Mittwoch, April 21, 2010

Pakistans gefährliches Atomprogramm

20. April 2010, Neue Zürcher Zeitung
Pakistans gefährliches Atomprogramm

Politische Instabilität und die Präsenz von Terrorgruppen bilden ein nur schwer zu kalkulierendes Risiko


Die Furcht wächst, dass Terroristen waffenfähiges Spaltmaterial in die Hände bekommen könnten. Laut Experten stellt das politisch instabile Pakistan mit seinem Nukleararsenal in einem solchen Szenario der grösste Schwachpunkt dar.

Andrea Spalinger, Delhi

Regierungsvertreter aus 47 Staaten sind letzte Woche in Washington zu einem Gipfel über Nuklearsicherheit zusammengetroffen. In erster Linie ging es dabei in den Worten des Gastgebers, Barack Obama, um die «grösste Bedrohung für die globale Sicherheit», die Gefahr, dass Terroristen waffenfähiges Spaltmaterial in die Hände bekommen könnten. Während das Risiko eines atomaren Konflikts seit dem Ende des Kalten Krieges gesunken sei, sei die Gefahr eines nuklearen Anschlags sehr viel grösser geworden, so die Warnung des amerikanischen Präsidenten. Sollten Terrorgruppen in den Besitz hochangereicherten Urans oder von Plutonium kommen, hätte dies unvorstellbare Konsequenzen, sagte er und rief zu konkreten Schritten zur Sicherung des nuklearen Materials auf.

Ein altes Sorgenkind

Das grösste Sorgenkind der Amerikaner diesbezüglich ist Pakistan. Über das Proliferations-Netzwerk des langjährigen Chefs....


20. April 2010, Neue Zürcher Zeitung
Pakistans gefährliches Atomprogramm

Politische Instabilität und die Präsenz von Terrorgruppen bilden ein nur schwer zu kalkulierendes Risiko


Die Furcht wächst, dass Terroristen waffenfähiges Spaltmaterial in die Hände bekommen könnten. Laut Experten stellt das politisch instabile Pakistan mit seinem Nukleararsenal in einem solchen Szenario der grösste Schwachpunkt dar.

Andrea Spalinger, Delhi

Regierungsvertreter aus 47 Staaten sind letzte Woche in Washington zu einem Gipfel über Nuklearsicherheit zusammengetroffen. In erster Linie ging es dabei in den Worten des Gastgebers, Barack Obama, um die «grösste Bedrohung für die globale Sicherheit», die Gefahr, dass Terroristen waffenfähiges Spaltmaterial in die Hände bekommen könnten. Während das Risiko eines atomaren Konflikts seit dem Ende des Kalten Krieges gesunken sei, sei die Gefahr eines nuklearen Anschlags sehr viel grösser geworden, so die Warnung des amerikanischen Präsidenten. Sollten Terrorgruppen in den Besitz hochangereicherten Urans oder von Plutonium kommen, hätte dies unvorstellbare Konsequenzen, sagte er und rief zu konkreten Schritten zur Sicherung des nuklearen Materials auf.

Ein altes Sorgenkind

Das grösste Sorgenkind der Amerikaner diesbezüglich ist Pakistan. Über das Proliferations-Netzwerk des langjährigen Chefs des pakistanischen Atomprogramms, Abdul Qadeer Khan, sind Staaten wie Libyen, Nordkorea und Iran in den Besitz geheimer Atomtechnologie gelangt. 2003 flogen Khans Aktivitäten zwar auf, doch viele Fragen bleiben unbeantwortet und das Ausmass des Skandals unklar. Pakistans Behörden haben weder den Amerikanern noch der Internationalen Atomenergieagentur (IAEA) erlaubt, den Atomschmuggler zu verhören. Dies dürfte nicht nur damit zu tun haben, dass Khan in Pakistan als «Vater der Atombombe» ein Volksheld ist, sondern auch damit, dass seine kriminellen Geschäfte ohne Wissen der Armee kaum möglich gewesen wären.

