Mittwoch, Mai 26, 2010

Some Fun - en français : Les Bourbinnes - Marie - Thérèse Porchet



M-T. Porchet et l'Expo 02


Suisse Allemand!

Dienstag, Mai 25, 2010

Die grosse Angst vor klugen Köpfen

Tages Anzeiger Online 22.05.12010
Die grosse Angst vor klugen Köpfen
Von Hugo Stamm

Nach der Wahl von Roger de Weck zum SRG-Generaldirektor diskreditiert die SVP wieder einmal einen Intellektuellen. Das sollte zu denken geben. Ein Kommentar zu einer Umwertung.

Die Zürcher SVP-Nationalrätin Natalie Rickli bezeichnet den neuen SRG-Generaldirektor Roger de Weck als einen Intellektuellen. Das ist sicher nicht falsch. Auch viele andere Kommentatoren sagten nach der überraschenden Wahl des ehemaligen Chefredaktors von «Tages-Anzeiger» und «Zeit» das Gleiche.

Aufhorchen lässt allerdings, dass die Winterthurerin «Intellektueller» als Kampfbegriff benutzt. Ein Intellektueller als oberster Chef des öffentlichen Fernsehens? Ungeheuerlich. Die SVP-Strategen sehen bereits das Fundament der Schweiz bröckeln und wollen die Wahl Roger de Wecks auf die politische Agenda in Bundesbern setzen.

Zeit der Populisten

Der Aufschrei dokumentiert, dass die populistischen Kräfte in diesem Land sich nicht scheuen, Andersdenkende durch die Gassen zu jagen. Mit heiliger Empörung ziehen sie ins Feld gegen Linksintellektuelle, die in ihren Augen pauschal die Schuld für die angeblichen sozialen und politischen Fehlentwicklungen tragen.

Aufklärung, feministischer Aufbruch und geistige.....

Montag, Mai 24, 2010

Schwacher Euro als Segen

18. Mai 2010, 11:07, NZZ Online
Schwacher Euro als Segen

Europäische Exportwirtschaft profitiert
Der Griechenland-Strudel und der schwächere Euro freut die europäische Exportindustrie.

Alle verfolgen derzeit den fallenden Euro-Dollarkurs und glauben dabei, der Eskalation der Krise der Euro-Zone zuschauen zu können. Doch der Wechselkurs taugt wenig als Mass für die Krise. Der schwache Euro dürfte sich als Segen entpuppen.

Von Marco Metzler

Der Alltag der Devisenhändler interessiert die Öffentlichkeit normalerweise kaum. Wenn aber allenthalben das Ende des Euro und der Euro-Zone ausgerufen wird, dann erscheint plötzlich die tägliche Veränderung der vierten Stelle hinter dem Komma des Euro-Dollarkurses die ganze Welt zu bewegen und für Schlagzeilen zu sorgen. Ist die tägliche Veränderung einer Kommastelle relevant? Dass der Euro in den letzten Monaten schwächer geworden ist, ist eine Tatsache. Aber ist dies tatsächlich so schlecht?

Langfristige Betrachtung

Macht man einen Schritt zurück und öffnet den Fokus vom hektischen Tagesgeschäft der Devisenhändler auf den langfristigen Verlauf des Euro-Dollarkurses, dann relativiert sich die Euro-Schwäche. Denn der Euro ist im langfristigen Vergleich weiterhin stark. Nach der Einführung des Euro als Buchgeld am 1. Januar 1999 kannte die Einheitswährung zuerst gegenüber der US-Währung nur eine Richtung: nach unten.

Am 25. Oktober 2000 erreichte der Kurs bei 0,872 den tiefsten Stand. Nachdem der Euro am 1. Januar 2002 auch als Bargeld eingeführt worden war, begann dann der Höhenflug der europäischen Währung. Sie durchbrach....

Sonntag, Mai 23, 2010

Facebooks Probleme mit dem Privaten

8. Mai 2010, 10:44, NZZ
Facebooks Probleme mit dem Privaten
Gratwanderung zwischen Kontrolle und Komplexität

Während Facebook die Marke von 500 Millionen Benutzern ansteuert, sieht sich die Firma mit einer heftigen öffentlichen Debatte über ihren Umgang mit privaten Daten konfrontiert. Die Kritik ist berechtigt, zeigt aber auch auf, dass beide Seiten von falschen Vorstellungen über Öffentlichkeit und Privatsphäre ausgehen.

Nico Luchsinger

Es ist nicht das erste Mal, dass Facebook sich dem Vorwurf ausgesetzt sieht, die Privatsphäre seiner Benutzer nicht ausreichend zu schützen. Über die letzten Jahre hat die Social-Networking-Seite mit schöner Regelmässigkeit Änderungen eingeführt, die den Zorn seiner Benutzer erregten. Das Resultat war (mit Ausnahmen) oft dasselbe: Die Empörung legte sich schnell, ohne dass Facebook zurückbuchstabieren musste. Diese rücksichtslose Art der Innovation hat sich für das Netzwerk bisher ausbezahlt: Es erfreut sich unverminderten Wachstums und dürfte bald 500 Millionen Benutzer zählen.

Doch nun tobt ein neuer Sturm der Entrüstung; und er scheint deutlich heftiger als zuvor. Seit Tagen sind Blogs und News-Seiten voll von Artikeln, in denen Facebook heftig kritisiert wird. Selbst ein ausführlicher Frage-Antwort-Artikel von Facebooks Vizepräsident Elliot Schrage mit Lesern der «New York Times» konnte die Gemüter nicht beruhigen. Schrage konzedierte zwar Probleme bei der Kommunikation neuer Funktionen, zeigte sich aber ansonsten uneinsichtig. Schliesslich sei es es jedermann freigestellt, sich bei Facebook an- und wieder abzumelden. Prompt tauchte eine Seite auf, auf welcher man sich verpflichten konnte, am 31. Mai seinen Facebook-Account zu löschen. Bisher haben sich.....

Samstag, Mai 22, 2010

«Das ist der Anfang von Googles Abstieg»

Tages Anzeiger Online
«Das ist der Anfang von Googles Abstieg»
Interview: Reto Knobel

«Grössenwahn des Marktführers und Dominators»: Google hat mit dem unerlaubten Zugriff auf WLAN-Daten eine Grenze überschritten – das Interview mit einem der härtesten Google-Kritiker der Welt.

Google hat für den Kartendienst Street View in über 30 Ländern den Datenverkehr von ungesicherten WLAN-Netzen aufgezeichnet und gespeichert. Muss Street View nun verboten werden?

Gerald Reischl, Google hat jahrelang für seine Street-View-Fahrten Daten aus WLAN-Netzen gescannt und diese auch gespeichert. Laut Google war das ein «Versehen». Glauben Sie das?
Nein, weil man nicht vier Jahre lang «unabsichtlich» Daten sammeln kann und das nicht auffällt. Das sind ja viele Daten, die gespeichert, sprich abgelegt werden müssen. Jeder normale Computernutzer durchforstet regelmässig seine Festplatte – Stichwort Frühjahrsputz am PC – und da sollten solche Datenmengen auffallen.

Immerhin: Google hat sich entschuldigt, der Fehler sei «unverzeihlich». Früher wäre ein solches Eingeständnis wohl undenkbar gewesen.
Das nennt man Krisen-PR, und dafür gibt es eigene PR-Agenturen, die sich darauf spezialisiert haben, Feuerwehr in solchen Fällen zu spielen. Google hat mittlerweile eine eigene Lobbying-Abteilung, die sich ums Image kümmert. Alles andere als eine Schuldeingeständnis und eine Entschuldigung wären nicht möglich gewesen. Google hat aber ohnehin erst....

Freitag, Mai 21, 2010

The Moral Life of Babies

May 3, 2010
The New York Times
The Moral Life of Babies
By PAUL BLOOM

Not long ago, a team of researchers watched a 1-year-old boy take justice into his own hands. The boy had just seen a puppet show in which one puppet played with a ball while interacting with two other puppets. The center puppet would slide the ball to the puppet on the right, who would pass it back. And the center puppet would slide the ball to the puppet on the left . . . who would run away with it. Then the two puppets on the ends were brought down from the stage and set before the toddler. Each was placed next to a pile of treats. At this point, the toddler was asked to take a treat away from one puppet. Like most children in this situation, the boy took it from the pile of the “naughty” one. But this punishment wasn’t enough — he then leaned over and smacked the puppet in the head.

This incident occurred in one of several psychology studies that I have been involved with at the Infant Cognition Center at Yale University in collaboration with my colleague (and wife), Karen Wynn, who runs the lab, and a graduate student, Kiley Hamlin, who is the lead author of the studies. We are one of a handful of research teams around the world exploring the moral life of babies.

Like many scientists and humanists, I have long been fascinated by the capacities and inclinations of babies and children. The mental life of young humans not only is an interesting topic in its own right; it also raises — and can help answer — fundamental questions of philosophy and psychology, including how biological evolution and cultural experience conspire to shape human nature. In graduate school, I studied early language development and later moved....

Donnerstag, Mai 20, 2010

New Orleans erfindet sich neu

18. Mai 2010, Neue Zürcher Zeitung
New Orleans erfindet sich neu
Die Verwüstung der Stadt durch den Wirbelsturm «Katrina» ist auch eine Chance

Von der Ölpest am nahen Golf von Mexiko ist New Orleans vorläufig nicht betroffen. Aber die Stadt kämpft noch immer mit den Folgen des Hurrikans «Katrina». Vorausschauende Köpfe wollen diese Katastrophe als Chance für eine Neugestaltung nutzen.

Beat Ammann, New Orleans

Als Ende August 2005 der Wirbelsturm «Katrina» an New Orleans vorbeizog, verwüstete er nicht eine blühende Stadt, sondern eine im Niedergang. Seit dem Höchststand 1960, als New Orleans knapp 630 000 Einwohnerinnen und Einwohner zählte, sank deren Anzahl bis 2000 auf etwa 485 000. Laut Schätzungen sind es derzeit gut 350 000 Personen; viele Evakuierte sind nicht zurückgekehrt. Die von Hochwasser am wenigsten bedrohten und daher von Wohlhabenden bewohnten Viertel sind kaum weniger bevölkert als vor dem Sturm, in dessen Gefolge etwa 1800 Personen ums Leben kamen.

Eliminiertes Kleingewerbe

Manche Stadtviertel haben sogar Bewohner hinzugewonnen, solche, die sich mehr Sicherheit leisten können. Eine der am heftigsten überfluteten Zonen, der sogenannte Lower 9th Ward, hat erst rund ein Fünftel so viele Anwohner wie vor «Katrina». Zwar sind entlang der Hauptstrasse und in deren Nähe manche Gebäude bewohnt, doch erscheint die Gegend dahinter ausgestorben. Nicht nur der lokale Walmart – ein gigantischer Supermarkt – wurde zerstört, sondern auch das Kleingewerbe. Die Wiedereröffnung des Walmart an.....


18. Mai 2010, Neue Zürcher Zeitung
New Orleans erfindet sich neu
Die Verwüstung der Stadt durch den Wirbelsturm «Katrina» ist auch eine Chance

Von der Ölpest am nahen Golf von Mexiko ist New Orleans vorläufig nicht betroffen. Aber die Stadt kämpft noch immer mit den Folgen des Hurrikans «Katrina». Vorausschauende Köpfe wollen diese Katastrophe als Chance für eine Neugestaltung nutzen.

Beat Ammann, New Orleans

Als Ende August 2005 der Wirbelsturm «Katrina» an New Orleans vorbeizog, verwüstete er nicht eine blühende Stadt, sondern eine im Niedergang. Seit dem Höchststand 1960, als New Orleans knapp 630 000 Einwohnerinnen und Einwohner zählte, sank deren Anzahl bis 2000 auf etwa 485 000. Laut Schätzungen sind es derzeit gut 350 000 Personen; viele Evakuierte sind nicht zurückgekehrt. Die von Hochwasser am wenigsten bedrohten und daher von Wohlhabenden bewohnten Viertel sind kaum weniger bevölkert als vor dem Sturm, in dessen Gefolge etwa 1800 Personen ums Leben kamen.

