Rolle klären. Oder besser: seine Rollen. Es war der von ihm hoch geschätzte Peter von Matt, der Leuenberger einmal als «Pendler» bezeichnet hat, als Pendler zwischen Innen- und Aussensicht, zwischen Politiker und Privatmann. Ein Bild, das ihm gefällt. Es gab Momente, da deckten sich diese Perspektiven, vor allem in seinem Jahr als Bundespräsident, 2001, als er von 9/11 bis zum Amoklauf in Zug eine Katastrophe nach der andern kommentieren musste. Da war hundert Prozent Identifikation mit Land und Funktion — «auch an Schwingfesten», wie er sagt. Doch normalerweise ist der Privatmann Leuenberger distanzierter gegenüber seiner Rolle als Bundesrat als vielleicht ein Kurt Furgler oder Willi Ritschard.

Für unseren Waldspaziergang ist er gewandet wie im Büro: Unter seinem dunkelgrauen Mantel trägt er einen dunkelblauen Anzug, ein hellblaues Hemd und eine dunkelblaue Krawatte. Lauter edle Stoffe. An sich könnten der Wald und die hundert Kilometer Distanz zum Bundesratsbüro zu einer Aussensicht auf die Politik verführen. Doch schon nach fünfzig Schritten auf dem schneebedeckten Waldweg betont Leuenberger, es wäre «viel zu billig, wenn ich jetzt Kritik von aussen....


Tages Anzeiger Magazin Online
10.04.2010 von Martin Beglinger und Finn Canonica ,

«Ich habe keine Schweinegrippe», sagt Moritz Leuenberger zur Begrüssung und versucht zu lächeln. Seine grauen Augen sind ziemlich rot und glasig an diesem letzten Samstag im Februar. Trotzdem steht er pünktlich an der vereinbarten Ecke, ein paar Meter von seinem Haus am Zürichberg entfernt. Hätten wir ihn nicht erwartet, man hätte ihn ohne weiteres übersehen können. Seine tief in die Stirn gezogene karierte Schirmmütze funktioniert als Tarnung perfekt.

Wir fahren mit dem Tram Richtung Zoo, biegen dann zu Fuss in den Wald ab, doch bevor wir über die Befindlichkeit des Landes zu reden beginnen, will er erst mal seine eigene Rolle klären. Oder besser: seine Rollen. Es war der von ihm hoch geschätzte Peter von Matt, der Leuenberger einmal als «Pendler» bezeichnet hat, als Pendler zwischen Innen- und Aussensicht, zwischen Politiker und Privatmann. Ein Bild, das ihm gefällt. Es gab Momente, da deckten sich diese Perspektiven, vor allem in seinem Jahr als Bundespräsident, 2001, als er von 9/11 bis zum Amoklauf in Zug eine Katastrophe nach der andern kommentieren musste. Da war hundert Prozent Identifikation mit Land und Funktion — «auch an Schwingfesten», wie er sagt. Doch normalerweise ist der Privatmann Leuenberger distanzierter gegenüber seiner Rolle als Bundesrat als vielleicht ein Kurt Furgler oder Willi Ritschard.

Für unseren Waldspaziergang ist er gewandet wie im Büro: Unter seinem dunkelgrauen Mantel trägt er einen dunkelblauen Anzug, ein hellblaues Hemd und eine dunkelblaue Krawatte. Lauter edle Stoffe. An sich könnten der Wald und die hundert Kilometer Distanz zum Bundesratsbüro zu einer Aussensicht auf die Politik verführen. Doch schon nach fünfzig Schritten auf dem schneebedeckten Waldweg betont Leuenberger, es wäre «viel zu billig, wenn ich jetzt Kritik von aussen am Bundesrat üben würde, auch wenn ich sie privat vielleicht für berechtigt hielte. Ich bin mitverantwortlich für die Regierungspolitik der letzten fünfzehn Jahre. Auch wenn ich manche Beschlüsse bekämpft habe, muss ich trotzdem zu ihnen stehen. Das gehört zum Schwierigsten in diesem Amt.»

