Freitag, April 09, 2010

Was tun, und wer ist schuld?

NZZ Online 8. April 2010
Was tun, und wer ist schuld?
Aufgeregte Ratlosigkeit – die russische Debatte um die Bombenanschläge in der

Ulrich M. Schmid ⋅ Die Anschläge vom 29. März auf die Moskauer Metro haben unter russischen Intellektuellen eine rege Diskussion ausgelöst. Das Spektrum der Meinungen ist breit und reicht von Ratlosigkeit zu Selbstpropaganda. Der rührige Theatermann Jewgeni Grischkowez («Das Hemd») weigerte sich auf seiner Live-Journal-Seite, einen Kommentar zu den Anschlägen zu geben. «Ich bin auch nur ein Zeitungsleser und Nachrichtenkonsument. Und ein Fussgänger und Passagier.» Allerdings sei diese Kapitulation höchst unbefriedigend: «Ich empfinde quälende Unruhe und sogar Scham dafür, dass ich vor diesen Ereignissen vollkommen ohnmächtig bin.»

Politischer zeigte sich Dmitri Bykow, der mit seinen Doku-Fiktionen und literarischen Biografien regelmässig die Bestsellerlisten anführt. Für den Terrorismus darf er als Experte gelten: Im Roman «Evakuator» (2005) wird Moskau von Anschlägen erschüttert. Bykow deutete den Terrorakt als ein Symptom eines grösseren Prozesses: der Selbstbefreiung «des grossen Russland» aus der «Herrschaft des kleinen Kremls»: «Diese Befreiung vollzieht sich wie eine Lawine,.....


NZZ Online 8. April 2010
Was tun, und wer ist schuld?
Aufgeregte Ratlosigkeit – die russische Debatte um die Bombenanschläge in der

Ulrich M. Schmid ⋅ Die Anschläge vom 29. März auf die Moskauer Metro haben unter russischen Intellektuellen eine rege Diskussion ausgelöst. Das Spektrum der Meinungen ist breit und reicht von Ratlosigkeit zu Selbstpropaganda. Der rührige Theatermann Jewgeni Grischkowez («Das Hemd») weigerte sich auf seiner Live-Journal-Seite, einen Kommentar zu den Anschlägen zu geben. «Ich bin auch nur ein Zeitungsleser und Nachrichtenkonsument. Und ein Fussgänger und Passagier.» Allerdings sei diese Kapitulation höchst unbefriedigend: «Ich empfinde quälende Unruhe und sogar Scham dafür, dass ich vor diesen Ereignissen vollkommen ohnmächtig bin.»

Politischer zeigte sich Dmitri Bykow, der mit seinen Doku-Fiktionen und literarischen Biografien regelmässig die Bestsellerlisten anführt. Für den Terrorismus darf er als Experte gelten: Im Roman «Evakuator» (2005) wird Moskau von Anschlägen erschüttert. Bykow deutete den Terrorakt als ein Symptom eines grösseren Prozesses: der Selbstbefreiung «des grossen Russland» aus der «Herrschaft des kleinen Kremls»: «Diese Befreiung vollzieht sich wie eine Lawine, und wenn sie schneller wird, dann ist das nur ermutigend. Es ist natürlich schade, dass dieser Vorgang einen solchen Preis hat.»

Neue Denunziationskampagne

Die Action-Autorin Julia Latynina, die ihre Bücher oft im Kaukasus spielen lässt, kritisierte vor allem die Fahndungsorgane für ihre Ineffizienz. Die wichtigsten Terroristen seien zwar namentlich bekannt, würden aber nicht verhaftet. «Es ist einfacher, Chodorkowski zu verhaften. Und es bringt mehr Geld.» Ausserdem habe eine neue Denunziationskampagne nach sowjetischem Muster eingesetzt. Wenn man jemandem schaden wolle, könne man ihn den Behörden melden und behaupten, er finanziere den Terror im Kaukasus. Dann beginne eine minuziöse Überprüfung, für eine eigentliche Terrorfahndung bleibe keine Zeit mehr.

Als bester Agent in eigener Sache zeigte sich der Skandalautor Eduard Limonow, der sich seit seiner Rückkehr aus der Emigration von der literarischen auf die politische Provokation verlegt hat und seither seine halb sowjetischen, halb faschistischen «Nationalbolschewiken» immer wieder in die Schlagzeilen katapultiert. Er meinte, dass sich das «Polizeiregime» nach den Anschlägen zweifellos verschärfen werde, und orakelte sogar über seine eigene Verhaftung. Diesen Gefallen tat ihm allerdings die Regierung nicht.