Eliminiertes Kleingewerbe

Manche Stadtviertel haben sogar Bewohner hinzugewonnen, solche, die sich mehr Sicherheit leisten können. Eine der am heftigsten überfluteten Zonen, der sogenannte Lower 9th Ward, hat erst rund ein Fünftel so viele Anwohner wie vor «Katrina». Zwar sind entlang der Hauptstrasse und in deren Nähe manche Gebäude bewohnt, doch erscheint die Gegend dahinter ausgestorben. Nicht nur der lokale Walmart – ein gigantischer Supermarkt – wurde zerstört, sondern auch das Kleingewerbe. Die Wiedereröffnung des Walmart an einem anderen, weniger überschwemmungsgefährdeten Ort stellte für die Ansässigen einen erleichtert zur Kenntnis genommenen Etappensieg dar – ein Stück Normalität war zurückgewonnen. Ähnliches gilt für die Aufnahme des Betriebs einer neuen Tankstelle im Lower 9th Ward, mit angeschlossenem Schönheitssalon, oder die Wiederherstellung des Gebäudes der Nationalgarde.

Doch handelt es sich erst um vereinzelte Lichtblicke. Die Stadt hat sich jüngst einen Masterplan verschrieben. Dieser versucht, die von «Katrina» bewirkten Umschichtungen sozialer Natur sowie die physischen Zerstörungen zu einer umfassenden Modernisierung der Stadt zu nutzen. Der Begleittext zum Plan stellt nüchtern fest, die Anzahl der Lebensmittelläden pro Anwohner sei gesunken. Dies verrät einen Strukturwandel, verursacht durch die Eliminierung des Kleingewerbes, das die meisten Arbeitsplätze hervorbringt. Deswegen sind die Verdienstmöglichkeiten zurzeit beschränkt. Ohne Aussicht auf Arbeit werden viele Evakuierte nicht zurückkehren. Manche haben sich fern der Heimat, etwa in Houston (Texas), Atlanta (Georgia) oder noch viel weiter weg, ein neues Leben aufgebaut und wollen nicht wieder umziehen.

Fehlende Dynamik

Nicht, dass New Orleans vor «Katrina» wirtschaftlich eine dynamische Stadt gewesen wäre. Man erlebte einen Erdölboom, der in den achtziger Jahren endete. Seither sei nicht viel passiert, stellt der Masterplan fest. Laut dessen analytischem Kapitel lebt ein für Amerika ungewöhnlich hoher Anteil der Einwohnerschaft seit Generationen hier. Dies erklärt jene einzigartige Kultur, für die die Stadt weltberühmt ist. Es ist aber auch die höfliche Umschreibung dessen, was andere Leute – eher weisser Hautfarbe – als eine Ursache der Stagnation empfanden: ein zu gutes Angebot staatlicher Unterstützung, weswegen manche Sozialhilfeempfänger keinen Anreiz verspürt hätten, sich vom amtlich dargebotenen Tropf zu lösen.

Es besteht, so ist oft zu hören, verbreitetes Anspruchsdenken. Kenner fügen hinzu, dieses Denken sei keineswegs mit einer generellen Untätigkeit einhergegangen. Vielmehr habe eine – nicht nur kriminelle – Schwarzwirtschaft existiert, die zwar vielen Leuten ein Auskommen, aber kaum soziale Mobilität bot.

Ablehnung gegen Zuwanderer

Der Politikwissenschafter John Kiefer, der an der University of New Orleans lehrt, sieht die Herausforderung darin, Kleinbetriebe – alte und neue – in die Stadt zu bringen. New Orleans habe immer eine zu grosse von Sozialhilfe abhängige Anwohnerschaft gehabt. Louisiana habe von allen Gliedstaaten der Vereinigten Staaten die niedrigste Rate geografischer Mobilität. Grosszügige Sozialhilfe habe New Orleans aus den falschen Gründen attraktiv gemacht, da es leicht gewesen sei, etwa in den Genuss einer Sozialwohnung zu kommen. Laut Kiefer müsste man in erster Linie in höhere Bildung und in Fabriken investieren. Der Masterplan sei in dieser Hinsicht säumig.

Sozialhilfeempfänger sind überwiegend schwarz und leben oder lebten in den weniger günstig gelegenen, überschwemmungsgefährdeten Vierteln. Die Umgestaltung der Stadt – sollte sie gelingen – könnte dazu führen, dass sie im Vergleich zum Zustand vor dem Sturm, was die Einwohnerschaft betrifft, älter wird, weisser, reicher und höher gebildet. Für die einen ist dies unvermeidlich, damit die angestrebte Modernisierung in Gang komme, andere sehen diese Umschichtung als das Ergebnis einer gezielten Verdrängung von Schwarzen und Armen.

Bereits sind mehr als zehn Prozent der Einwohnerschaft Personen, die sich nach «Katrina» neu hier angesiedelt haben. Es sind nicht Sozialhilfeempfänger, sondern oft gut ausgebildete Fachleute, die Chancen wittern, die es anderswo nicht gibt. Eine solche Zugewanderte, die Politologin Liz Stein, berichtet, nicht selten bekomme sie die Ablehnung Alteingesessener zu spüren. Man gebe ihr zu verstehen, dass Neulinge wie sie als ein Hebel der Weissen und Reichen empfunden würden, die Stadt ihres bisherigen Charakters zu berauben.

Klar ist, dass niemand das New Orleans vom Vorabend «Katrinas» zurückhaben will, eine Stadt, die einem Sturm erlag, der bei weitem nicht der stärkste anzunehmende war. Die Stadt ist ein Labor für Initiativen aller Art geworden. Kiefer vergleicht New Orleans nach «Katrina» mit Haiti nach dem Erdbeben vom Januar. Die Stadt sei vor der Katastrophe wegen lokal hochkonzentrierter Armut und geringer sozialer Mobilität dysfunktional gewesen. Nun bestehe Gelegenheit, sie zu verbessern.

Der nächste Sturm

In den subtropisch üppigen Wohnvierteln der sogenannten Uptown – um ein paar entscheidende Fuss höher gelegen – und im Garden District wirkt das Leben normal und gutbürgerlich. Im Lower 9th Ward hingegen, in geringerem Masse auch in Gentilly nahe dem Lake Pontchartrain, sind die Probleme für Eingeweihte leicht sichtbar. Zu den Eingeweihten zählt Juana Ibáñez, eine Mitarbeiterin am Geografischen Institut der University of New Orleans.

Da sie hier geboren und aufgewachsen ist, kennt sie die Stadt. Und sie lernte «Katrina» kennen. Ihr Haus stand drei Wochen lang im Wasser. Sie kennt die von Giftstoffen verseuchte Brühe, den Dreck, den fast ein Jahr anhaltenden Gestank, das provisorische, über drei Jahre dauernde Leben in einem vom Staat zur Verfügung gestellten Wohnwagen, den Papierkrieg um Schadenersatz und um Subventionen für das Anheben des Hauses auf Stelzen, drei Fuss über dem «zu erwartenden schlimmsten Hochwasser» – denn der nächste Sturm kommt bestimmt.

Ibáñez weiss die Zeichen zu lesen, und sie kennt die dazugehörigen Geschichten, die die Leere zu füllen vermögen, die sich seit «Katrina» oft dort erstreckt, wo früher Tausende lebten und arbeiteten. Wuchert auf einer der stets rechteckigen Parzellen Dickicht, gehört sie vermutlich jemandem unbekannten Aufenthalts. Wächst Gras, das gemäht wird, hat die öffentliche Hand das Land übernommen. Viele seit der Evakuation abwesende Besitzer haben die Grundstücksteuern nicht bezahlt und melden sich daher nicht. Anderswo gibt es Leute, die behaupten, Eigentümer zu sein, doch sagt das Grundbuch etwas anderes. In schwarzen Grossfamilien, erzählt Ibáñez, wird Besitz oft ohne Verträge und Unterschriften vererbt oder übertragen. Für die Mitglieder der Familie ist alles klar und unumstritten, doch nun müsste man einen Anwalt beiziehen, der die Abfolge von Besitzern dokumentiert und ins offizielle System einspeist. Aber wer kann sich einen Anwalt leisten, wenn man im Sturm Haus und Hab und Gut verloren hat?

Andere haben als ordentliche Besitzer Subventionen beansprucht, zum Beispiel, um Türen und Fenster eines Hauses mit Läden zu versehen, die einem Sturm widerstehen. Vielleicht haben sie das Geld aber für andere Zwecke ausgegeben. Was nun? Wieder andere verzichteten auf jene Subventionen, mit denen der Staat das Niederreissen eines schwerbeschädigten Gebäudes fördert. Gewisse Versicherungen bezahlen für Verluste wegen entgangenen Verdienstes, aber nur, solange das Geschäftslokal, in dem einst Verdienst erwirtschaftet wurde, in unbrauchbarem Zustand existiert. Daher versuchen Besitzer die Ruine so lange wie möglich als Versicherungsfall stehen zu lassen.

Alle Freiwilligen sind weiss

Man erkennt, wie komplex die Bewältigung eines Ereignisses wie «Katrina» ist. Ibáñez möchte der ganzen Welt danken, denn aus der ganzen Welt komme Hilfe. Nicht nur Berühmte wie Brad Pitt bauten hier Häuser und unterstützten Schulen, sondern viele minder Bekannte und namenlose junge Freiwillige, die für einen temporär gedachten Einsatz herkämen und sich danach oft gleich niederliessen. Allerdings sei auffällig, dass alle Freiwilligen weisser Hautfarbe seien und alle, die Lohnarbeit leisteten, Latinos. In der Tat ist der Anteil der Latinos an der Bevölkerung seit dem Sturm gestiegen, jener der Schwarzen hingegen ist gesunken, laut Ibáñez von drei Vierteln vor «Katrina» auf drei Fünftel.

Mittwoch, Mai 19, 2010

Die gefährlichsten Fans der Welt

Tages Anzeiger Online 18.05.2010
Die gefährlichsten Fans der Welt
Von Sandro Benini, Buenos Aires.

Das argentinische Superderby Boca Juniors gegen River Plate ist mehr als ein Fussballspiel – es ist ein Kampf zwischen kriminellen Fanorganisationen. Deren Macht ist weltweit einzigartig.

Es ist der Höhepunkt der argentinischen Fussballsaison, ein Klassiker mit internationaler Ausstrahlung, ein Duell zwischen Giganten. Das Spiel Boca Juniors gegen River Plate, den traditionsreichsten Stadtklubs von Buenos Aires, findet immer in der Mitte der Meisterschaft statt, um zu verhindern, dass es deren Ausgang entscheidet. Aber auch so geht es für die Anhänger der beiden Teams nicht bloss um Sieg oder Niederlage, sondern um die eigene Ehre, und deshalb kann jede Begegnung zwischen Boca und River zur blutigen Schlacht zwischen verfeindeten Ultras werden.

«Wilde Bande»

Organisiert sind sie in zwei Vereinigungen, die wie alle argentinischen Fanclubs «barra brava» («wilde Bande») genannt werden. Jene von Boca Juniors heisst «La Doce», die Zwölf – dies, weil sich ihre Mitglieder als zwölften Spieler der Mannschaft betrachten. Der Name der River-Fans ist um einiges realistischer: «Los borrachos del tablón», die Besoffenen der Theke. Boca gegen River ist mehr als ein Fussballspiel: Es ist auch eine Auseinandersetzung zwischen zwei sozialen Klassen. Denn obwohl beide Klubs im ärmlichen....


Tages Anzeiger Online 18.05.2010
Die gefährlichsten Fans der Welt
Von Sandro Benini, Buenos Aires.

Das argentinische Superderby Boca Juniors gegen River Plate ist mehr als ein Fussballspiel – es ist ein Kampf zwischen kriminellen Fanorganisationen. Deren Macht ist weltweit einzigartig.

Es ist der Höhepunkt der argentinischen Fussballsaison, ein Klassiker mit internationaler Ausstrahlung, ein Duell zwischen Giganten. Das Spiel Boca Juniors gegen River Plate, den traditionsreichsten Stadtklubs von Buenos Aires, findet immer in der Mitte der Meisterschaft statt, um zu verhindern, dass es deren Ausgang entscheidet. Aber auch so geht es für die Anhänger der beiden Teams nicht bloss um Sieg oder Niederlage, sondern um die eigene Ehre, und deshalb kann jede Begegnung zwischen Boca und River zur blutigen Schlacht zwischen verfeindeten Ultras werden.