Was auffällt, wenn er über die Befindlichkeit der Schweiz spricht: dass er eher beschwichtigt. Ein öffentlicher Satz wie von Kollegin Calmy-Rey, wonach die Schweiz «in einer Art Schock» lebe, ist von ihm nicht zu hören. Schwierige Zeiten ja, aber keine Untergangsstimmung. Dass die Schweiz nur noch gedeckelt werde, ihren Ruf rundherum ruiniert habe — nein, das sieht er gar nicht so. Es mag auch daran liegen, dass er hauptsächlich mit Verkehrs- und nicht mit Finanzministern zu tun hat, und gerade im Verkehrsbereich stehe die Schweiz «international in sehr hohem Ansehen».

Auch der Begriff Identitätskrise ist ihm zu dramatisch. Leuenberger sieht das Land auf Identitätssuche, doch das seien wir im Grunde ohnehin alle und immer. Wohin der Weg der Schweiz für ihn führt, das hat er in den letzten drei Monaten wieder wesentlich deutlicher gesagt als in den vergangenen zehn Jahren: in die EU. Zu lange hätten sich die Politiker vor den negativen Umfragen gefürchtet, anstatt deren Werte zu ändern zu versuchen. «Man will einfach nicht wahrhaben, wie wenig autonom wir als Nicht-EU-Mitglied in Wirklichkeit geworden sind.» Das sehe er in jeder Bundesratssitzung, bei der ein weiterer Stapel von Gesetzen mehr oder weniger diskussionslos an EU-Recht angepasst und durchgewunken werde. «Es ist eine Illusion zu glauben, ausserhalb der EU hätten wir mehr Gestaltungsmöglichkeiten als innerhalb.»

Skandale und ihre Folgen

Allzu alarmistisch mag Leuenberger auch deshalb nicht klingen, weil er als Politiker schon zu viele Krisen erlebt hat. «Und immer dachten wir, die gerade aktuelle sei nun wirklich die grauenerregendste aller Zeiten.» Er erwähnt Schweizerhalle (Wer erinnert sich in Bern oder Zürich noch an diese Katastrophe?) und die Geldwäscherei: zwei Beispiele für Krisen, auf die man eine gute politische Antwort gefunden habe, nämlich fortschrittliche Umweltschutz- und Geldwäschereigesetze. «Ich glaube, dass eine politische Antwort bei der Finanzkrise möglich ist.»

Braucht es dafür eine PUK? Er sagt weder Ja noch Nein, sondern: «Es ist gut, wenn Klarheit geschaffen wird.» In seiner Rolle als Bundesrat antwortet er: «Die Einsetzung einer PUK ist eine Vorverurteilung, eine Skandalisierung.» Finde man aber keinen Skandal, dann habe die PUK im öffentlichen Urteil «versagt». Das war schon bei jener PUK so, die der damalige Nationalrat Moritz Leuenberger im Jahr 1989 selber präsidiert hatte. Im Fall Kopp, der zu untersuchen war, hatte er keinen Skandal zu bieten. Doch zu seinem Glück war die PUK auf 700 000 Fichen des Schweizer Staatsschutzes gestossen, «obwohl die an sich nichts mit unserem Auftrag zu tun hatten». Der Fichenskandal wurde zu Moritz Leuenbergers grossem Karrierebeschleuniger.

21 Jahre später nun also die Finanz- und Bankgeheimniskrise. Dass heute selbst in freisinnigen Kreisen salonfähig wird, was «noch vor kurzem als Landesverrat galt» und er als SP-Nationalrat schon in den frühen Achtzigerjahren via «Bankeninitiative» gefordert hatte, das nimmt Leuenberger mit leiser Genugtuung zur Kenntnis. Lauter wird er beim Vorwurf, die Regierung habe keine Strategie gegen diese Krise gehabt. «Das ist eine heuchlerische Kritik. Die Wirtschaft hat über ihre Lobbys energisch politischen Einfluss genommen. Die Haltung des Bundesrates zum Bankgeheimnis und zur Steuerpolitik waren politisch so gewollt.»

Darf er (fast) nichts sagen aus Gründen der Kollegialität, dann flüchtet sich Moritz Leuenberger gerne in die Ironie. Und ist darin wohl ziemlich einzigartig. Welches Land leistet sich schon einen Minister, der das reale Drama um das schweizerische Bankgeheimnis in ein Märchen formt? Moritz Leuenberger hat das Märchen von den «sieben Heinzelmännchen» und ihrem «Baumgeheimnis» geschrieben. Und mit hörbarem Vergnügen auch selber auf DRS 2 vorgelesen. (Gewidmet hat er es Peter Bichsel zum 75. Geburtstag.) «Ein bisschen Politklamauk» will er sich nicht nehmen lassen.

