Donnerstag, April 29, 2010

Bröckelnde Macht des britischen Parlaments

27. April 2010, Neue Zürcher Zeitung
Bröckelnde Macht des britischen Parlaments
Unterschätzter Wandel der Verfassungswirklichkeit in Grossbritannien

Die britischen Wähler zögern, einer der beiden dominierenden Parteien ein starkes Regierungsmandat zu geben. Die Souveränität des Parlaments leidet unter dem verbreiteten Misstrauen. Die ungeschriebene Verfassung steht unter Reformdruck.

Peter Rásonyi, London

Der durch eine Fernsehdebatte der Parteiführer ausgelöste Exploit des ewigen Dritten in der britischen Parteienlandschaft, der Liberaldemokratischen Partei, sorgt im Vereinigten Königreich für Furore. Die fast täglich erscheinenden Umfragen positionieren die Partei weniger als zwei Wochen vor dem Wahltermin zumeist auf dem zweiten, mitunter gar auf dem ersten Platz vor der Labour Party und den Konservativen, was sich bis vor kurzem auch die optimistischsten Liberaldemokraten nicht erträumt hätten. Sollte die Partei den derzeitigen Anteil von rund 30 Prozent bis zur Wahl halten, käme es mit grosser Wahrscheinlichkeit erstmals seit 1974....


27. April 2010, Neue Zürcher Zeitung

Bröckelnde Macht des britischen Parlaments
Unterschätzter Wandel der Verfassungswirklichkeit in Grossbritannien

Die britischen Wähler zögern, einer der beiden dominierenden Parteien ein starkes Regierungsmandat zu geben. Die Souveränität des Parlaments leidet unter dem verbreiteten Misstrauen. Die ungeschriebene Verfassung steht unter Reformdruck.

Peter Rásonyi, London

Der durch eine Fernsehdebatte der Parteiführer ausgelöste Exploit des ewigen Dritten in der britischen Parteienlandschaft, der Liberaldemokratischen Partei, sorgt im Vereinigten Königreich für Furore. Die fast täglich erscheinenden Umfragen positionieren die Partei weniger als zwei Wochen vor dem Wahltermin zumeist auf dem zweiten, mitunter gar auf dem ersten Platz vor der Labour Party und den Konservativen, was sich bis vor kurzem auch die optimistischsten Liberaldemokraten nicht erträumt hätten. Sollte die Partei den derzeitigen Anteil von rund 30 Prozent bis zur Wahl halten, käme es mit grosser Wahrscheinlichkeit erstmals seit 1974 und zum vierten Mal seit einem Jahrhundert zu einem «hung parliament», in dem eine Minderheitsregierung oder eine Koalition mehrerer Parteien regieren müsste.

Eine «normale» Demokratie

Die meisten Briten sind von dieser Entwicklung überrascht. Die Konservativen und ihnen nahestehende Medien sind schockiert; der sicher geglaubte Wahlsieg steht plötzlich in der Schwebe. Sie haben deshalb eine harte Kampagne gegen die Liberaldemokraten eingeleitet und reden eine angebliche Finanzkrise herbei, sollte das Land die ausgetretenen Pfade des Zweiparteiensystems tatsächlich verlassen. Ein näher rückendes «hung parliament» zeugt indes von einem Wandel, der viel tiefer als die Frage geht, wer die nächste Regierung bilde. Für die Liberaldemokraten und ihren von den Medien plötzlich zum Star erkorenen Führer Nick Clegg bietet sich die Jahrhundertchance, die «ewige» Forderung eines faireren Wahlsystems, das den Parteien eine dem Wähleranteil entsprechende Vertretung im Unterhaus ermöglichen würde, durchzusetzen.

Doch der Wandel geht auch über eine blosse Wahlrechtsreform hinaus. Trotz allen Versuchen der beiden dominierenden Parteien, die jahrhundertealten Traditionen der ungeschriebenen Verfassung zu bewahren, hat sich die Verfassungswirklichkeit in den letzten drei Jahrzehnten dynamischer verändert, als dies gemeinhin wahrgenommen wird. Laut Patrick Dunleavy, einem Politologen an der London School of Economics, ist Grossbritannien auf dem Weg zu einer «normalen» liberalen Demokratie. Der in Oxford lehrende Staatsrechtler Vernon Bogdanor dokumentiert in seinem vor der Wahl erschienenen Buch «The New British Constitution» (Hart Publishing, Oxford 2009), wie die von den grossen Verfassungstheoretikern des neunzehnten Jahrhunderts Walter Bagehot und Albert Venn Dicey gepriesene Verfassung des Vereinigten Königreichs im Grunde bereits untergegangen ist, ohne dass sich die Konturen des neuen Verfassungsstaats schon gefestigt hätten.