Neben der dubiosen Vergangenheit bereitet Nuklearexperten auch die gegenwärtige Instabilität Pakistans Kopfzerbrechen. Während sein Atomwaffenarsenal rasant wächst, tummeln sich in dem Land die meistgesuchten Terroristen der Welt. Ein vergangene Woche vom Belfer Center for Science and International Affairs der Universität Harvard und der Nuclear Threat Initiative herausgegebener Bericht («Securing the Bomb») stellt denn auch fest, die Gefahr eines nuklearen Lecks sei nirgendwo grösser als in Pakistan. Das südasiatische Land hat die Sicherheitsmassnahmen in den letzten Jahren zwar hochgefahren und zum Schutz seines Atomarsenals eine Strategic Plans Division geschaffen, der 10 000 speziell ausgewählte und ausgebildete Sicherheitskräfte angehören. Experten zweifeln jedoch daran, dass diese Truppe der Gefahr gewachsen ist. Sowohl der Diebstahl von nuklearem Material durch Insider als auch ein Terrorangriff auf Atomanlagen seien weiterhin realistische Szenarien, schreibt der Autor des Berichts, Matthew Bunn. Wenn Terrorgruppen zu spektakulären Angriffen auf schwer gesicherte Ziele wie das Armeehauptquartier in Rawalpindi in der Lage seien, seien auch die über das ganze Land verteilten Reaktoren, nuklearen Forschungsanlagen und Waffenlager nicht sicher. Da traditionell enge Beziehungen zwischen den Sicherheitskräften und islamistischen Gruppen bestünden, könnte es Letzteren zudem gelingen, Spione in nukleare Anlagen einzuschleusen, befürchtet Bunn.

Neue Reaktoren

Besorgniserregend ist nicht zuletzt, dass Islamabad die Produktion von waffenfähigem Spaltmaterial derzeit ausweitet. Es baut drei neue Reaktoren zur Herstellung von Plutonium für eine neue Generation von Atomwaffen, und der amerikanische Geheimdienst CIA hat auf Satellitenbildern bereits erste Dampffahnen über einem der Kühltürme entdeckt. Pakistan hat den Bau offiziell nicht bestätigt, hinter vorgehaltener Hand argumentieren Regierungsbeamte aber, angesichts der indischen Bedrohung brauche man dringend neue Reaktoren. In der Tat produziert auch Indien derzeit neues waffenfähiges Plutonium in Anlagen, die vom Nuklearabkommen mit den USA (das nur die zivile Nutzung von Atomenergie umfasst) ausgeschlossen sind und von der IAEA nicht besichtigt werden können. Nach Schätzungen des Belfer Center lagern weltweit über 23 000 Atomwaffen, und mit den globalen Beständen an hochangereichertem Uran (1600 Tonnen) und Plutonium (500 Tonnen) könnten insgesamt etwa 200 000 Bomben hergestellt werden. Pakistan verfügt mit 70 bis 90 Nuklearsprengköpfen somit über ein eher bescheidenes Arsenal. Da ein kleiner Teil waffenfähigen Spaltmaterials allerdings ausreicht, um unvorstellbaren Schaden anzurichten, tut dies wenig zu Sache.

Beteuerungen Gilanis


Der Harvard-Professor Bunn ist nur einer von vielen Nonproliferations-Experten, die vor einem Leck in Pakistan warnen. Dennoch wurde über das Thema beim Gipfeltreffen in Washington nicht offiziell diskutiert. Das nukleare Wettrüsten in Südasien sei politisch zu heikel, als dass es auf die Tagesordnung hätte gesetzt werden können, verlautete aus Regierungskreisen. Präsident Obama sprach seine Bedenken nur in einem privaten Treffen mit Premierminister Gilani vor dem Gipfel an. Dabei soll er auch seinem Unmut darüber Luft gemacht haben, dass Islamabad Verhandlungen über einen Vertrag blockiert, der die Produktion von neuem Spaltmaterial weltweit stoppen soll.

Gilani versicherte in Washington zum wiederholten Male, Pakistan sei ein verantwortungsvoller Atomstaat und seine Nuklearwaffen seien in sicherer Hand. Auch die Armeeführung, die de facto die Kontrolle über das Atomprogramm hat, behauptet, das Kapitel Khan sei abgeschlossen und die nuklearen Geheimnisse seien heute sicher.

Nicht nur al-Kaida

Laut Rolf Mowatt-Larssen, einem Terrorexperten und jahrzehntelangen CIA-Mitarbeiter, stellt die Kaida mit Abstand die grösste Gefahr dar, weil sie sich bereits seit vielen Jahren darum bemüht, an Massenvernichtungswaffen zu kommen. Ihr Chef, Usama bin Ladin, hatte bereits 1998 öffentlich erklärt: «Es ist die Pflicht der Muslime, in den Besitz einer nuklearen Bombe zu kommen, um die Feinde Gottes zu terrorisieren.» Bruce Riedel von der Brookings Institution wiederum weist warnend darauf hin, dass nicht nur die Kaida, sondern auch andere Terrorgruppen in Pakistan wie die Lashkar-e Toiba nach Nuklearmaterial strebten. Die Hochburg der Lashkar ist der Punjab, wo auch die meisten Armeeoffiziere rekrutiert werden. Zwischen dem Militär und der Gruppe bestehen traditionell enge Bande, und die Gefahr, dass Letztere an Insiderwissen gelangt, ist laut Riedel deshalb gross.

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