Ha, rufen sofort alle Spötter, der Verkehrs-, Energie-, Umwelt- und Kommunikationsminister hat auch noch Zeit zum Märchenschreiben! Ja, hat er, doch dafür brauche er zweimal zehn Minuten plus eine kurze Sitzungspause, wird aus seiner Entourage versichert. Seine Bücher und Reden, die ihm sehr wichtig (und auch preisgekrönt) sind: reine Sonntags- und Ferienarbeit.

Gleichwohl, dass die Ironie ein heikles Feld ist, er weiss es nur zu gut. «Mit meiner Ironie habe ich viel kaputt gemacht, insbesondere mit meiner Selbstironie», sagt Leuenberger auf dem Waldweg. «Ich dachte immer, wenigstens über mich selber dürfe ich mich lustig machen. Doch darauf sind die Leute ganz besonders allergisch. Sogar aus meiner nächsten Umgebung höre ich den Vorwurf, ich dürfe mich nicht immer wieder selber abemache.»

Am Tag unseres Treffens ist ein Foto von Leuenberger im «Tages-Anzeiger» zu finden, das ihn seltsam schräg in seinem Bürostuhl hängend zeigt. Leuenberger gibt den Leidenden; eine selbstironische Pose mehr, könnte man vermuten. Ist sie aber nicht. Das sei keine absichtliche Pose gewesen, sondern ein blöder Zufall, sagt er. «Ich hätte dieses Bild sicher nicht ausgewählt!» Ein paar Tage später heisst es prompt in einem Leserbrief: «Platz machen! Wenn sich ein Bundesrat so ablichten lässt wie Moritz Leuenberger im Gespräch mit dem Tages-Anzeiger zum Finanzloch bei den Bahnen, so gehört dieser endlich abgelöst. Jedem Jugendlichen würde man wegen dieser Pose eine Watsche hinter die Ohren geben.»

Jetzt gibts erst mal Grüntee für den Verkehrsminister. Wir sitzen mittlerweile im Hotel Zürichberg, Leuenberger hat gleich eine Portion bestellt und wärmt nun seine Hände an der gusseisernen Teekanne.

Im Verlauf der nächsten zwei Stunden betont er mehr als einmal, dass die Mehr- und Minderheiten im Bundesrat «total wechselnd sind». Selbst bei Fragen der Finanzplatzstrategie sei es längst nicht so einfach, wie es von aussen scheine. Man müsse eben immer das Ganze sehen, nicht bloss das einzelne Geschäft. Sein Beispiel: die CO2-Abgabe. Vor ein paar Jahren sei sie noch chancenlos gewesen, auch im Bundesrat, doch heute ist sie umgesetzt, und darauf ist er stolz. Wie auch auf die Herabsetzung der Promillegrenze auf 0,5. Oder das bilaterale Verkehrsabkommen mit der EU. «Ist das Freude an der Macht?», fragt er selber? «Ja! Es ist die Freude, politisch etwas zu bewirken. Ich habe immer wieder umstrittene Vorlagen im Bundesrat durchgebracht, ohne dies öffentlich auszukosten, denn damit hätte ich meine Kollegen brüskiert. Zur Exekutivpolitik gehört nun mal auch eine fast klandestine Taktik.»

Härter im Nehmen

Am Schluss der Taktik steht der Kompromiss — oder sollte es zumindest. Doch der sei «zunehmend zu einem Schimpfwort geworden». Gefragt sei vielmehr «Kompromisslosigkeit», wie sie jeder zweite Werbespot über Autos rühme. Auch viele Medien verlangten nach dem kompromisslosen Duell, nach Sieger und Verlierer. Das entspreche nicht der Allparteienregierung, sondern unterspüle die Konsenspolitik. Doch halt, schiebt er sogleich nach, er wolle hier nicht die Medien schelten und in Nostalgie abgleiten. Denn er hat nicht vergessen, dass auch er «als Parlamentarier alles gemacht hat, um in die Schlagzeilen zu kommen. Früher war nicht alles besser.»
Hat ihn die Politik härter gemacht? Zynisch? «Zynisch war ich nie. Die Mitgliedschaft im Bundesrat hat mich härter im Nehmen gemacht. Aber nicht im Denken.» Er ist jetzt 63 und sitzt — mit Ausnahme von Philipp Etter, der es auf unglaubliche 25 Amtsjahre brachte — länger in der Regierung als jeder andere Bundesrat der Nachkriegszeit. Die Konkordanz hat er längst vollkommen verinnerlicht: «Es ist doch pervers, wie sich im Ausland Mehr- und Minderheit gegenseitig abschlachten. Da hänge ich doch sehr an unserem System mit gemeinsamer Verantwortung.»