«Wilde Bande»

Organisiert sind sie in zwei Vereinigungen, die wie alle argentinischen Fanclubs «barra brava» («wilde Bande») genannt werden. Jene von Boca Juniors heisst «La Doce», die Zwölf – dies, weil sich ihre Mitglieder als zwölften Spieler der Mannschaft betrachten. Der Name der River-Fans ist um einiges realistischer: «Los borrachos del tablón», die Besoffenen der Theke. Boca gegen River ist mehr als ein Fussballspiel: Es ist auch eine Auseinandersetzung zwischen zwei sozialen Klassen. Denn obwohl beide Klubs im ärmlichen Hafenort La Boca gegründet wurden, ist River in den Dreissigerjahren in einen Stadtteil umgezogen, der vor allem von der Mittel- und Oberschicht bewohnt wird. Laut der englischen Zeitung «The Observer» ist die Partie das spektakulärste Sportereignis der Welt.

Der Sonntag des vergangenen Superderbys. Das Spiel ist längst ausverkauft, doch Arturo verspricht, einen deutschen Kollegen und mich für umgerechnet 100 Franken trotzdem ins Stadion zu bringen. Der von Kopf bis Fuss Klubfarben tragende Fan ist schliesslich ein Mitglied von La Doce und verfügt über beste Kontakte, die er nun per Handy anruft. «Zwei Ausländer. Ja, sie haben soeben bezahlt. Alles ok?» In strömendem Regen machen wir uns auf den Weg zum Stadion «La Bombonera», dessen Zuschauerränge sich fast senkrecht und bedrohlich nahe am Spielfeldrand erheben. La Bombonera steht trichterförmig mitten im Boca-Viertel; in den umliegenden Strassen ertönen Schlachtgesänge; bewaffnete Polizisten haben Sperren errichtet. Die Menschenmenge wird zusammengepresst.

Die Schutzbefohlenen


Arturo hat versprochen, uns mitten in den Fanblock zu lotsen; an einer Abschrankung gibt er den Ordnungskräften Anweisungen, als wäre er ihr Kommandant. Aber bevor sie uns durchlassen können, werden wir abgedrängt, die Menge reisst uns mit und zwängt uns gegen eine Absperrung. Der Druck wird von Sekunde zu Sekunde grösser, Anflüge von Panik. Im Stadion ist ein junger Mann auf eine Brüstung geklettert und droht, sich auf die Strasse hinunterzustürzen. Die Fans rufen ihm zu: «Spring doch! Spring doch!» Ein Feuerwehrauto fährt vor, irgendwann steigt der vermeintliche Selbstmörder wieder herunter.

Jenseits der Absperrung erscheint plötzlich Arturo. Er schreit einen Polizisten an, die zwei Ausländer sofort durchzulassen, der Uniformierte zerrt mich am Arm und schubst andere Matchbesucher nach hinten, schafft einen schmalen Durchlass. Schliesslich dränge ich mich auf die andere Seite. Arturo deutet auf den nächsten Stadioneingang. «Ihr geht jetzt da rein!», befiehlt er. Aber da wird doch kontrolliert, und wir haben keine Eintrittskarten. Ob solcher Zweifel an seiner Autorität kann Arturo nur wütend den Kopf schütteln. «Geht einfach rein, macht schon!» Als wir uns zum Eingangsdrehkreuz durchgekämpft haben, steckt der Kontrolleur wortlos seine eigene Karte in den Schlitz. Er verwendet sie auch für alle anderen Schutzbefohlenen von La Doce. Aufatmen, wir sind drin – zwar nicht auf der Ultra-Tribüne, sondern auf jener gegenüber. Aber seis drum.

La Doce ist kein Fanklub, sondern die gefährlichste, gewalttätigste Fanbande der Welt, und wie Arturos Verhalten gegenüber Polizisten und Stadionwächtern beweist, ist es auch eine Kriminellenorganisation mit grosser wirtschaftlicher Macht. Die Leitung des Fussballklubs Boca Juniors stellt La Doce für jedes Spiel eine bestimmte Anzahl Eintrittskarten zur Verfügung; ihre Mitglieder streichen für jeden Parkplatz rund ums Stadion Gebühren ein; sie handeln mit Fanartikeln und verkaufen Drogen. Selbst bei der Wahl des Klubpräsidenten sowie der Spieler haben sie ein gewichtiges Wort mitzureden, und sie unterhalten beste Beziehungen zu den politischen Parteien. Zwar bestreitet die Klubleitung, mit den Ultras zusammenzuarbeiten oder sich von ihnen einschüchtern zu lassen, aber in Argentinien weiss jeder, dass dies ein reines Lippenbekenntnis ist.

Gewinnt! Oder es gibt Schläge!


Da die Boca Juniors nach mehreren verlorenen Partien gegenwärtig in der unteren Tabellenhälfte vor sich hindümpeln, hat La Doce die Spieler kürzlich zu einer Aussprache aufgeboten. Dabei bekamen die Fussballprofis zu hören, ihre miesen Leistungen würden dem Geschäft schaden. «Euretwegen kommen weniger Leute zu den Spielen, und deshalb verdienen wir weniger Geld. Reisst euch zusammen und gewinnt endlich. Sonst treffen wir uns wieder, und dann habt ihr ein ernstes Problem», drohte der Doce-Chef Mauro Martín, der in Begleitung mehrerer Schläger erschienen war. Nachdem sich der Boca-Star und Nationalspieler Juan Román Riquelme öffentlich über die Einschüchterung beklagt hatte, brauchte er Polizeischutz.

Die Macht argentinischer Ultras beruht auf der überragenden sozialen und ökonomischen Bedeutung des hiesigen Fussballs; ihre kriminellen Aktivitäten gedeihen dank der Korrumpierbarkeit von Polizei und Justiz. Die einzelnen Organisationen haben meist eine lange Tradition; ihre von Kämpfen und angeblichen Heldentaten geprägte Geschichte wird verbreitet wie ein Mythos. Laut dem holländischen Experten Otto Adang ist die argentinische Ultra-Szene weltweit einzigartig. In Europa würden gewalttätige Fans zwar immer wieder Aufsehen erregen, aber letztlich seien sie innerhalb des Fussballbetriebs marginalisiert, erklärte er vor einem Jahr gegenüber der Zeitung «Olé». «In Argentinien hingegen gehören sie zum System. Deshalb ist das Problem hier unvergleichlich schlimmer. Um es zu lösen, müsste man das ganze System grundlegend ändern.»

Mafiosi und Manager

Zwar besteht auch eine argentinische «barra brava» mehrheitlich aus Angehörigen der Unterschicht, die der Öde ihrer Existenz zu entfliehen versuchen, indem sie sich am Wochenende volllaufen lassen und prügeln. Aber die Anführer der Fanbanden gebärden sich kraft der Gewaltbereitschaft ihrer Untergebenen und der ökonomischen Macht ihrer Organisationen gleichermassen als Mafiosi wie als Manager. Zur Hochzeit des ehemaligen Doce-Chefs Rafael Di Zeo mit der Privatsekretärin des Gouverneurs von Buenos Aires erschienen auch Diego Maradona sowie der höchste Sicherheitsfunktionär der Provinz, der für die Ordnung in den Stadien zuständig ist. Doch alles kann sich ein Ultra-Boss selbst in Argentinien nicht leisten. Der legendäre Doce-Anführer José Barrita alias El Abuelo («der Grossvater») landete ebenso im Gefängnis wie sein Nachfolger Di Zeo. Barrita soll mehrere Morde an River-Fans in Auftrag gegeben haben.

«Nur Fussballfans. Mehr nicht.»


Wer ein Doce-Mitglied auf dessen Zugehörigkeit zur Vereinigung anspricht, stösst auf eisernes Schweigen. «Wir sind einfach Fussballfans. Mehr gibt es dazu nicht zu sagen», lautet die stereotype Antwort. Kurz vor Spielbeginn treffen unter dröhnendem Getrommel die Anführer von La Doce in der Bombonera ein, inmitten von Fahnen und Transparenten. Wehe, wenn die Anhänger der gegnerischen Mannschaft eine dieser Fahnen erobern – das gilt für eine «barra brava» als grösste Schmach überhaupt. «Ihr könnt uns imitieren, aber ihr werdet niemals mit uns gleichziehen», heisst es auf einem der gigantischen Transparente.

In den Gängen des Stadions riecht es nach Urin, weil sich dort mehrere Besucher umstandslos erleichtern. Die Gesänge sind ohrenbetäubend. Die Anhänger von River befinden sich auf einer höher gelegenen Tribüne und spucken auf die gegnerischen Fans hinunter, einige urinieren in Cola-Flaschen und verschütten den Inhalt über ihre Feinde. Schliesslich laufen die beiden Mannschaften ein, der Match beginnt. Noch immer regnet es in Strömen. Die Spieler rutschen aus, der Ball bleibt in den vielen Wasserlachen hängen, und nach zehn Minuten pfeift der Schiedsrichter ab. Das Superderby muss an einem anderen Tag ausgetragen werden – und für einmal ist daran nicht eine Schlägerei auf den Rängen, sondern das schlechte Wetter schuld. Drei Tage später besiegt Boca River mit 2:0. (Tages-Anzeiger)

Montag, Mai 17, 2010

Kirgistan: «Wir gehen nicht zurück»

14. Mai 2010, Neue Zürcher Zeitung
«Wir gehen nicht zurück»
Bischkeks Vororte als Spiegel gesellschaftlicher Umbrüche in Kirgistan

Beim Umsturz in Kirgistan haben junge Leute aus den Vororten der Hauptstadt eine wichtige Rolle gespielt. Viele sind auf der Suche nach Arbeit hierhingezogen. Die neue Regierung steht vor der Herausforderung, ihnen eine Perspektive zu geben.

Bernd Steimann und Susan Thieme

Vier Wochen nach den Strassenschlachten in Bischkek scheint weiterhin unklar, wer genau Präsident Kurmanbek Bakijew in die Flucht geschlagen und den Umsturz in Kirgistan herbeigeführt hat. Unter anderem wurde berichtet, dass es sich bei den Aufständischen vor allem um ungebildete, arbeitslose Zugezogene vom Land aus den Vororten Bischkeks gehandelt habe. Laut Augenzeugen haben sich den Protesten jedoch unterschiedlichste Bevölkerungsschichten angeschlossen.

Ein Unruheherd

«Ich war von Anfang an mit dabei, rannte und kämpfte. Rings um mich her kamen Leute ums Leben», erzählt etwa Kuban Aschyrkulow. Der Ingenieur, der früher für die OSZE gearbeitet hat und heute einen......

14. Mai 2010, Neue Zürcher Zeitung
«Wir gehen nicht zurück»
Bischkeks Vororte als Spiegel gesellschaftlicher Umbrüche in Kirgistan


Beim Umsturz in Kirgistan haben junge Leute aus den Vororten der Hauptstadt eine wichtige Rolle gespielt. Viele sind auf der Suche nach Arbeit hierhingezogen. Die neue Regierung steht vor der Herausforderung, ihnen eine Perspektive zu geben.

Bernd Steimann und Susan Thieme

Vier Wochen nach den Strassenschlachten in Bischkek scheint weiterhin unklar, wer genau Präsident Kurmanbek Bakijew in die Flucht geschlagen und den Umsturz in Kirgistan herbeigeführt hat. Unter anderem wurde berichtet, dass es sich bei den Aufständischen vor allem um ungebildete, arbeitslose Zugezogene vom Land aus den Vororten Bischkeks gehandelt habe. Laut Augenzeugen haben sich den Protesten jedoch unterschiedlichste Bevölkerungsschichten angeschlossen.

Ein Unruheherd

«Ich war von Anfang an mit dabei, rannte und kämpfte. Rings um mich her kamen Leute ums Leben», erzählt etwa Kuban Aschyrkulow. Der Ingenieur, der früher für die OSZE gearbeitet hat und heute einen kirgisischen Wirtschaftsverband leitet, verwahrt sich gegen die Vermutung, am 7. April habe sich lediglich der arbeitslose Mob den Frust von der Seele geprügelt. «Tatsächlich kämpften zu Beginn vor allem Leute aus den Vororten mit der Polizei», berichtet er. Dann aber seien innert kürzester Zeit Tausende von Menschen ins Zentrum geströmt, die via Mobiltelefon vom Aufstand erfahren hätten, zuerst Bewohner der Kernstadt, dann aber auch immer mehr Leute aus weiter entfernten Dörfern. Aufgefallen ist Aschyrkulow vor allem, dass es mehrheitlich junge Leute waren, die an vorderster Front kämpften und die Sicherheitskräfte schliesslich in die Flucht schlugen.

