Mittwoch, April 14, 2010

Russland: Alles haben, ohne irgendetwas zu tun

Alles haben, ohne irgendetwas zu tun
Von Natalja Kljutscharjowa.

Der Materialismus zerstört Russlands Wesen. Einfacher Wohlstand ist nicht mehr erstrebenswert, alle wollen den märchenhaften, irrealen Reichtum wie Oligarchen und Popstars. Eine Russin erzählt.

Natalja Kljutscharjowa wurde 1981 in Perm (West-Ural) geboren. Sie studierte an der Pädagogischen Hochschule von Jaroslawl und arbeitete als Nachrichtenredaktorin am russischen Fernsehen. Derzeit ist sie Mitarbeiterin der Moskauer Zeitschrift «Erster September». 2006 erschienen ihr erster Gedichtband und ihr Roman «Endstation Russland», der bei Suhrkamp auf Deutsch erhältlich ist (187 S., ca. 18 Fr.). Unser Text ist die stark gekürzte Fassung eines Vortrags, den sie auf der Leipziger Buchmesse für das Autorenspecial des Literarischen Colloquiums Berlin gehalten hat. Er wird vollständig in der Zeitschrift «Sprache im technischen Zeitalter» erscheinen.

Alle wichtigen Ideen, die das nationale Bewusstsein und den Gang der Geschichte in unserem Land bestimmt haben, hat Russland von aussen übernommen. Doch einmal auf russischen Boden gelangt, verloren die philosophischen Konzeptionen den Charakter abstrakter Ideen und wurden (von den Führern, der Intelligenz oder dem ganzen Volk) als direkte Anleitung zum Handeln begriffen. Darin liegt etwas Religiöses, selbst wenn diese Ideen an sich antireligiös waren, wie der Marxismus......


Alles haben, ohne irgendetwas zu tun
Von Natalja Kljutscharjowa.


Der Materialismus zerstört Russlands Wesen. Einfacher Wohlstand ist nicht mehr erstrebenswert, alle wollen den märchenhaften, irrealen Reichtum wie Oligarchen und Popstars. Eine Russin erzählt.

Alle wichtigen Ideen, die das nationale Bewusstsein und den Gang der Geschichte in unserem Land bestimmt haben, hat Russland von aussen übernommen. Doch einmal auf russischen Boden gelangt, verloren die philosophischen Konzeptionen den Charakter abstrakter Ideen und wurden (von den Führern, der Intelligenz oder dem ganzen Volk) als direkte Anleitung zum Handeln begriffen. Darin liegt etwas Religiöses, selbst wenn diese Ideen an sich antireligiös waren, wie der Marxismus.

Materieller Wohlstand als Idol

Die letzte Idee, die wir nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion vom Westen übernommen haben, ist die Konsum-«Philosophie», die den materiellen Wohlstand zu einem unumstösslichen Wert des Seins erklärt. Auf russischen Boden gelangt, wurde diese Idee sofort zum Idol, verwandelte sich vom eigentlich normalen menschlichen Wunsch nach einem Leben in Komfort in einen Kult des Geldes, des Reichtums und des schnellen Profits.

Für die meisten Menschen im heutigen Russland bemisst sich der Sinn des Lebens in Dollar. Im Westen, scheint mir, ist die Konsumgesellschaft aus der protestantischen Ethik der Arbeit hervorgegangen, wo Verdienst und Arbeit in unmittelbarem Bezug zueinander stehen. In Russland dagegen traf die Ideologie des materiellen Wohlstands auf die in der Sowjetgesellschaft entstandene Abneigung gegen jegliche Arbeit, ja, deren Verachtung.

Verblendet von der Gier

Der Geisteszustand der postsowjetischen Gesellschaft lässt sich mit dem unübersetzbaren Ausdruck «chaljawa» definieren, was so viel heisst wie «alles haben, ohne irgendetwas zu tun». Die Helden des Massenbewusstseins sind Oligarchen und Diebe, die sich nur durch das Ausmass ihres Diebstahls voneinander unterscheiden. Fernsehen, Werbung, Popmusik und Boulevardpresse (für die überwiegende Mehrheit die einzige Lektüre) hypnotisieren das Bewusstsein rund um die Uhr mit Beispielen schicken Lebens. Die Massenmedien reichen überall hin, darum sind die Menschen überall verblendet von der Gier nach Reichtum – in Moskau ebenso wie im entlegensten Dorf.

Die Eltern vermitteln ihren Kindern keinerlei andere Werte mehr. Nach der Schule wollen fast alle Volks- oder Betriebswirt werden. Letztes Jahr gab das Bildungsministerium sogar eine offizielle Erklärung heraus: Besinnt euch, so viele Manager braucht das Land nicht! Doch das hat nicht geholfen.

Auf den Arbeitsmarkt drängen jedes Jahr Armeen geldgieriger junger Menschen mit grossem Appetit, gigantischer Faulheit und minimalen moralischen Hemmungen.