Leuenbergers 68er-Generation hielt grundsätzlich alles für politisch, auch das Private. «Verklären will ich das gewiss nicht», sagt er, doch ihn stört, dass seit dem Mauerfall von 1989 «das gesamte Denken ökonomisiert worden ist, in der Gesellschaft wie in der Politik.» 1989 hatte seine PUK noch den bürgerlichen Filz zwischen Wirtschaft, Politik und Armee kritisiert. Heute sei das Gegenteil der Fall: die totale Separierung. Einstmals «staatstragende» Parteien wie die FDP, die diese Ökonomisierung mitgemacht hätten, sieht er deshalb zu einem «politischen Dienstleistungsbetrieb der Wirtschaft» degradiert. Mit dem neuen Regierungskollegen Didier Burkhalter versteht er sich zwar bestens, doch die Steineggers in der heutigen FDP scheint er zu vermissen. Leuenberger kommt auf Kaspar Villiger zu reden, mit dem er acht Jahre in der Regierung sass und der neulich in seiner Rolle als UBS-Präsident sagte, Beamte seien nie klüger als der Markt. «Ich würde meinem früheren Bundesratskollegen nie unterstellen, dass er nicht für das Gemeinwohl sei. Aber ich finde die Vorstellung radikal falsch, diesem sei am besten gedient, wenn man den Markt einfach frei laufen lasse. Wirtschaft ist nicht gleich Gemeinwohl.» Jedes Blaukehlchen müsse er in Franken und Rappen bewerten, um eine Mehrheit von dessen Schutz zu überzeugen. Dass eine artenreiche Natur ganz einfach schön ist, das reiche als Argument schon lange nicht mehr. Es braucht einen Preis. Und der liegt beim Blaukehlchen offenbar bei 237 Franken und 16 Rappen, wie sich Leuenbergers Mitarbeiter Vincenzo Mascioli, der seinen Chef begleitet, an eine absurde Studie erinnert. Freilich, dass auf die «Mode» der Ökonomisierung wieder eine Repolitisierung folgen werde, das ist für Leuenberger sicher.

«Entschuldigung», unterbricht eine ältere Dame das Gespräch resolut, «sind Sie nicht der Schweizer Verkehrsminister?» «Ja, der bin ich», sagt Leuenberger, «kann ich etwas verbessern?» — «Wir brauchen eine gute Zufahrt für das geplante Konzert- und Kongresshaus in Konstanz.» — «Gut, dann mache ich das sofort. Aber Sie müssen wissen, ich bin jetzt in einem Interview.» — «Ich bin die deutsche Computerpionierin Ilse Müller-Anzberger, schreiben Sie das auf!»

Zurück zum Bundesrat. Dass man dem Gremium «Kakofonie» vorwirft, findet er verlogen — vor allem, wenn der Vorwurf von jenen Journalisten stamme, die jeden Sonntag nach Differenzen in der Regierung fahnden würden, um sie zunächst genüsslich auszubreiten und hinterher als Kakofonie zu kritisieren.

Trotzdem, Herr Leuenberger, die Dissonanzen sind doch offensichtlich, das ganze Land nimmt es so wahr. «Diese Regierung ist schliesslich dazu da, um auch schwere inhaltliche Differenzen intern auszufechten», sagt er dazu. Allerdings sei die Bereitschaft tatsächlich markant gesunken, Mehrheitsentscheide kollegial mitzutragen. Leuenberger erinnert an den Zürcher Regierungsrat Alfred Gilgen, den man einst «an den Galgen» wünschte, weil er einen Kulturpreis für Franz Hohler abgelehnt hatte. Dass es Gilgen selber war, der Hohler den Preis verleihen wollte, im Regierungsrat aber unterlag, das hat er nie öffentlich gemacht, sondern die unverdiente Brachialkritik stoisch hingenommen. Leuenberger selber hatte 1991, als frisch gewählter Zürcher Regierungsrat, dort eine «emanzipierte Kollegialität» einführen wollen, was hiesse, dass man die eigene Haltung zu einem Geschäft transparent machen dürfte und trotzdem loyal zu Mehrheitsentscheiden stünde. Seine Regierungskollegen lehnten dies damals ab, doch im Bundesrat von heute ist die «emanzipierte Kollegialität» längstens normal. Nicht nur die Medien sind an dieser Transparenz interessiert, auch die Parteien.