Die Ereignisse vom 7. April mögen damit als regelrechter Volksaufstand gelten. Dennoch lässt sich nicht von der Hand weisen, dass Bischkeks rasch wachsende Vororte zu einem Unruheherd geworden sind, der nicht nur massgeblich zum Sturz der Regierung Bakijew beigetragen hat, sondern auch die Interimsregierung bereits wieder vor Probleme stellt. Dies belegen auch die jüngsten, gewalttätigen Auseinandersetzungen um Bauland in mehreren Vororten der Stadt.

Diese Probleme sind nicht neu. Durch Landflucht ist das einst beschauliche Bischkek seit den frühen neunziger Jahren zu einer Grossstadt mit 1,5 Millionen Einwohnern herangewachsen. An ihren Rändern sind mehr als 30 neue Siedlungen mit bis zu 7000 Haushalten entstanden. Diesen planlos wuchernden Neubaugebieten, den sogenannten «nowostroiki», mangelt es meist an Infrastruktur, und der Lebensstandard ist entsprechend tief. Dennoch ziehen immer mehr Menschen aus allen sozialen Schichten und Landesgegenden nach Bischkek. Während viele nur die obligatorische Schule besucht haben, bringen andere ein Universitätsdiplom oder langjährige Berufserfahrung mit. Gemein ist ihnen allen, dass sie auf dem Land für sich und ihre Familie kein Auskommen mehr finden. Viele träumen davon, in Bischkek irgendwann ein eigenes Haus zu bauen.

Verarmte Landbevölkerung

Einer, der das bereits geschafft hat, ist Maksat Kubatbekow. Nachdem der ehemalige Ingenieur mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion 1991 seine Anstellung verloren hatte, beschloss er, sein Glück in Russland zu versuchen. Er verkaufte all sein Vieh und liess Frau und Kinder vorerst in seinem Heimatdorf Ylaitalaa im Süden Kirgistans zurück. «Als ich nach Russland ging, realisierte ich, dass ich vom Staat nichts mehr erwarten kann», erzählt er rückblickend. Diese Einsicht teilte er damals mit Tausenden von Landsleuten.

Dank gesicherten Anstellungen, subventionierten Lebensmitteln und kostenloser Gesundheitsversorgung hatte das Sowjetsystem der ländlichen Bevölkerung bis 1991 ein Leben auf zwar bescheidenem, aber erträglichem Niveau garantiert. Mit der Unabhängigkeit Kirgistans brach eine äusserst schwierige Zeit an, die für viele Familien bis heute andauert. In einem für Zentralasien beispiellosen Reformprogramm wurde der gesamte Agrarsektor der jungen Republik innert weniger Jahre privatisiert.

Land, Vieh und Maschinen der ehemaligen Kollektivbetriebe wurden an die Bevölkerung verteilt. Schon 1995 gab es in Kirgistan Hunderttausende neuer, aber kaum konkurrenzfähiger landwirtschaftlicher Familienbetriebe. Die Folge waren wiederholte Missernten, kollabierende Tierbestände und ein sprunghafter Anstieg der Armut auf dem Lande. Nach Schätzungen der Uno leben heute noch immer etwa 40 Prozent der kirgisischen Bevölkerung unter der Armutsgrenze.

Wachsende Ungleichheit

Die anhaltende Not, teilweise massive Steuerbelastungen und die verbreitete Korruption im Staatsapparat führen auch dazu, dass es im ländlichen Raum noch immer kaum private Unternehmen gibt. Stattdessen verfügt Kirgistan über eine Schattenwirtschaft, deren Umfang der kirgisische Wirtschafts- und Politikexperte Nur Omarow für 2009 auf 1,65 Milliarden Euro schätzt. Das entspricht etwa der Höhe des kirgisischen Staatshaushalts.

Hinzu kommt, dass sich der Graben zwischen Besitzenden und Mittellosen seit der Unabhängigkeit auch auf lokaler Ebene vertieft hat. Unter anderem hat die oft unkontrollierte Privatisierung der Landwirtschaft dazu geführt, dass viele der ehemals leitenden Angestellten der Kollektivbetriebe heute die besten Ländereien und die gesündesten Tiere besitzen. In einem Land, dessen Bevölkerung vorwiegend von Viehzucht und Ackerbau lebt, wiegen solche Ungleichheiten schwer und führen schliesslich zu neuen Abhängigkeiten zwischen Arm und Reich.

«Für Leute mit wenigen Tieren ist es sehr schwierig», meint etwa Kalkan Turganbajew, ein Bauer aus Kyzyl-Tuu, einem Dorf im Südosten des Landes. «Unseren Nachbarn wurden die Kinderzulagen gestrichen, und nun verkaufen sie ihre letzten Ziegen. Bald werden sie sich bei reicheren Leuten verdingen müssen.» Ähnliche Abhängigkeiten entstehen durch das Verleihen von Geld. Weil sich die Ärmsten auch Kleinkredite kaum leisten können, leihen sie oft kleine Summen von reicheren Nachbarn, um Lebensmittel und Schulmaterial zu kaufen. Nicht selten wird diese Schuld durch Fronarbeit abbezahlt.

Wege der Migration

Um dieser Armutsspirale und der allgemeinen Perspektivlosigkeit auf dem Land zu entkommen, versuchen viele ihr Glück anderswo. Wer es sich leisten kann, schickt wenigstens ein Familienmitglied in die Hauptstadt oder weiter nach Kasachstan und Russland, wo bessere Löhne bezahlt werden. Die Migration verläuft dabei fast immer über persönliche Netzwerke. Verwandte werden nachgezogen, oder der Nachbar weiss eine gute Adresse. Auch Maksat Kubatbekows Familie gelangte auf diese Weise schliesslich nach Bischkek. Nachdem er in Russland mit dem Handel von Textilien genug verdient hatte, kehrte Kubatbekow 1994 nach Kirgistan zurück – jedoch nicht in sein Heimatdorf Ylaitalaa. Stattdessen kaufte er sich ein Haus am Rand von Bischkek und einen Marktstand im grössten Basar der Stadt. Bald darauf folgte seine Frau Gunara, eine arbeitslose Buchhalterin, mit den zwei Kindern.

Eine ähnliche Geschichte erzählt Satyrbek Osmonow. Auch er hat Ylaitalaa vor einigen Jahren verlassen. Mit dem Diplom einer technischen Hochschule, aber ohne berufliche Perspektive, begann er erst in Russland, dann in Kasachstan Handel zu treiben. Dabei war ihm stets klar, dass er irgendwann nach Kirgistan zurückkehren würde, allerdings nicht mehr zurück ins Dorf. «Meine jüngere Schwester und ich haben bereits zwei Häuser in Bischkek gekauft», erzählt der junge Mann, der von sich sagt, in Kasachstan ein etablierter Unternehmer zu sein. «Wir gehen nicht zurück, solange es im Dorf keine Einkommensmöglichkeiten gibt.» Dennoch schicken die beiden Geschwister weiterhin Geld nach Hause. Der Druck, für die Familie auf dem Land zu sorgen, hält an – trotz oder vielleicht gerade wegen der gegenwärtigen politischen und ökonomischen Unsicherheiten.

Laut Schätzungen arbeiten mittlerweile 10 bis 20 Prozent der kirgisischen Bevölkerung im Ausland, das sind etwa 30 Prozent aller Erwerbstätigen. 2008 entsprachen ihre Geldüberweisungen in die Heimat einem Drittel des kirgisischen Bruttoinlandprodukts. Inzwischen hat die Wirtschaftskrise zwar zu einem Rückgang der Überweisungen geführt, doch sind längst nicht alle Arbeitskräfte in ihre Dörfer zurückgekehrt. Das trifft die ländlichen Regionen besonders hart und offenbart mehr denn je die Kehrseite der Migration. Zwar sichert die Auswanderung das Überleben eines Grossteils der ländlichen Bevölkerung und führt zu einer engen Verflechtung von Stadt und Land. Gleichzeitig aber schwächt sie den ländlichen Raum, weil in den Dörfern vor allem alte Leute und ihre Enkelkinder zurückbleiben.

Während die Alten noch auf eine Rückkehr ihrer Kinder hoffen, lösen sich diese früher oder später von ihrem Herkunftsort und suchen ihre Zukunft in der Stadt. Auch die Familie Kubatbekow ist in dieser Frage gespalten. Während die Eltern inzwischen über eine Rückkehr nach Ylaitalaa nachdenken, wollen ihre Kinder in Bischkek bleiben. «Ich würde gerne zurück, wir haben ja noch Tiere und ein Haus dort», sagt Gunara. «Aber natürlich gehe ich erst, wenn die Kinder verheiratet sind.»

Veränderte Stadtstruktur

Doch wenn die junge Generation wegbleibt, fehlt dem ländlichen Raum die langfristige wirtschaftliche Perspektive. Dies wiederum veranlasst noch mehr Menschen, in die Stadt zu ziehen. Bereits hat die Uno auf einen zunehmenden Mangel an Lehrpersonen und fallende Bildungsstandards auf dem Land aufmerksam gemacht. Auch ist nicht absehbar, wer sich in Zukunft um die Alten in den Dörfern kümmern soll.

Das Geld, welches nicht in die Dörfer fliesst, wird darum vorwiegend in Bauland am Rande Bischkeks investiert. Nicht immer geschieht dies auf legalem Weg. Bereits in den frühen neunziger Jahren entstanden durch erste Landbesetzungen neue Vororte. 2005 beschleunigte sich diese Entwicklung, als während der «Tulpenrevolution» Tausende von Menschen aus dem Süden nach Bischkek kamen. Viele von ihnen gingen danach jedoch nicht mehr zurück und besetzten stattdessen Land vor den Toren der Stadt. Der Regierung Bakijew gelang es nicht, diese Aneignungen zu verhindern und die Situation in den Vororten zu kontrollieren.

Diese planlose Ansiedlung hat die Stadtstruktur stark verändert. Die Zugezogenen sind sichtbarer Teil der Stadtbevölkerung geworden, sie dominieren die grossen Basare der Stadt und bieten Dienstleistungen aller Art an. Viele kombinieren dabei Arbeit und Ausbildung. Nargisa, die mittlerweile 16-jährige Tochter der Kubatbekows, arbeitet zwar die Hälfte der Woche am Marktstand ihrer Eltern, geht daneben aber zur Schule und hofft auf ein Studium an einer medizinischen Fachschule. Ihr Bruder Rustam studiert bereits, verbringt seine Sommerferien aber auf kasachischen Baustellen, um der Familie unter die Arme zu greifen. Viele der Zugezogenen bleiben damit zumindest teilweise im informellen Sektor tätig, wo die Löhne in der Regel schlecht sind. Die Lebensumstände in den Vororten bleiben deshalb oft prekär. Das mag mit dazu beitragen, dass die vorwiegend jungen Menschen aus den «nowostroiki» oft als Last wahrgenommen werden.

Genau hier scheint eine der grossen Herausforderungen der neuen Regierung zu liegen. Ob als Zwischenstation auf dem Weg ins Ausland oder als neue Heimat der Zurückkehrenden: Die Vororte Bischkeks versammeln ein enormes, von der Politik bisher aber oft verkanntes wirtschaftliches Potenzial und stehen für eine inzwischen äusserst enge Verflechtung von Stadt und Land. Zudem sind sie Heimat vieler junger Menschen, die ihr Leben nicht auf russischen Baustellen und kasachischen Märkten, sondern in Kirgistan verbringen wollen. «Alles hängt davon ab, ob sich die Jungen in Zukunft von der Politik ernst genommen fühlen», meint auch Kuban Aschyrkulow, der miterlebt hat, wie zornige junge Erwachsene am 7. April unter Lebensgefahr den Zaun des Regierungsgebäudes niedergerissen haben. Gelingt dies nicht, scheinen weitere Unruhen unausweichlich.


Bernd Steimann und Susan Thieme arbeiten am Geografischen Institut der Universität Zürich und beschäftigen sich im Rahmen des Nationalen Forschungsschwerpunktes Nord-Süd mit ländlicher Entwicklung und Migration in Kirgistan.

Sonntag, Mai 16, 2010

Music: Van Morrison

Hungry for your love


Days like this


Spanish Steps


Steal my Heart away


Someone like you



Hymns to the Silence

Donnerstag, Mai 13, 2010

To much serious news.......... Need a nonsense break!

We men always wondered. Now science tells us all there is!