Reformen unter New Labour


Die Liste der für die Verfassung relevanten Reformen, welche New Labour nach der Machtübernahme 1997 einführte, ist lang. Die Unabhängigkeit der Bank of England von der Regierung wurde gestärkt, Schottland, Wales und Nordirland erhielten nach der Abhaltung von Referenden eine autonome Verwaltung und eine gewählte Volksvertretung. Durch ein Referendum wurde die Direktwahl des Londoner Bürgermeisters eingeführt. Die Europa-Wahlen wurden auf ein Proporzwahlrecht umgestellt. Mit der Human Rights Act wurde die Europäische Konvention der Menschenrechte erstmals in Grossbritannien einklagbar. Die Zahl der Erblords im Oberhaus wurde reduziert. Mit der Freedom of Information Act wurde die Transparenz der Regierung erhöht. Der Einfluss der Regierung auf die Richterwahlen wurde beschnitten. Schliesslich wurde der Supreme Court geschaffen, der vom Oberhaus die oberste Gerichtsbarkeit übernimmt und damit dem wichtigen Prinzip der Gewaltentrennung entspricht.

Bei all den Reformen wurde peinlich genau darauf geachtet, dass die Souveränität des Parlaments formal erhalten blieb. Tatsächlich haben aber praktisch alle Reformen in oft widersprüchlicher und unvollkommener Weise zur Folge, dass die Kompetenzen des Parlaments beschnitten wurden. Den tiefsten Eingriff in die Souveränität hatte bereits 1972 die Anerkennung des Rechts der Europäischen Gemeinschaft gebracht, was bis heute gründlich verdrängt wird.

Institutionelle Fragen spielen auch im laufenden Wahlkampf keine grosse Rolle. Das notorische Desinteresse der Briten an Verfassungsfragen gründet in der ungeschriebenen Verfassung selbst, welche dem Parlament absolute Souveränität zugesteht. Es gibt keinen übergeordneten Verfassungstext, der vor dem Zugriff des Parlaments geschützt wäre. Es gibt keine Verfassungsgerichtsbarkeit, die ihm Schranken setzen würde. Die einzige Kontrollinstanz sind die politische Kultur, das tägliche Kräftemessen der Parteien beziehungsweise das wachsame Auge der Öffentlichkeit, welche die regierende Partei am nächsten Wahltermin abwählen kann. Wenn das Parlament alle Regeln jederzeit mit einfacher Mehrheit ändern kann, sind grundlegende Gedanken über die Verfassung von bedingter Bedeutung. Doch die Anzeichen mehren sich, dass das Vertrauen in die selbstregulierenden und kontrollierenden Kräfte der politischen Kultur und des politischen Establishments auf einen kritischen Wert gesunken ist.

Der Spesenskandal als Signal


Nur vor dem Hintergrund der seit Jahrhunderten behaupteten Souveränität des Parlaments ist nachvollziehbar, aus welcher Abgehobenheit heraus jene zahlreichen Abgeordneten und Lords stürzten, die durch die Enthüllungen des Spesenskandals durch die Tageszeitung «Daily Telegraph» im vergangenen Mai blossgestellt wurden. Viele haben bis heute nicht verstanden, wie das Volk sich das Recht herausnehmen konnte, ihre Spesenabrechnungen zu prüfen und zu bewerten. Gegen die im Nachhinein eingeführten Kontrollen, Beschränkungen und Rückforderungen ergingen Dutzende von Einsprachen empörter Parlamentarier. Noch nie in der jüngeren Geschichte gab es so viele Rücktritte von Abgeordneten wie vor dieser Wahl.

Der Spesenskandal dokumentiert den Verlust von Ansehen und Macht des britischen Parlaments. Dessen absolute Souveränität wird zwar wie so viele Institutionen in Grossbritannien zum Schein bewahrt. Westminster könnte theoretisch alle Reformen jederzeit rückgängig machen. Doch Akzeptanz und Legitimation dieser Machtfülle sind gesunken. Die beiden dominierenden Parteien vermögen immer weniger Wähler für sich zu gewinnen. Ihr Stimmanteil ist von zusammen 97 Prozent im Jahre 1951 auf knapp 70 Prozent bei der letzten Wahl 2005 geschrumpft (siehe Infografik). Gleichzeitig ging die Wahlbeteiligung auf 60 Prozent zurück. Labour regiert derzeit mit 55 Prozent der Sitze in Westminster, aber mit nur 36 Prozent der abgegebenen Wählerstimmen und 22 Prozent expliziter Zustimmung durch die Wahlberechtigten.