Und die Regierungsreform? Was sagt der amtsälteste Bundesrat dazu? Er seufzt erst mal. Hat in den letzten fünfzehn Jahren wohl zu viele Sitzungen, Arbeitsgruppen, Klausuren, Strategieberichte mit dem immergleichen Resultat erlebt: null. Auch er hat in dieser Runde wieder einen Vorschlag gemacht — ein vierjähriges Präsidium, wobei der Bundespräsident zugleich Aussenminister wäre und die längere Amtszeit zu besserem Networking nutzen könnte — obwohl er schon jetzt weiss, dass die Chancen dafür nahe bei null liegen. Ohnehin hält er die Endlosdiskussion über die Zahl von Bundesräten und Staatssekretären im Grunde für eine Flucht in Formalismen. Mit seinem mächtigen Generalsekretär Hans Werder hat Leuenberger einen faktischen Staatssekretär ohne Titel. «Ich glaube, dass wir mit den bestehenden Strukturen eine gute Politik betreiben könnten.» In der Politik sei es wie in den Vereinen: Ist man sich über Inhalte nicht einig, dann streitet man über die Statuten. Anstatt über die Ziele zu reden. Er sei, im Unterschied zu vielen Linken, nie der Meinung gewesen, Strukturen seien wichtiger als Personen. Das Amt präge nicht nur den Menschen, sondern der Mensch müsse vor allem das Amt prägen.

Heisst das nun: Weiter so wie bisher? Das nicht. Leuenberger sieht durchaus Veränderungsbedarf. Zum Beispiel bei der Neugliederung der Departemente. Klar, hier gehts um Macht. Und an deren Erhalt ist bislang noch jede Departementsreform gescheitert, die letzte 2006, damals am erbitterten Widerstand von Pascal Couchepin.
Jetzt will Leuenberger einen letzten Anlauf für einen grossen Umbau der Departemente nehmen. Es wäre ein Neustart nach den Gesamterneuerungswahlen von 2011. Sein eigenes Ressort, das Uvek, ist bislang das grösste von allen. Ein Monsterministerium. U(mwelt), V(erkehr) und E(nergie) möchte er behalten, also ein Nachhaltigkeitsdepartement, in dem er möglichst viel selber bestimmen kann und nicht auf Mehrheiten im Kollegium angewiesen ist. «Fast täglich treffe ich Entscheide zwischen Nutzen und Schützen, zwischen Wirtschaft und Umwelt, und dies in eigener Kompetenz tun zu können, ist natürlich sehr gut.» Soweit alles wie gehabt. Sehr neu ist hingegen der folgende Satz: «Ich könnte mir durchaus vorstellen, die Post und die Swisscom abzugeben» — also zwei Giganten mit insgesamt 65 000 Angestellten und einem Umsatz von mehr als 20 Milliarden Franken. Mehr will Leuenberger dazu nicht sagen, sicher aber ist schon jetzt: Der Vorschlag wird der Departementsreform massiven Schub verleihen. Und sicher ist auch: Ihn persönlich würde es nicht mehr treffen.

Der Grüntee ist leer getrunken, eigentlich hätte er noch Kaffee in der Stadt einkaufen wollen, doch dazu ist es jetzt zu spät. Nicht aber für einen Kinobesuch am Abend. Auf dem Programm steht Tom Fords «A Single Man». (Er wird ihn bei weitem nicht so toll wie Polanskis «Ghost Writer» finden.)