"Scientists have finally discovered what is wrong with the female brain:
On the left side, there is nothing right, and on the right side, there is
nothing left..."
;-)

Mittwoch, Mai 12, 2010

Der herzensgute Massenmörder Mussolini

8. Mai 2010, Neue Zürcher Zeitung
Der herzensgute Massenmörder Mussolini
Aram Mattiolis Studie über die Aufwertung des Faschismus im Italien Berlusconis

Franz Haas ⋅ Wer sich in den letzten zwanzig Jahren viel mit Italien und auch nur ein wenig mit seiner Geschichte befasst hat, der wird in diesem Buch nichts grundlegend Neues finden. Und doch macht es Eindruck, in einer so kompakten Zusammenschau noch einmal das ganze Ausmass des Desasters der politischen Kultur Italiens vorgeführt zu bekommen. Der Luzerner Historiker Aram Mattioli lehrt auch den vermeintlich Eingeweihten noch das Gruseln mit seiner Studie « Die Aufwertung des Faschismus im Italien Berlusconis», denn allzu leicht scheint in Vergessenheit zu geraten, was im Bel Paese zunächst schleichend, dann immer unverschämter salonfähig wurde: die Verharmlosung, Verteidigung und Verherrlichung des Duce.

Land ohne historisches Gedächtnis

Aram Mattioli ist nicht der Erste, der Italien «ein Land ohne historisches Gedächtnis» nennt, aber seine brillante Studie ist systematisch, mit vielen Quellen belegt, und ihre Übersichtlichkeit erhöht noch den Schauder vor den Fakten. Sie befasst sich mit der Zeit von den 1980er Jahren bis 2009, vor allem mit den Verheerungen nach dem politischen Erdbeben....


8. Mai 2010, Neue Zürcher Zeitung
Der herzensgute Massenmörder Mussolini
Aram Mattiolis Studie über die Aufwertung des Faschismus im Italien Berlusconis

Franz Haas ⋅ Wer sich in den letzten zwanzig Jahren viel mit Italien und auch nur ein wenig mit seiner Geschichte befasst hat, der wird in diesem Buch nichts grundlegend Neues finden. Und doch macht es Eindruck, in einer so kompakten Zusammenschau noch einmal das ganze Ausmass des Desasters der politischen Kultur Italiens vorgeführt zu bekommen. Der Luzerner Historiker Aram Mattioli lehrt auch den vermeintlich Eingeweihten noch das Gruseln mit seiner Studie « Die Aufwertung des Faschismus im Italien Berlusconis», denn allzu leicht scheint in Vergessenheit zu geraten, was im Bel Paese zunächst schleichend, dann immer unverschämter salonfähig wurde: die Verharmlosung, Verteidigung und Verherrlichung des Duce.

Land ohne historisches Gedächtnis

Aram Mattioli ist nicht der Erste, der Italien «ein Land ohne historisches Gedächtnis» nennt, aber seine brillante Studie ist systematisch, mit vielen Quellen belegt, und ihre Übersichtlichkeit erhöht noch den Schauder vor den Fakten. Sie befasst sich mit der Zeit von den 1980er Jahren bis 2009, vor allem mit den Verheerungen nach dem politischen Erdbeben von 1994, seit dem das Land bis heute keine Ruhe gefunden hat. Damals zauberte der Medienmagnat Berlusconi nach dem Zusammenbruch der Democrazia Cristiana aus deren Ruinen die Partei Forza Italia hervor. Gestützt auf sein TV-Imperium und auf die Rhetorik der Fussballstadien, verbündet mit der xenophoben Lega Nord und mit der damals noch unverblümt rechtsextremen Alleanza Nazionale, gewann er die Wahlen gegen den zerstrittenen Haufen der Linken. Im desorientierten und deprimierten Italien gelingt es ihm bis heute, den Kalten Krieg und den Revisionismus am Köcheln zu halten, seine Gegner durchwegs als Kommunisten zu diffamieren und dem Faschismus rosige Seiten abzugewinnen.

Es sind allerdings nicht alle Vertreter des rechten Lagers so ganz glücklich mit Berlusconis zündelnden Sprüchen: etwa der derzeitige Parlamentspräsident, der sich vom strammen Faschisten zum Demokraten gewandelt hat – veranschaulicht durch Kniefälle in Auschwitz und Bittgänge nach Jerusalem. Diesem widmet Aram Mattioli das Kapitel «Die Metamorphosen des Gianfranco Fini», an dessen gute Absicht er nicht so recht glauben will. Mattioli übersieht freilich die Rolle, die Fini notgedrungen immer mehr übernimmt, die des Feuerwehrmanns, der die Schäden des plappernden Brandstifters mit rügenden Worten einzudämmen versucht.

Die meisten italienischen Revisionisten seien beileibe keine Auschwitz-Leugner, schreibt Mattioli, aber doch sehr emsige Mussolini-Weisswäscher. «Die Erosion des antifaschistischen Grundkonsenses» habe allerdings schon lange vor Berlusconi begonnen, und die Linke sei nicht ganz unschuldig daran. Einerseits hat sie jahrzehntelang einen verkitschten Mythos der Resistenza gepflegt, andererseits hat ihr Führer Togliatti als Justizminister bereits 1946 aus taktischen Gründen eine leichtfertige Generalamnestie für allerlei faschistische Verbrecher erlassen. Für die «Apologie des Faschismus» droht zwar seit 1952 auf dem Papier eine Strafe, aber kein juristischer Hahn kräht danach, und kein internationales Tribunal hat jemals über italienische Massenmörder Gericht gehalten.

Seriöse Historiker haben längst bewiesen, was der italienische Faschismus nicht nur im eigenen Land verbrochen hat. Die Feldzüge in Afrika, in Libyen und vor allem in Abessinien waren nicht nur Eroberungs-, sondern Vernichtungskriege, samt Gaseinsatz und Massenhinrichtungen – Mattioli selbst hat fundierte Studien dazu geschrieben. Auch beim Balkanfeldzug waren die Italiener nicht nur Mandolinenspieler. Insgesamt ist die Diktatur für den Tod von etwa einer Million Menschen verantwortlich, was nie ins kollektive Bewusstsein der Italiener gelangt ist. Die Mär vom guten Onkel Mussolini, der erst unter Hitlers Einfluss Fehler gemacht habe, hielt sich über Jahrzehnte und wird nun, so Mattioli, durch «Berlusconis kalkulierte Tabubrüche» wieder aufgewärmt. Der Regierungschef sei zwar «historisch nicht sonderlich bewandert», aber er hat die grosse Gabe, seine ex-faschistischen Koalitionspartner bei Laune zu halten und Mussolinis «Rosenwasserdiktatur» schönzureden.

Rechtfertigung, Beschönigung

Flankiert wird Berlusconi bei dieser Verniedlichung von Heerscharen in seinen Medien, in Talkshows, TV-Serien und Büchern, die einen Faschismus und auch einen italienischen «Kolonialismus mit menschlichem Antlitz» evozieren. Auch diese Tendenz hat eine lange Tradition: Schon 1947 verfasste der Starjournalist Indro Montanelli die Rechtfertigungsschrift «Buonuomo Mussolini». Ernsthafter und umso einflussreicher waren die Bücher des Historikers Renzo De Felice, der sich 1956 von der Linken losgesagt und unermüdlich an einem milden Mussolini-Bild gearbeitet hatte. Später kam der Politologe Ernesto Galli della Loggia dazu, den bis heute ein seltsamer Revisionismus im «Corriere della Sera» umtreibt, ähnlich wie den Journalisten Giampaolo Pansa, der in seinen reisserischen Bestsellern von blutrünstigen Partisanen und herzensguten Faschisten berichtet.

In der italienischen Gesellschaft haben diese Umtriebe Spuren hinterlassen. Die auftrumpfende Rechte fordert immer schamloser eine Rehabilitierung der «Kämpfer von Salò» in Mussolinis Marionettenregierung ab 1943 sowie eine Gleichstellung der Opfer der Shoah mit jenen der «Partisanengreuel». Politiker wie der ehemalige Staatspräsident Francesco Cossiga können ungestraft von Mussolini als «grossem Staatsmann» schwadronieren, und bekennende Faschisten sind gerngesehene Gäste in Talkshows, nicht nur in Berlusconis Propagandasendern. Etwas zu viel Gewicht gibt Aram Mattioli jedoch der Allgegenwart von faschistischen Symbolen im Alltag, von Mussolini-Weinetiketten bis zu den Spruchbändern der Fussballfans. Diese Art von volkseigener Dummheit gibt es nicht nur in Italien – hier blüht sie allerdings unter dem wohlwollenden Auge der Herrschenden.

Aram Mattioli: «Viva Mussolini!» Die Aufwertung des Faschismus im Italien Berlusconis. Schöningh-Verlag / NZZ Libro, Paderborn/Zürich 2010. 201 S., Fr. 38.–.

Dienstag, Mai 11, 2010

Kinder ausser Atem

10. Mai 2010, Neue Zürcher Zeitung
Kinder ausser Atem

Wie die Temposteigerung in der heutigen Gesellschaft die Lebenswelten der Heranwachsenden verändert

In der heutigen beschleunigten Gesellschaft haben nicht nur Erwachsene einen vollen Terminkalender. Auch der Alltag von Kindern und Jugendlichen ist komplex und reich befrachtet. Sie kommen jedoch erstaunlich gut damit zurecht.

Urs Hafner

Kinder wollen erwachsen werden. Doch das ist nicht unbedingt einfach. Als Säuglinge sind sie zunächst auf die Hilfe der Erwachsenen angewiesen. In der Pubertäts- und Adoleszenzphase dann haben die Jugendlichen keine andere Wahl, als die von ihnen Dankbarkeit erwartenden Eltern abzulehnen – anders können sie nicht selbständig werden, um später an die Stelle der Älteren zu treten. Und als Erwachsene schliesslich wollen sie wieder jung werden.

Etablierung der Kindheit

Die Generationenabfolge ist ein diffiziler Vorgang. Angestossen von bürgerlichen Philanthropen, bereiten die westlichen Gesellschaften die Kinder seit rund zweihundert Jahren auf das Erwachsenwerden vor, indem sie ihnen den pädagogischen Sonderraum der «Kindheit» zur Verfügung stellen. Bis ins 19. Jahrhundert lebte die grosse Mehrheit der Kinder wie Erwachsene. Kaum konnten sie gehen, wurden....


10. Mai 2010, Neue Zürcher Zeitung
Kinder ausser Atem

Wie die Temposteigerung in der heutigen Gesellschaft die Lebenswelten der Heranwachsenden verändert

In der heutigen beschleunigten Gesellschaft haben nicht nur Erwachsene einen vollen Terminkalender. Auch der Alltag von Kindern und Jugendlichen ist komplex und reich befrachtet. Sie kommen jedoch erstaunlich gut damit zurecht.

Urs Hafner

Kinder wollen erwachsen werden. Doch das ist nicht unbedingt einfach. Als Säuglinge sind sie zunächst auf die Hilfe der Erwachsenen angewiesen. In der Pubertäts- und Adoleszenzphase dann haben die Jugendlichen keine andere Wahl, als die von ihnen Dankbarkeit erwartenden Eltern abzulehnen – anders können sie nicht selbständig werden, um später an die Stelle der Älteren zu treten. Und als Erwachsene schliesslich wollen sie wieder jung werden.

Etablierung der Kindheit

Die Generationenabfolge ist ein diffiziler Vorgang. Angestossen von bürgerlichen Philanthropen, bereiten die westlichen Gesellschaften die Kinder seit rund zweihundert Jahren auf das Erwachsenwerden vor, indem sie ihnen den pädagogischen Sonderraum der «Kindheit» zur Verfügung stellen. Bis ins 19. Jahrhundert lebte die grosse Mehrheit der Kinder wie Erwachsene. Kaum konnten sie gehen, wurden sie wie diese gekleidet, assen deren Speisen und mussten arbeitend zur Subsistenz der Familie beitragen. Mit der Etablierung der Kindheit ist das anders geworden. Heute vergnügen sich Kinder und Jugendliche in der Freizeit mit altersgerechtem Spielzeug, tragen farbenfrohe Kleider und lernen in der Schule viele nützliche Dinge für ein eigenständiges Leben. Die Uno-Kinderrechtskonvention von 1989 verbrieft den Anspruch der Kinder auf die Grundrechte.