Eine Vielzahl bezahlter Nichtstuer

Relativ lange, fast zehn Jahre lang, passte sich die Wirtschaft – vermutlich dank Öl und Gas – dieser Lawine an. Und Menschen in der vollen Blüte ihrer geistigen und körperlichen Kräfte bekamen Geld dafür, dass sie tagelang in Büros herumsassen, Computerspiele spielten, in Chatrooms mit gleichgesinnten «Schwerarbeitern» plauderten und nur hin und wieder mal einen Bericht verfassten, um den Anschein von Arbeit zu erwecken. Real gearbeitet, also Häuser gebaut, die Strassen gekehrt usw., haben, so schien es, in dieser Zeit nur illegale Migranten aus den ehemaligen Sowjetrepubliken, die am helllichten Tag auf offener Strasse von Neonazis erschlagen wurden. Aber das ist ein anderes Thema.

Die Krise hat also vor allem das Kartenhaus des Büro-Müssiggangs einstürzen lassen. Ich finde, das war nützlich. Nicht nur, weil eine Vielzahl bezahlter Nichtstuer eine Art Krebsgeschwür der Wirtschaft sind.

Die Überproduktion von Managern hat noch einen weiteren Aspekt. Wer sein Leben nach dem Diktat gesellschaftlicher Klischees und Moden ausrichtet (der Managerberuf ist heutzutage Mode, im Gegensatz zum Arzt- oder Lehrerberuf), büsst die Fähigkeit zu selbstständigem Denken ein. Der übernimmt, ohne zu überlegen, eine von aussen aufgezwungene Lebensstrategie, ob sie ihm gefällt oder nicht, ob er für diese Tätigkeit geeignet ist oder nicht.

Wichtig ist nur eines: Geld zu verdienen

Etwas zu tun, was man liebt, Nutzen zu bringen, sein Talent zu realisieren, Freude und Befriedigung bei der Arbeit zu empfinden – das alles sind für die meisten meiner Landsleute altmodische Anachronismen. Das alles ist unwichtig. Wichtig ist nur eines: Geld zu verdienen.

Jede Idee, zum Absoluten erklärt, wird zum Gift, das sowohl die Menschheit wie auch jeden einzelnen Menschen vergiftet. Und die Konsumidee ist da keine Ausnahme.

Das russische Bewusstsein ist von seinem Wesen her radikal und utopisch. Darum streben die Menschen bei uns nicht einfach nach Wohlstand, sondern nach märchenhaftem, irrealem Reichtum. Das ist das Bild des Glücks, das die Massenmedien vermitteln. Die Regenbogenpresse wetteifert in der Beschreibung der Häuser von Popstars mit goldenen Klos und speziellen Autolifts, eigens dafür gedacht, dass man mit dem Auto bis ans Bett fahren kann.

Wer nicht über die unermesslichen Schätze verfügt, die für das Glück unabdingbar sind, fühlt sich natürlich unglücklich. Obwohl es der Mehrheit bei uns, wie gesagt, heute weit besser geht als früher. Doch das reicht den Menschen nicht. Die Werbung weckt unersättliche Gier, zieht die Menschen in die üble Unendlichkeit des Konsums.

Ein ungesundes Klima als Resultat

Das alles schafft ein ungesundes psychologisches Klima. Die Passanten auf der Strasse sind aggressiv, unfreundlich, düster, stets auf Konflikt aus. Zurückzustecken, wenn es irgendwie um Geld geht, und sei es eine noch so lächerliche Summe, ist absolut ausgeschlossen.

Ich werde nie vergessen, wie eine dicke, vor Sattheit strotzende Schaffnerin in einem Überlandbus eine alte Frau, die um eine kostenlose Fahrt zum Krankenhaus bat, mit saftigen obszönen Flüchen beschimpfte. Eine Fahrkarte kostete 20 Rubel (70 Rappen). Doch die Frau glaubte allen Ernstes, dass der erträumte Palast mit den goldenen Kloschüsseln in noch weitere Ferne rücken würde, wenn sie jetzt Barmherzigkeit zeigte. Die ganze Fahrt über schrie sie, als ginge es um Leben und Tod.

Dabei leben alte Menschen in Russland, besonders auf dem Land, in der Regel unterhalb der Armutsgrenze. Der Staat zahlt ihnen so geringe Renten, dass es nicht einmal für das Lebensnotwendigste reicht. Und für die Grossmutter, die um eine kostenlose Fahrt zum Krankenhaus bat, waren 20 Rubel eine unerschwingliche Summe.

Reichtum statt Barmherzigkeit

Dass der Staat so etwas zulässt, ist leider nicht neu. Doch eigentlich war das Volk in Russland immer barmherziger als der Staat. Heute aber droht der Kult des Reichtums in den Herzen der Menschen die Barmherzigkeit zu übertönen, die sie selbst während des stalinschen Terrors bewahrt hatten.