Der Internetguru Alex Exler registrierte in seinem Blog, dass die Moskauer Taxifahrer sofort nach den Anschlägen ihre Preise in die Höhe schnellen liessen: Unter hundert Dollar ging gar nichts. Als Kontrast führte er das Verhalten der New Yorker Taxifahrer nach 9/11 an – die amerikanischen Kollegen fuhren direkt nach den Anschlägen gratis. «Gut, dass die Moskauer Taxifahrer auch unter extremen Umständen den Kopf nicht verlieren. Man müsste Nägel aus diesen Leuten machen. Oder sie ihnen in den Kopf schlagen. Damit sich das Gewissen wenigstens etwas regt.» Zu so rabiaten Mitteln mochte der Patriarch der russisch-orthodoxen Kirche, Kyrill, nicht greifen, appellierte aber dennoch an die Taxifahrer, ihre Gewinne zurückzugeben oder für wohltätige Zwecke zu spenden.

In deutlicher Sorge um das ohnehin schlechte Image des Islam verurteilte der Rat der russischen Muftis den Terroranschlag «zornig» und wies darauf hin, dass Extremismus und Terrorismus keine Grundlage im Koran haben: «Ein Terrorist kann kein Muslim sein, und ein Muslim kann kein Terrorist sein.» Die «Kommunisten Russlands» erinnerten an den ersten Terroranschlag in der Moskauer Metro am 8. Januar 1977, den armenische Nationalisten ausgeführt hatten – die drei Angeklagten, die nur teilweise geständig waren, wurden damals hingerichtet. Dies sei die einzige gerechte Strafe, und deshalb müsse die Todesstrafe sofort wieder eingeführt werden. Freilich verschwieg die sowjetnostalgische Organisation, dass der Prozess gegen die Terroristen damals geheim geführt wurde und dass die Prozessakten bis heute unter Verschluss sind.

Der Oppositionspolitiker Boris Nemzow wertete die Anschläge als deutliches Zeichen dafür, dass Putins Kaukasus-Politik gescheitert sei. Unter deutlicher Anspielung auf den tschetschenischen Präsidenten Ramsan Kadyrow sagte Nemzow, es lohne sich nicht, «korrumpierte Banditengruppen» an die Macht zu bringen und sie zu unterstützen. Boris Jakemenko, einer der Chefideologen der putinfreundlichen Jugendorganisation «Die Unsrigen», warf umgekehrt der Opposition Defaitismus vor: «Die Organisatoren von Aktionen und Kampagnen gegen die Polizei haben die unschuldigen Menschen, die in der Metro umgekommen sind, auf dem Gewissen. Sie können das als ihren ersten Erfolg verbuchen. Hoffentlich begreifen sie das und erinnern sich daran.»

Das alte Kaukasus-Problem


Eine fatalistische Haltung nahm der einflussreiche Galerist und ehemalige Polittechnologe Marat Gelman ein. Auch Gelman kennt sich in der Materie aus: Er hatte 2003 ein Buch über Terrorismus und die Massenmedien im dritten Jahrtausend veröffentlicht. Er bekannte, dass er sich zunächst aus Trägheit in dem üblichen Zirkel mit den Fragen «Was tun?» und «Wer ist schuld?» gedreht habe. Er sei aber zur Überzeugung gelangt, dass es «tragische Geschichten» gebe, an denen niemand schuld sei. Der zufällige Tod sei nicht die Ausnahme, sondern die alltägliche Regel. «Ja, die Welt ist nicht ideal, und das Böse ist ein integraler Bestandteil.»

Russlands innenpolitische Probleme lassen sich allerdings mit solchen Pauschalurteilen kaum lösen. Es ist bemerkenswert, dass es in der Bevölkerung immer noch einen unausgesprochenen Konsens über die Bewahrung der territorialen Integrität der Russischen Föderation gibt – auch wenn die Regierung in weiten Teilen des Nordkaukasus kaum die Staatsgewalt ausübt. Am prekärsten ist die Situation in Inguschetien, wo sich die politischen Behörden aus der ehemaligen Hauptstadt Nasran in einen befestigten Bezirk in Magas zurückgezogen und sich dort vor der eigenen Bevölkerung verschanzt haben.

Der Terror in Russland hat wenig mit dem Islamismus, aber viel mit den politischen und wirtschaftlichen Missständen im Kaukasus zu tun. Auch historische Altlasten aus der Zarenzeit und der Sowjetära beeinträchtigen das Image Russlands schwer. Erst eine nachhaltige Aufbau- und Modernisierungspolitik des Kremls könnte den kaukasischen Terrorismus eindämmen – allerdings deutet alles darauf hin, dass die russische Führung erneut nur auf Repression setzt

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