Wie aber werden Kinder in einer stark beschleunigten Gesellschaft erwachsen? Denn in einer solchen leben wir heute. Auch wenn die Erwachsenen prinzipiell dazu neigen, ihre Vergangenheit zu einer besseren und tiefgründigeren Zeit hochzustilisieren, als es die von den undankbaren Nachkommen geprägte Gegenwart ist – der Beschleunigungsvorgang, der die Gesellschaften mit der industriellen Revolution erfasst hat und seither in immer höheren Kadenzen erschüttert, ist beispiellos. Philosophen und Kulturwissenschafter konstatieren die Schrumpfung der Gegenwart (Hermann Lübbe), die Verflüssigung der Moderne (Zygmunt Bauman), den flexiblen Menschen (Richard Sennett). Und wir versuchen allabendlich, uns präventiv zu entspannen, bevor wir die Termine des nächsten Tages ordnen und nicht zu spät schlafen gehen.

Druck und Tempo

Die Temposteigerung tangiert auch die Kinder. Der Sonderraum der Kindheit existiert oftmals nur mehr in den Köpfen der Erwachsenen; in der Realität kolonialisieren sie diesen mit ihren Ansprüchen. Beispielhaft für diesen Vorgang steht die Uno-Kinderrechtskonvention: Die Rechte, die gewiss keinem Kind vorzuenthalten sind, verdecken die damit verbundenen Pflichten. An ihnen mangelt es nicht. Kaum ist eine Frau schwanger, muss die Gesundheit des Embryos nachgewiesen werden; noch bevor das Kind geboren ist, soll es sich den positiven Einflüssen von schöner Musik und fremden Sprachen öffnen. In der Spielgruppe dann wartet die Frühförderung, in der Schule die Sonderförderung und Nachhilfestunden. Der Leistungsdruck nimmt durch die Standardisierung der Volksschule noch zu, auch wenn die Transparenz des Schulsystems im Interesse der schwächeren Schüler angestrebt wird. Der Druck, sagen die Eltern, sei notwendig, damit die Kinder in der globalisierten Welt den Anschluss nicht verlören; denn wer sich nicht frühzeitig für das Arbeitsleben qualifiziere, disqualifiziere sich selbst.

In der immer schneller sich wandelnden Gesellschaft sind auch die Kinder und Jugendlichen ausser Atem. Auch sie sind gezwungen, eine Agenda zu führen, wenn sie ihren Alltag im Griff haben wollen – eine noch vor wenigen Jahrzehnten unvorstellbare Entwicklung. Neben der Schule und den Nachhilfestunden sollen sie sich Hobbys widmen, die für eine ganzheitliche Persönlichkeitsbildung unabdingbar sind: Musik, Sport, Tanz. Schliesslich sind auch die in den Internetforen sich multiplizierenden Sozialkontakte zu pflegen. Kinder und Jugendliche eilen von Termin zu Termin und wechseln dabei permanent Zeit und Raum. Dazwischen reicht es für eine kleine Mahlzeit, ein paar Kurzgespräche per Mobiltelefon, den Lieblingssong auf dem Kopfhörer.

Welche Folgen die beschleunigte Lebensweise für Kinder und Jugendliche hat, ist wenig erforscht. Die steigende Anzahl von Schulabbrüchen und Schulverweigerern sowie das gehäufte Auftreten des Aufmerksamkeitsdefizitsyndroms deuten darauf hin, dass vor allem Jugendliche aus bildungsfernen Milieus mit dem hohen Tempo – immer mehr Schulstoff in immer weniger Zeit – nicht zurechtkommen. Viele Kinder und Jugendliche empfänden eine Abneigung dagegen, «in der jeweiligen Gegenwart zu absolvieren, was schon in der Vergangenheit als Zukunft vorgezeichnet worden ist», sagt die Berliner Soziologin Helga Zeiher. Sie fühlten sich im straffen Zeitprogramm unter Druck.

Zahlreiche Kinder aber hätten sich an die Komplexität ihres Alltags gewöhnt und bewältigten den «Wechsel zwischen den Zeiten und den realen und virtuellen Welten» erstaunlich gut, sagt Helga Zeiher. So nutzten sie Transportzeiten nicht selten für eine intensive Kommunikation mit den Eltern. Probleme bereite es den Kindern jedoch, wenn die einmal etablierten Handlungsabläufe «von aussen unterbrochen oder abgebrochen werden». Dagegen wehrten sie sich.

Entwertung des Alters


Die Erwachsenen besetzen den Sonderraum der Kindheit auch indirekt, indem sie ihr eigenes Bestes wollen. Die Beschleunigung der Gesellschaft entwertet das Alter und die mit ihm verbundenen Attribute – Bewahrenwollen, Bedächtigkeit, Langsamkeit. Viele Erwachsene betreiben denn auch einen anstrengenden Jugendlichkeitskult. Mit plastischer Chirurgie bekämpfen sie die Spuren, welche die Zeit an ihrem Körper zurücklässt, mit bunten Kleidern und Turnschuhen demonstrieren sie ihre Agilität, mit dem Hören der gerade angesagten Musik ihre Zeitgemässheit. Sie holen sich die Zeit, wo immer sie welche auftreiben können – auch bei ihren Kindern. Die Erwachsenen annektierten die Zeit der Nachkommen, sagt die Sozialwissenschafterin Vera King.

Indem Erwachsene wie Jugendliche sein wollen, verwischen sie die Grenzen zwischen den Generationen. Wenn die Heranwachsenden sich aber nicht mehr von den Eltern abgrenzen können, verlieren sie ihre Welt, deren sie bedürfen, um erwachsen zu werden.

Montag, Mai 10, 2010

Happy Monday!

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Sonntag, Mai 09, 2010

Notting Hillbillies - and others..... a bit Celtic too

Notting Hillbillies: Railroad Worksong


Karen Matheson: Crooked Mountain


Notting Hillbillies: Your own Sweet Way


Maev: Ailein Duinn

Samstag, Mai 08, 2010

Dieter Meier: «Jeder Mensch ist Gott»

Tages Anzeiger Online
«Jeder Mensch ist Gott»
Interview: Michèle Binswanger

Er war Profi-Pokerspieler, Konzeptkünstler, Popstar. In Berlin ist Dieter Meier nun eine Ausstellung gewidmet, in Zürich zeigt er den Film «Lightmaker». Ein Gespräch mit dem grossen Schweizer Tausendsassa.

Sie haben ihre Laufbahn als Konzeptkünstler begonnen, hörten damit aber nach einer Einzelausstellung im Kunsthaus Zürich wieder auf. Es heisst, sie hätten keine Lust mehr gehabt. Weshalb?
Im Kunstbereich ist man abhängig von einem sozialen Umfeld, einer Nahrungskette, man muss sich anbiedern, das lag mir nicht. In der Plattenindustrie ist es ganz anders. Es ist leichter, ein grösseres Publikum....


Tages Anzeiger Online
«Jeder Mensch ist Gott»
Interview: Michèle Binswanger

Er war Profi-Pokerspieler, Konzeptkünstler, Popstar. In Berlin ist Dieter Meier nun eine Ausstellung gewidmet, in Zürich zeigt er den Film «Lightmaker». Ein Gespräch mit dem grossen Schweizer Tausendsassa.

Sie haben ihre Laufbahn als Konzeptkünstler begonnen, hörten damit aber nach einer Einzelausstellung im Kunsthaus Zürich wieder auf. Es heisst, sie hätten keine Lust mehr gehabt. Weshalb?
Im Kunstbereich ist man abhängig von einem sozialen Umfeld, einer Nahrungskette, man muss sich anbiedern, das lag mir nicht. In der Plattenindustrie ist es ganz anders. Es ist leichter, ein grösseres Publikum zu erreichen und wenn einem das gelingt, ist man in einer völlig unabhängigen Position. Das ist viel demokratischer als in der Kunstwelt, wo diese Entscheidungskriterien über Erfolg oder Nicht-Erfolg mit fortschreitender Postmoderne immer irrationaler werden. Deshalb ist heute ja das soziale Talent eines Künstlers, also über Kunst zu reden und sie selber zu promoten, so enorm wichtig. Damien Hirst ist darin ein Weltmeister.

Wie kommt der Bankierssohn vom Zürichberg dazu, Künstler zu werden?
Ich fing damit an, weil alles andere mich nicht interessierte. Nach der Matur wusste ich nicht, was mit mir anfangen und wurde professioneller Pokerspieler. Das machte ich vier Jahre lang. Als Pokerspieler ist man in einem hermetisch abgeschlossenen Raum, die perfekte Flucht. Man nimmt Karten auf, das ist eine Art Schicksal, und mit dem, was man in der Hand hat, agiert man. Es ist existenziell, denn jeder will den anderen k.o. schlagen. Dann begann ich zu filmen. Ein Onkel von mir hatte eine 16-Millimeter-Kamera und er brachte mir bei, wie man einen Film einlegt. Ich filmte nicht, weil ich mich dazu berufen fühlte, sondern weil ich beim Filmen nicht unmittelbar konfrontiert war mit Zweifel an meiner Arbeit und der Angst, vor dem Ungenügen. Mit diesem Material fing ich dann zu arbeiten .

Man liest, immer wieder, dass Ihnen alles irgendwie zugefallen ist – beispielsweise sagen Sie, sie wüssten bis heute nicht, wie das Kunsthaus 1967 darauf gekommen ist, eine Einzelausstellung zu geben. Ist das möglich?

Ich wohnte damals in einem Abbruchhaus in Zollikon. Eines Tages rief mich der damalige Vizedirektor Felix Baumann an und bot mir eine Einzelausstellung an. Aus dem Nichts und ich hatte auch nicht etwas, das ich zeigen konnte. Ich fragte, was er sich denn vorstelle. Und er sagte: es wird Ihnen schon etwas dazu einfallen. Bis heute ist es so, dass die Leute auf mich zukommen. Zum Beispiel meldete sich Christian Krachts Verleger bei mir und sagte: «Ich habe gehört, du hast einen Roman in der Schublade. Ich will mit dir dein nächstes Buch machen.» Ich sagte: «Das freut mich, aber diesen Roman gibt es gar nicht.» Aber ich schreibe und ihm gefällt, was ich schreibe. Und jetzt freut er sich darauf, meinen Roman zu veröffentlichen.

Hatten Sie je Misserfolg?

Durchaus. Es gibt diesen Film, an dem ich schon fast zwanzig Jahre arbeite. Viele Leute hatten in das Projekt investiert, ich kämpfte lange, hatte Pech mit einem Negativ, ich musste gegen ein Labor prozessieren, die Postproduktion, die ich in Los Angeles machte, entglitt mir völlig. Als der Film nach Jahren endlich fertig war, schickte ich ihn zur Berlinale, er wurde angenommen. Und dann sah ich ihn im Zoopalast vor einem Publikum von 700 Leuten. Ich wusste sofort: Es war nicht mein Film und er hatte auch schlechte Kritiken. Man kann sagen, da bin ich gescheitert. Ich habe die Arbeit dann später wieder aufgenommen. Er ist jetzt übrigens fertig. Er heisst «Lightmaker» und kommt diesen Juni nach Zürich.

Wie gehen Sie mit der Kränkung des Scheiterns um?
Bei der kreativen Arbeit gibt man sein Bestes und wenn man es loslässt, ist es wie eine eigene Kreatur. Wenn man sich sicher ist, was man tut, dann sollten einen schlechte Kritiken nicht erschüttern. Was mich allerdings immer getroffen hat, sind Dinge, die geschrieben wurden, wie dass mein Vater eine Spende gemacht habe an die Dokumenta, damit ich da teilnehmen kann. Jemand von der «Luzerner Zeitung» fragte mich mal, wer denn meine Texte für mich schreiben würde. Ich sagte ihm, ich hätte zwei Intellektuelle im Keller, die gerne Bananen ässen und wenn ich wolle, dass sie was Gutes schreiben, gäbe ich ihnen Bananen.

Sie schrieben mal: «Ein Künstler ist jeder, der mit seiner Betätigung beabsichtigt, Kunst zu schaffen und das in dieser Absicht Hervorgebrachte ist in jedem Fall Kunst.» Ist Künstler der dilettantischste Beruf der Welt?

Es kann ein dilettantischer Beruf sein, aber die Auseinandersetzung mit seinem eigenen Dasein ist eine philosophische. Sie bringt sich beim Künstler nicht in analytischen Sätzen oder Bildern zum Ausdruck, sondern in dem, was er tut. Es ist ein hoffentlich immer präziseres Finden seiner Selbst. Im Sinne eines jener Sätze, die man dem Wanderprediger namens Jesus zuschreibt, der heisst: Werdet wie Kinder. Das ist ein wunderbarer Satz, auch ein sehr anarchischer. Es bedeutet, die göttliche Absicht in sich zu finden, alles, was von der Welt und ihren Formen verschüttet wird, freizulegen. Sokrates wurde zum Tode verurteilt wegen Verführung der Jugend. Das tat er nicht mit irgendwelchen staatsfeindlichen Ideen oder Religionen, sondern, weil er eben versuchte, sie zu sich selbst zu führen und von den Klischees und Denkfiguren zu befreien.