Vierzehn Tage später treffen wir uns ein zweites Mal, diesmal nicht mehr auf dem Zürichberg, sondern, auf seinen eigenen Wunsch, im Volkshaus, der bald hundertjährigen sozialdemokratischen Hochburg im Kreis 4. Neuerdings ist das Volkshaus ein hipper Szenetreff, dessen Gerant so ziemlich alles ausgemistet hat, was irgendwie an Gewerkschaften oder Selbstverwaltung erinnern könnte. Es liegt frischer Schnee Mitte März, Leuenberger ist wieder fit, und er scheint sich hier wohl zu fühlen. Ihm ist lieber, wenn man ihn mit dem Kreis 4 in Verbindung bringt, denn der Zürichberg riecht für ihn nach Fifa und Fiala, auch wenn seine SP hier unterdessen die wählerstärkste Partei ist mit 29 Prozent. An der Zürcher Langstrasse hatte er einst sein Anwaltsbüro («Häsch Lämpe mit der Schmier, gasch a d Langstrass vier», hiess es in den Achtzigerjahren). Noch heute lässt er sich seine Haare bei Giovanni schräg gegenüber schneiden.

Es sind zwar viele verstohlene Blicke, die ihm an unseren Tisch im Volkshaus folgen, doch angesprochen wird er hier nur einmal, von einem Passanten mit Kind und türkischem Akzent, der den Bundesrat von der Strasse aus entdeckt hat und nun eigens ins Restaurant kommt, um ihn persönlich mit Handschlag zu begrüssen. Das passiere ihm oft, sagt Leuenberger, auch mit ausländischen Taxifahrern, die im Übrigen hervorragend über die Schweiz Bescheid wüssten. Einer, ein Iraker, habe sich neulich bei ihm beklagt, wie die stolze demokratische Schweiz sich von diesem Ghadhafi vorführen lasse.

Das Gespräch im Volkshaus kommt auf den Begriff der Verantwortung. Leuenberger nimmt ihn sofort auf. «Er wird als Worthülse missbraucht, um horrende Managergehälter zu rechtfertigen.» Und in der Politik? Ist eine Konkordanzregierung mit sieben Gleichberechtigten nicht organisierte Verantwortungslosigkeit? Denn wenn alle gleich verantwortlich sind, ist es keiner. Darin sehe er eine gewisse Gefahr, sagt Leuenberger — aber nicht beim Bundesrat, sondern beim Parlament und bei den Kantonen, welche die Verantwortung gerne auf Bund und Regierung abschöben.
Eine Kritik hingegen akzeptiert er: den Hang zum Einzelkämpfertum in der Regierung. Man ist zu sehr Departementschef und zu wenig Bundesrat. Im Kampf ums eigene Gärtlein geht der Blick — die Verantwortung — fürs Ganze verloren. «Wäre ich Finanzminister, würde ich wahrscheinlich mit der gleichen Überzeugung für etwas anderes kämpfen als in der Rolle des Verkehrsministers», sagt Leuenberger. Will er mehr aufs Ganze schauen, muss er den anderen sechs mehr dreinreden. Also «Mitberichte» schreiben, wie das offiziell heisst. Das tue er derzeit deutlich mehr als auch schon. Mehr will er dazu nicht sagen, ausser dies: «Es gibt normalerweise ein gewisses gegenseitiges Grundvertrauen, dass alle Departemente wachsam abklären und gut vorausschauen. Und dann gibt es Zeiten, wo dieses Vertrauen aus personellen Gründen fehlt. Umso mehr gehört es zur Verantwortung, sich selber einzumischen.»
Aber noch einmal: Was heisst persönliche Verantwortung? «Für mich heisst es: Vor jedem Entscheid die Gegenfrage stellen, ob er richtig ist, und eine Antwort geben. Das führt zur systematischen Antwort an das Gewissen, zur Ver-Antwortung.» — Was immer das letztlich heissen mag, heisst es auch, dass jemand die Verantwortung übernehmen und zurücktreten muss, wenn er einen schweren Fehler begangen hat? «Jjjja…», sagt er dazu, aber jetzt wird ihm offenkundig unwohl. Zu schnell ist man damit für sein Empfinden bei der weltweiten Unkultur des «reflexartigen Rücktritts» gelandet. «Denn alle Schuld symbolisch auf sich nehmen und einfach abhauen, das halte ich auch wieder für verantwortungslos.»

«Nudelfertig» wegen Blocher

Dass ihn Christoph Blocher wegen des Flugzeugabsturzes von Überlingen indirekt zum Rücktritt aufgefordert habe, das stimme so nicht. Und selbst wenn er hätte: «Na und? Ein Rücktritt war ohnehin nicht die allgemeine Erwartung.» Nach diversen politisch verordneten Massnahmen sei «die Sicherheitskultur im Schweizer Flugbetrieb wieder gewährleistet». Das nenne er einen verantwortungsvollen Umgang.
Apropos Blocher: Ihr Verhältnis sei nie so schlecht gewesen, wie häufig kolportiert wurde, sagt Leuenberger. Gegen Ende der Amtszeit sei er «erstaunlich kompromissbereit» geworden, auch wenn er, Leuenberger, gelegentlich «nudelfertig» gewesen sei nach Sitzungen, in denen Blocher «selbst beim kleinsten Geschäft eine Volkstribunenrede gehalten» habe.