Die Abgabe von Kompetenzen in Schottland, Wales und Nordirland war eine Reaktion auf die sinkende Akzeptanz des langen Arms von Westminster in diesen Ländern. Labour und Konservative sind dort immer schwächer vertreten; die Konservativen haben derzeit einen einzigen schottischen Vertreter im Unterhaus. Auch in England ist eine wachsende regionale Polarisierung zu erkennen. Die Konservativen sind in weiten Teilen des ärmeren Nordengland nicht mehr mit Abgeordneten vertreten, und Labour ist in den meisten ländlichen Wahlkreisen des reichen Südostens chancenlos. Trotzdem beanspruchen Parlament und Regierung starke zentralisierte Kompetenzen im ganzen Land.

«Hung parliament» als Chance

Während die alte Verfassung bröckelt, ist die neue erst undeutlich zu erkennen. Die fortschreitende Beschränkung der parlamentarischen Souveränität, Dezentralisierung und mehr Bürgernähe sind Stichworte, welche die Richtung der Entwicklung weisen dürften. Der Prozess ist noch lange nicht abgeschlossen. Sollten die Konservativen im Mai eine absolute Mehrheit der Unterhaussitze erringen, dürfte er einstweilen erlahmen. Der Parteiführer David Cameron hat sich als entschiedener Gegner institutioneller Reformen profiliert. Das Wahlmanifest der Konservativen nennt zwar den Bedarf, das «zerbrochene politische System» zu reparieren und das Vertrauen wiederherzustellen. Die Vorschläge beschränken sich aber auf Nebenaspekte. Eine Wahlrechtsreform wird abgelehnt, und die Vision der «grossen Gesellschaft» anstelle des «grossen Staates» bleibt wolkig.

Sollten die Konservativen zur Regierungsbildung auf die Unterstützung durch die Liberaldemokraten angewiesen sein, werden diese eine Wahlrechtsreform durchzusetzen versuchen. Der Erfolg ist keineswegs sicher, denn das Drohpotenzial ist wegen der Möglichkeit der Regierung, jederzeit Neuwahlen einzuleiten, begrenzt. Während der drei kurzlebigen «hung parliaments» im 20. Jahrhundert haben sich die Liberalen jeweils nicht durchsetzen können.

Die Reformchancen sind grösser, sollte Labour als stärkste Partei aus der Wahl hervorgehen und mit Hilfe der Liberaldemokraten eine Regierung bilden. Premierminister Gordon Brown hat, reichlich spät, im Februar ein Gesetz vorgelegt, das ein Referendum über eine Wahlrechtsreform vorsah, aber nicht mehr verabschiedet wurde. Im Wahlmanifest verspricht Labour Verfassungsreformen, um die «tiefe Krise im Vertrauen in die Politik» zu überwinden. Dazu gehören Referenden über das Wahlrecht sowie über die Ersetzung des Oberhauses durch eine gewählte zweite Kammer. Die Dauer der Legislatur soll festgeschrieben werden, und es soll eine geschriebene Verfassung geben. Das Misstrauen der Liberaldemokraten gegenüber den Versprechungen Labours ist verständlicherweise gross, doch scheint die Partei Reformen gegenüber weniger abgeneigt zu sein als die Konservativen. Brown hat sich zuletzt persönlich dafür engagiert. Eine Abschwächung des Mehrheitswahlrechts könnte letztlich auch im Interesse von Labour sein, da sich die Partei ihrer Stärke nicht mehr so sicher sein kann.

Grossbritannien hat 18 von der harten Hand Margaret Thatchers geprägte Regierungsjahre unter den Konservativen, anschliessend 13 Jahre New Labour hinter sich. Beide Epochen waren von ungewöhnlich starken Mehrheiten der jeweiligen Partei im Unterhaus geprägt. Beide brachten tiefgreifende wirtschaftliche, gesellschaftliche und politische Umwälzungen und eine lange Phase der Prosperität. Folgt man den gegenwärtigen Meinungsumfragen, so scheinen die Wähler zu zögern, Brown oder Cameron ein ähnlich starkes Regierungsmandat zu verleihen. Die Gegenposition der Liberaldemokraten, mit einer breiter abgestützten und legitimierten Regierung die schwere Zeit der Wirtschafts- und Haushaltkrise zu meisten, entspricht zwar nicht der jüngeren britischen Tradition. Sie verbreitet aber offensichtlich auch nicht jenen Schrecken, den Konservative und Labour den Wählern einzureden versuchen. Grossbritannien wandelt sich rascher, als die starren Rituale des politischen Alltags auf den ersten Blick glauben machen.

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