Oder wie dieser paradoxe Satz von Nietzsche: «Wie man wird, was man ist. » Wenn Sie sich selber betrachten: was sind Sie denn?

Der Satz bedeutet, dass man werden soll, wie man eigentlich ist. Und das muss man täglich aufs Neue herausfinden, sei das beim Gespräch mit dem Taxichauffeur, oder indem man einen Spielfilm produziert. Und das ist tatsächlich etwas, das ich schon als Kind tat: die permanente Reflexion über alles und jedes, ich wollte mir alles erklären, stellte ständig Fragen. Wie eine Fledermaus, die ihren Ultraschall aussendet und ihre Welt so abbildet.

Ihnen ist vieles zugefallen, sagen Sie. Glauben Sie an das Schicksal?
Total. Je länger desto mehr halte ich die rationale Fähigkeit einzugreifen für eine Illusion. Bei all meinen Projekten hatte ich nie das Gefühl, ich hätte das jetzt alles gemacht. Vielmehr staune ich, was bei der glücklichen Konstellation von Umständen, Befindlichkeiten usw. entstehen kann, Mich erinnert das immer an Pilze, die entstehen ja aus einem Rhizom unter dem Boden, aus dem sie sich speisen. Wenn Temperatur und Feuchtigkeit und alles stimmt, entsteht an der Oberfläche ein Pilz. Deshalb halte ich auch nichts von Menschen, die sich etwas auf das, was sie erreicht haben, einbilden. Gerade in der Kunst gibt es furchtbar eingebildete Leute, die von ihrem Werk, ihrer Arbeit reden, Lösungen, die sie dafür finden. Das sind eigentlich Witzfiguren.

Es gibt also ein Schicksal, aber keinen freien Willen – was hält denn das Ganze zusammen, wenn es, wie Sie sagen, keinen Gott gibt?

Ich glaube, jeder Mensch ist Gott. Ich bin kein geschulter Buddhist, aber ich halte das für eine bestechende Idee. Das Prinzip des Homo sapiens, mit Erkenntnisfähigkeit gesegnet und gestraft zugleich, die Vertreibung aus dem Paradies. Die Geburtsstunde des Menschen begann nicht, als er lernte, Werkzeuge zu gebrauchen – das machen Affen ja auch. Die Geburtsstunde der Menschheit begann in der Sekunde, als ein Mensch begann, über sich selber nachzudenken, seinen Sinn nachzudenken.

Kennen Sie auch die Verzweiflung des Künstlers?
Ja natürlich. Um wieder zum Bild des Rhizoms zurückzukommen. Man hat kein Bewusstsein von jenem Raum, in dem man sich befindet, so lange es einem vergönnt ist, etwas zustande zu bringen. Erst wenn man ihn verlässt, wird man überfallen von Trauer und Einsamkeit. Deshalb haben ja auch so viele Künstler mit Drogen und Depressionen zu tun. Das ist die Trauer, den Raum verloren zu haben. Oder begibt sich in einen Rausch, nachdem man vielleicht lange an diese Türe gepocht hat und merkt, das sie verschlossen ist.

Sie sind Künstler, Musiker, Autor, Filmer, Pokerspieler, Golfer, Unternehmer – in welchem Feld fühlen Sie sich schöpferisch zu Hause?
Einerseits beim Schreiben. Die Unmittelbarkeit und totale Einsamkeit der Autorschaft. Es gibt dieses Zitat von Beat Breu, dem Velorennfahrer. Als er den Giro d‘Italia gewann, sagte er danach in einem Interview: «In der Ebene, da geht alles um Taktik, Windschatten, Mannschaft usw. Aber den Berg hinauffahren muss jeder selber.» Das Schreiben ist für mich der Berg. Beim Film ist es anders. Wenn man einen Film vom Stapel gerissen hat, dann ist das das Ende des Zweifels. Es ist, als segle man mit einer Truppe von zwanzig Leuten los und wollen von South Hampton nach NY kommen. Da kann man sich auch nicht dauernd fragen, ob man das kann, will, darf. Vom Zweifel und all der Leere befreit zu sein, das ist ein grosses Glück. Andere finden es stressig. Für mich ist es ein reines Vergnügen. (Tagesanzeiger.ch/Newsnetz)

Freitag, Mai 07, 2010

«Ich hoffe, das ist das Ende der Superreichen»

Tages Anzeiger Online 06.05.2010
«Ich hoffe, das ist das Ende der Superreichen»
Interview: Marc Brupbacher

Es brodelt: In Europa sind Streiks und Proteste zum Alltag geworden. Und das könnte erst der Anfang sein. Soziologieprofessor Ueli Mäder sieht die Ursache der Finanz- und Eurokrise in der herrschenden Ungleichheit.

Ueli Mäder ist Professor für Soziologie an der Universität Basel und der Hochschule für Soziale Arbeit. Im Herbst erscheint sein neues Buch «Wie Reiche denken und lenken» (rpv, Zürich), das er mit Ganga Jey Aratnam und Sarah Schilliger verfasst.

Die Rosskur im Kampf gegen die Staatsschulden führt in Athen zu schweren Ausschreitungen. Bisher sind drei Tote zu beklagen. Doch auch abseits von Griechenland brodelt es in der Europäischen Union. Die Menschen haben Angst vor Arbeitslosigkeit und sozialem Abstieg. Und sie sind wütend auf die Politiker. Die Sorge vor gewaltsamen Protesten wächst. Immer wieder haben hohe EU-Beamte davor gewarnt, dass soziale Unruhen in Europa ausbrechen könnten.

Gemäss dem Soziologieprofessor Ueli Mäder sind für die gegenwärtige Krise in Europa vor allem die riesigen Ungleichheiten in der Einkommens- und Vermögensverteilung verantwortlich. Mäder sagt, die Welt werde heute.....


Tages Anzeiger Online 06.05.2010
«Ich hoffe, das ist das Ende der Superreichen»

Interview: Marc Brupbacher

Es brodelt: In Europa sind Streiks und Proteste zum Alltag geworden. Und das könnte erst der Anfang sein. Soziologieprofessor Ueli Mäder sieht die Ursache der Finanz- und Eurokrise in der herrschenden Ungleichheit.

Die Rosskur im Kampf gegen die Staatsschulden führt in Athen zu schweren Ausschreitungen. Bisher sind drei Tote zu beklagen. Doch auch abseits von Griechenland brodelt es in der Europäischen Union. Die Menschen haben Angst vor Arbeitslosigkeit und sozialem Abstieg. Und sie sind wütend auf die Politiker. Die Sorge vor gewaltsamen Protesten wächst. Immer wieder haben hohe EU-Beamte davor gewarnt, dass soziale Unruhen in Europa ausbrechen könnten.

Gemäss dem Soziologieprofessor Ueli Mäder sind für die gegenwärtige Krise in Europa vor allem die riesigen Ungleichheiten in der Einkommens- und Vermögensverteilung verantwortlich. Mäder sagt, die Welt werde heute von einem Feudalsystem beherrscht, das von Superreichen und multinationalen Unternehmen geprägt wird. Um künftige Krisen zu verhindern, müsse dieses System beseitigt werden.

Herr Mäder, in Athen herrscht Ausnahmezustand. Gehen die Griechen besonders schnell auf die Barrikaden oder drohen solche Unruhen auch in anderen Ländern?
Griechenland ist mit 76 Prozent im Ausland verschuldet, Spanien mit 81 Prozent, Portugal mit 99 Prozent. Soziale Brisanz ist also weit über die Grenzen von Griechenland hinaus vorhanden.

Was muss die Politik nun tun, damit sich die Lage in Athen beruhigt?
Sie muss lernen, Kritik zu akzeptieren und glaubwürdig darlegen, wie sie die Steuerhinterziehung der Konzerne und mittleren Unternehmen bekämpfen will. Intern sind die Verhandlungen mit den Gewerkschaften wichtig, extern jene mit der EU.

Was für eine Rolle spielen die riesigen Ungleichheiten bei den Löhnen und Vermögen für die jetzige Krise in Europa?
Diese Ungleichheiten sind zentral. Bis zu den 1970er verringerten sie sich. Damals glaubten viele, das gehe immer wo weiter. Inzwischen werden aber immer mehr Gewinne privatisiert. Diese Mittel fehlen den unteren Einkommen und der Öffentlichkeit. In Europa hat sich seit 1989 das Kapital stark konzentriert. Die Politik liess sich teilweise übergehen und instrumentalisieren. Im Kontext der Finanzkrise meldet sich die Politik nun zwar zurück. Wobei viele Spitzenpolitiker aus begüterten Kreisen kommen. Die einfachen Einkommen sind kaum vertreten.

Sie sagen, weltweit habe eine Feudalisierung stattgefunden. Ist nun die Zeit gekommen, wo die Grenze der Ungleichheit erreicht ist und das System kippt? Ist das der Anfang vom Ende der Superreichen?

Ich hoffe es. Und es gibt auch Reiche, die das sagen. Sie fürchten, dass sonst der soziale Zusammenhalt auseinanderbricht. Politisch Liberale wollen ein ausgewogeneres Verhältnis zwischen Kapital und Arbeit. Aber der wirtschaftliche Liberalismus zelebriert genau das Gegenteil: die Unterschiede. Da stehen noch intensive Auseinandersetzungen bevor.

Was schlagen Sie vor, um die jetzige Krise in Europa zu bewältigen und den Kontinent in eine stabilere Zukunft zu führen?

Zentral ist der soziale Ausgleich von Arbeit und Erlös. Zudem sind Wirtschaft und Gesellschaft weiter zu demokratisieren. Freiheit erfordert eine Sicherheit, die auch dazu motiviert, selbst Verantwortung zu übernehmen. (Tagesanzeiger.ch/Newsnetz)

Donnerstag, Mai 06, 2010

Schweizerdeutsch: Wegbeschreibung und Musik

Wegbeschreibung


Züri West: I schänke dir mis härz


Patent Ochsner: Lumilla

Mittwoch, Mai 05, 2010

Das heutige Hellas: Ein Rätsel

Tages Anzeiger Online
Das heutige Hellas: Ein Rätsel
Von Thomas Widmer

Griechenland ist, weil schwer überschuldet, momentan täglich in den Schlagzeilen. Griechenland? Beginnt man über das Land nachzudenken, stellt man fest: Es ist eine Leerstelle im Kopf. Dazu passt, dass kürzlich ein Freund beim Bier blödelte: «Was haben die dort unten in den letzten hundert Jahren eigentlich geleistet – ausser Souvlaki-Spiesschen gegrillt?»

Das ist natürlich ungerecht. Aber es ist so: Zu Griechenland fällt den meisten wenig ein. Im Allgemeinen sind es Ferienimpressionen. Das Moussaka war ölig, der Weisswein so stark....


Tages Anzeiger Online
Das heutige Hellas: Ein Rätsel
Von Thomas Widmer

Griechenland ist, weil schwer überschuldet, momentan täglich in den Schlagzeilen. Griechenland? Beginnt man über das Land nachzudenken, stellt man fest: Es ist eine Leerstelle im Kopf. Dazu passt, dass kürzlich ein Freund beim Bier blödelte: «Was haben die dort unten in den letzten hundert Jahren eigentlich geleistet – ausser Souvlaki-Spiesschen gegrillt?»

Das ist natürlich ungerecht. Aber es ist so: Zu Griechenland fällt den meisten wenig ein. Im Allgemeinen sind es Ferienimpressionen. Das Moussaka war ölig, der Weisswein so stark geharzt, dass der Gaumen resignierte. In den Bars dudelte Bouzouki-Sound. Den Fetakäse fand man aber fein, das cremige Honigjoghurt ebenfalls.

Hat uns Griechenland nicht mehr zu geben? Wie wäre es wieder einmal mit einem relevanten Romancier? Einem prickelnden Philosophen? Griechenland war in den letzten Jahren selten Inspiration. Okay, der Fussball-EM-Sieg 2004 machte uns Eindruck. Aber – auf intellektueller Ebene – was aus Griechenland bewegt uns da?