Was ihm fehlt, ist nicht Blocher, sondern eine «gute politische Fehlerkultur»; eine Kultur, in der man «Fehler, die jeder Politiker begeht, vernünftig diskutieren kann, ohne dass sie gleich holzhammermässig ausgeschlachtet werden. Es mangelt an der Bereitschaft zur redlichen Auseinandersetzung.» Am ehesten sei das vor kleinerem Publikum und vor allem ohne Medien möglich, also ohne Angst, dass einem jeder offen geäusserte Selbstzweifel gleich zu einem Strick gedreht werde. Wie fromm sein Wunsch im bundeshäuslichen Alltag ist, weiss er selber am besten, wenn ihm zwanzig Mikrofone entgegenschiessen und die Frage «Würden Sie Herrn Beglé nochmals wählen?». Es sind Momente, die er hasst. (Und in denen sich handkehrum viele Medienleute bestätigt sehen, die ihn schon lange für eine überempfindliche Diva halten.)

Auch wenn sich die Rücktrittsdiskussionen derzeit auf den Finanzminister konzentrieren, so sind auch regelmässig gallige Attacken auf Moritz Leuenberger zu hören. Nicht nur von Leserbriefschreibern, von der SVP gar nicht erst zu reden. Sondern zum Beispiel auch von Otto Stich, der neulich in der «Zeit» sagte: «Er war mein Nachfolger und dürfte jetzt langsam mal gehen. Ich habe ihm das auch schon gesagt. Aber er hört mir nicht zu. Er will halt zum dritten Mal Bundespräsident werden. Jä nu.» Gar nichts habe ihm Stich gesagt, ist Leuenbergers Antwort, kurz und spitz. Und Peter Bodenmann? Auch der stichelt seit Jahren gegen «den Moritz». «Bodenmann hat schon 1995 meine Wahl in den Bundesrat mit allen Mitteln bekämpft. Aber vielleicht war gerade dies meine grosse Chance, dass er und Andreas Gross damals so vehement gegen mich waren.»

In diesem Moment schaut er demonstrativ auf seine Uhr. Es folgt ein leicht gequälter Leuenberger-Blick zu seinem Mitarbeiter, dann einer Richtung Ausgang, das Klima am Tisch wird etwas frostig. Schliesslich sagt er: «Wollen wir jetzt eine Rücktrittsdiskussion führen? Dann stellen Sie Ihre klaren Forderungen!» Wir fordern gar nichts, wir möchten nur wissen, wie das alles bei ihm ankommt. «Hören Sie, ein Bundesrat ist immer umstritten, hoffentlich auch! Von allen geliebt zu werden, verträgt sich nicht mit Einflussnahme und Macht. Bei mir kommt noch die lange Amtszeit hinzu. Man findet, fünfzehn Jahre seien genug und hätte gerne mal eine Abwechslung. Das ist im Moment eine Modeströmung, doch da verlasse ich mich auf die formale Wahl.» Ohnehin höre er bei seinen Auftritten ganz andere Stimmen aus dem Publikum, nämlich Empörung über diese ewigen Rücktrittsforderungen. Und schliesslich: «Die Tatsache, dass ich dabei geblieben bin, zeigt, dass ich immer noch Freude daran habe.»

So, es ist gesagt! Die Stimmung hellt sich wieder etwas auf, und Leuenberger beisst ins beinharte Guetsli, das zum Kaffee serviert worden ist. Aber er bleibt dabei: In seinem fünfzehnten Amtsjahr will er sich alle Fragen verbeten haben, die für ihn nach Bilanz klingen. Können wir vergessen. «Ich befinde mich ganz und gar nicht in der Phase des abgerundeten Rückblicks.» Es gebe ja Leute, meint er wieder lächelnd zum Schluss, die bereits davor warnen, es könnte ihn noch eine unbefangene Altersradikalität zum Schaden der ganzen Schweiz befallen.

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