Ich lebe in einem Dorf bei Moskau. Laut Gesetz müssen die Fahrer von Minibussen alte Menschen zum halben Preis befördern. Um sich davor zu drücken und 10 Rubel zu sparen (35 Rappen), haben alle Fahrer die unterste Einstiegsstufe abgebrochen, und nun können nur noch junge, gesunde Menschen den Bus benutzen, denen man keinen Preisnachlass gewähren muss.

In Moskau arbeitet die Ärztin Jelisaweta Glinka, Doktor Lisa, wie sie genannt wird. Sie fährt jede Woche auf den Bahnhof, um Obdachlose medizinisch zu versorgen. Anders als in Europa ist das Sozialsystem in Russland erst in einem embryonalen Zustand. Möglich, dass Obdachlosen laut Gesetz eine medizinische Versorgung zusteht, real aber ist es für diese Menschen unmöglich, in ein Krankenhaus zu kommen. Also geht Doktor Lisa zu ihnen, um zu helfen. Freiwillig. Weil sie nicht anders kann.

Oligarchen wecken keinen Hass

Und dafür trifft sie ungebremster Hass. Natürlich nicht vonseiten der Obdachlosen. Sondern vonseiten gutsituierter Bürger, die in der Zeitung von Doktor Lisa lesen und ihre Ruhe einbüssen. Weil ihnen hier ein ganz anderes Verhaltensmodell gezeigt wird, eines, das nicht auf Nehmen gerichtet ist, sondern auf Geben. Und das ist für viele eine unerhörte Provokation, gegen die sie sich mit aller Kraft schützen, bewahren wollen. Doktor Lisa bekommt jeden Tag anonyme SMS mit Drohungen und Beschimpfungen. Obwohl sie ihr Verhalten nicht propagiert, niemandem Vorwürfe macht, nicht dazu aufruft, ihr zu folgen, sondern einfach nur tut, was sie tut.

Oligarchen hingegen, von denen jeder Dorftrunkenbold weiss, dass sie ihren Reichtum auf unredliche Weise erworben haben, wecken bei niemandem Hass. Sie werden bewundert, bestaunt, ja, sogar verehrt. Der Kult des Geldes verwischt die Hierarchie der moralischen Werte, Reichtum macht den Menschen zum unantastbaren Himmelsbewohner, für den allgemeine Normen von Recht und Gewissen nicht gelten.

Kaum jemand in Russland fühlt sich verantwortlich für das, was im Land vorgeht. Schuld sind immer andere: die Regierung, die Abgeordneten, die Amerikaner, die illegalen Migranten, die Nachbarn, die eigene Familie. Im Massenbewusstsein wirkt noch immer die von der sowjetischen Ideologie in Gang gesetzte Mechanik der Suche nach einem äusseren Feind fort. Es fehlt die Erkenntnis, dass man selbst versuchen kann, eine Situation, die einem nicht gefällt, zu ändern. Andererseits ist in Russland alles auf die Unterdrückung privater Initiativen gerichtet. Deshalb geben selbst die wenigen, die aus eigener Kraft etwas unternehmen wollen, oft auf.

Jede Einmischung bleibt nutzlos

Anders als in Europa hat die Presse in Russland keinerlei Einfluss auf das gesellschaftliche Leben. Ein Beamter, der in der Zeitung kritisiert wird, tut trotzdem seelenruhig weiter das, wofür er kritisiert wurde. Darum können Journalisten die Vernichtung privater Initiativen lediglich konstatieren, sie aber nicht stoppen. Auch direkte Einmischung bleibt nutzlos: offizielle Anfragen, Proteste, Briefe an den Präsidenten mit Hunderten oder Tausenden Unterschriften. Sämtliche europäischen Mechanismen der Einflussnahme der Zivilgesellschaft auf den Staat sind in Russland wirkungslos.

Die Krise der Verantwortung, von der ich bereits sprach, betrifft natürlich auch die Staatsmacht. Menschen, die in die führende Klasse hinauf streben, begreifen die Macht als Freipass, als ein «Alles ist erlaubt», als einen Garant für Ruhm und unbegrenzten Zugang zu Finanzströmen.

Nehmen wir einen Teilaspekt. Das Verhältnis zu den nationalen Ressourcen. Es ist ganz offensichtlich, dass parallel zur Ausbeute die Erforschung neuer Lagerstätten erfolgen muss. Doch laut Aussagen von Geologen aus meinem Freundeskreis wird schon seit einigen Jahren in Russland nur ausgebeutet. Das einzige Unternehmen, das auch geologische Erkundungen betrieb, war Michail Chodorkowskis Jukos. Es hat den Anschein, als wollten alle übrigen einfach nicht lange in diesem Land bleiben, weshalb es sie kein bisschen kümmert, was wird, wenn die jetzigen Lagerstätten erschöpft sind. Hauptsache, für sie reicht es. (Tages-Anzeiger)

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