Dabei wurde Europa in Griechenland erfunden. Europas Geist, seine Seele, sein Intellekt: undenkbar ohne die Grosstheoretiker Aristoteles und Platon, ohne den weisen Sokrates, ohne die Stücke des Sophokles, ohne Homers Epen. Und was wären wir ohne altgriechische Urmythen und Saftgeschichten – wie die von der Jungfrau Ariadne und ihrem Helden Theseus im Labyrinth des Stierwesens Minotaurus.

«Nennt mir zehn berühmte lebende Griechen!», ruft man spieleshalber in eine Freundesrunde. Grübeln. Der langatmige Filmer Angelopoulos wird genannt. Der prägnante Krimischreiber Markaris. Der Reeder Onassis (er ist tot, gilt nicht). Die Sangesgrössen Nana Mouskouri, Demis Roussos und Vicky Leandros (allerdings eine halbe Deutsche). Der Fussballer Charisteos? Oder heisst er Charisteas?

Und, ah ja, Mikis Theodorakis! Der Komponist. Lebt der noch?

Schon gar nicht fällt einem ein gegenwärtiger Grieche und eine Griechin ein, den oder die man vergöttern oder vehement ablehnen könnte. Die Politik gibt nichts her. An ihren Clanstrukturen prallt man schlicht ab – welcher Papandreou, pardon, regiert jetzt gerade? Prinzipiell ist Griechenlands Öffentlichkeit für den Fremden unkenntlich, im Unterschied etwa zu Italien. Dieses bringt immer wieder weltanschauliche Idole hervor, früher zum Beispiel einen Pier Paolo Pasolini, heute den streitbaren Anticamorra-Aktivisten Roberto Saviano.

Am Schluss bleiben bloss die Klischees. Athen leidet unter dem Smog, das weiss jeder. Und griechische Reedereien haben den Weltmeeren schon manche Ölspur eingetragen. Liegt die Absenz von Grösse, die Abwesenheit des Markanten darin begründet, dass Griechenland jahrhundertelang Provinz am Rand des Osmanenreiches war, ausgebeutetes Untertanenland? Aber es hat sich doch im heroischen Kampf befreit!

Das heutige Griechenland ist Europas Rätsel. Lange war das ja auch gar kein Problem: Man flog nach Kreta, Chios, Korfu in den Urlaub, und danach vergass man das Land wieder. Nur jetzt, durch die Schuldenkrise, ist alles anders geworden. Man erblickt eine Nation, die jenseits ihres sympathisch mediterranen Alltags kaum gesamteuropäische Präsenz hat. Verarmt in jeder Hinsicht steht dieses Griechenland im Rampenlicht.

Dienstag, Mai 04, 2010

Feeling musical - Eclectic Mix.

Morcheeba - Enjoy the Ride


Marvin Gaye: Heard it through the grapevine


Diana Krall: Walk on by



Carlos Nunez: Bolero de Ravel



Carlos Nunez and the Chieftains

Montag, Mai 03, 2010

Flug über verbotenes Land

30. April 2010, Neue Zürcher Zeitung
Flug über verbotenes Land
Vor 50 Jahren erschütterte die U-2-Spionage-Krise die Welt – Chruschtschew liess Eisenhower am Gipfel von Paris abblitzen

Vor genau 50 Jahren, am 1. Mai 1960, wurde ein amerikanisches Spionageflugzeug über dem Ural abgeschossen. Damit begann die sogenannte U-2-Krise, die das Verhältnis zwischen den beiden Supermächten einer heiklen Belastungsprobe unterstellte.

Jürg Dedial

Am 1. Mai 1960, in aller Frühe, hob von einer Piste in Peshawar in Pakistan ein dunkelgraues, unmarkiertes Flugzeug ab und verschwand bald im Dunst der Dämmerung. Der Pilot, der 31-jährige Amerikaner Francis Gary Powers, nahm mit der Maschine Kurs nach Norden. Sein Ziel war die norwegische Nato-Basis von Bodö, wo die Landung nach rund neun Stunden Flugzeit vorgesehen war. Der in eine Art Raumanzug gekleidete Pilot flog in geheimer Mission. Es gab keine Sprechfunk-Verbindung. Nur einmal, nach etwa anderthalb Stunden Flugzeit, klickte er zweimal ein kurzes Morsezeichen. Dies war für die Kommandostelle in Peshawar das Signal, dass er seinen eigentlichen Einsatz begonnen hatte und sich abmeldete. Gegen 8 Uhr überquerte er die sowjetische Grenze in....


30. April 2010, Neue Zürcher Zeitung
Flug über verbotenes Land
Vor 50 Jahren erschütterte die U-2-Spionage-Krise die Welt – Chruschtschew liess Eisenhower am Gipfel von Paris abblitzen

Vor genau 50 Jahren, am 1. Mai 1960, wurde ein amerikanisches Spionageflugzeug über dem Ural abgeschossen. Damit begann die sogenannte U-2-Krise, die das Verhältnis zwischen den beiden Supermächten einer heiklen Belastungsprobe unterstellte.

Jürg Dedial

Am 1. Mai 1960, in aller Frühe, hob von einer Piste in Peshawar in Pakistan ein dunkelgraues, unmarkiertes Flugzeug ab und verschwand bald im Dunst der Dämmerung. Der Pilot, der 31-jährige Amerikaner Francis Gary Powers, nahm mit der Maschine Kurs nach Norden. Sein Ziel war die norwegische Nato-Basis von Bodö, wo die Landung nach rund neun Stunden Flugzeit vorgesehen war. Der in eine Art Raumanzug gekleidete Pilot flog in geheimer Mission. Es gab keine Sprechfunk-Verbindung. Nur einmal, nach etwa anderthalb Stunden Flugzeit, klickte er zweimal ein kurzes Morsezeichen. Dies war für die Kommandostelle in Peshawar das Signal, dass er seinen eigentlichen Einsatz begonnen hatte und sich abmeldete. Gegen 8 Uhr überquerte er die sowjetische Grenze in Tadschikistan. Er drang jetzt in Feindesland ein, dessen Geheimnisse er zu erkunden hatte.

Im Sold der CIA

Powers' Maschine war eine U-2, ein Aufklärungsflugzeug der CIA, und der Pilot, ein ehemaliger Luftwaffenoffizier, stand im Sold des Geheimdienstes. Er hatte die Aufgabe, strategische Einrichtungen und Produktionsstätten in der Sowjetunion zu fotografieren, Radarstellungen zu erkunden, Raketenabschussrampen festzustellen – kurz: alle Daten zu sammeln, die zur Einschätzung der sowjetischen Militärmacht dienen konnten.

Es war ein ungeheuer gewagtes Spiel der Vereinigten Staaten im Ringen um Vorteile im Kalten Krieg. Während Amerika ein offenes Land war, in welchem sich sowjetische Spionage mit grossen Erfolgschancen betreiben liess, gab es für die Amerikaner praktisch keine Möglichkeit, direkt an Informationen über die Rüstungsanstrengungen der Sowjetunion zu gelangen. Gerade die Industriegebiete im Ural und in Westsibirien waren verbotenes Land. Da die Zeit der Spionagesatelliten noch nicht angebrochen war, gab es nur einen Weg: Überflüge mit Aufklärungsflugzeugen.

Die U-2 war eine hochspezialisierte Plattform für Kameras und Sensoren. Sie sah aus wie ein strahlgetriebenes Segelflugzeug, war sehr leicht gebaut, mit extremer Spannweite und einem starken Triebwerk, was sie zu transkontinentalen Reichweiten und Einsatzflughöhen von weit über 20 000 Metern befähigte – eine damals unglaubliche Leistung. Aber sie war auch schwierig zu fliegen und nur von sehr erfahrenen Piloten zu beherrschen. Der legendäre Lockheed-Konstrukteur «Kelly» Johnson hatte sie 1955 gebaut, weil die Geheimdienste unbedingt die Möglichkeit haben wollten, hinter die Kulissen des sowjetischen Machtbereichs zu blicken.

Machtlose Luftabwehr

Mit der U-2 war dies ab 1956 möglich geworden. Offiziell als Wetterflugzeug in Grossbritannien, der Türkei, in Pakistan oder Japan eingesetzt, flog sie in Wirklichkeit über China und die Sowjetunion, und zwar so hoch, dass die jeweilige Luftabwehr kein Gegenmittel gegen sie hatte. Die U-2-Piloten registrierten zwar jeweils die Erfassung durch sowjetische Radarstationen. Aber weder die Jagdflugzeuge noch die Flabmissile erreichten sie. Es muss für die Moskauer Führung fast unerträglich gewesen sein, immer wieder Meldungen von Überflügen zu erhalten. Die Amerikaner wussten genau, dass die Gegenseite nicht an die Öffentlichkeit gehen konnte, ohne sich zu blamieren. Beide waren also zum Schweigen über die Spionageflüge verdammt. Es war ein Duell, das der absurden Dialektik des Kalten Krieges folgte. An diesem 1. Mai freilich sollte sich das gründlich ändern.

Um 10 Uhr 30 war Powers in Sichtweite des Urals gelangt. Er hatte zuvor die sowjetischen Raketenabschussrampen von Tiuratam in Kasachstan überflogen und fotografiert. Und er hatte jeden Radarkontakt genau registriert. Seine weiteren Ziele waren nun die Industriemetropolen Swerdlowsk und Kirow, und nach einem Überflug der Häfen von Archangelsk und Murmansk und weiterer Flottenbasen hätte er am Abend sein Ziel Bodö erreichen sollen.

Eine folgenschwere Explosion


Just als er mit einer leichten Linkskurve Swerdlowsk umfliegen wollte, wurde die U-2 von einer gewaltigen Explosion erfasst und durchgeschüttelt. Eine von 14 abgefeuerten SA-2-Raketen war nahe genug gekommen, um die U-2 zu beschädigen. Sie liess sich nicht mehr steuern. Es misslang Powers, den Selbstzerstörungsmechanismus zu betätigen, aber er konnte aussteigen und mit dem Fallschirm zur Erde gleiten, wo er auf einem Acker von Bauern in Empfang genommen wurde. Bald war er in Polizeigewahrsam. Damit hatte die sogenannte U-2-Krise begonnen, einer der Höhepunkte des Kalten Kriegs.

Nikitas grosser Triumph

Während Powers von Swerdlowsk nach Moskau gebracht wurde, liefen in Washington die Drähte heiss. Man wusste nichts von Powers' Schicksal, ausser dass er als vermisst galt. Vor allem rechnete niemand damit, dass der U-2-Pilot noch lebte. Ein Absturz aus 20 000 Metern Höhe war kaum zu überstehen, und falls er lebend in die Hände der Gegenseite gefallen sein sollte, hätte man erwartet, dass er sich umbringe. Dazu hatte man ihm eine vergiftete Injektionsnadel mitgegeben.

So versteifte man sich nach der ersten sowjetischen Abschussmeldung auf die Version, der Pilot sei auf einer Wetter-Mission wegen Problemen mit der Sauerstoffversorgung im Norden der Türkei verschwunden und seither verschollen. Die Nasa bemalte eigens eine U-2 mit ihren Insignien, um sie vor der Presse als ziviles Wetterflugzeug darzustellen. In Amerika mochten Millionen diese Show glauben. In Moskau hingegen bereitete man sich auf die Demaskierung der Lüge vor, eine Chance, die man sich nicht nehmen liess.

Es war Ministerpräsident Nikita Chruschtschew selbst, der am 7. Mai vor die Öffentlichkeit trat und von den Details des Abschusses der U-2 berichtete. Er konnte Trümmerteile und bereits entwickelte Spionagebilder präsentieren sowie Utensilien wie die Giftnadel, diverse Banknotenbündel oder Golduhren und Schmuckstücke vorzeigen, die Powers auf sich getragen hatte. Ironisch fragte er, ob der Wetterpilot damit die Frauen auf dem Mars hätte bezirzen wollen. In Wirklichkeit, donnerte er dann los, seien die Militaristen im Pentagon unfähig, ihre Kriegstreiberei einzustellen, und er drohte den USA mit der Zerstörung ihrer U-2-Stützpunkte. Was man damals im Westen nicht wusste, war, dass ein Spion in Bodö den Russen jeweils die genauen Details der Flüge nach Norwegen mitgeteilt hatte. Sie waren zweifellos über die gesamten U-2-Aktivitäten bestens im Bilde.

Die Krise weitete sich schnell aus. Die Sowjetunion hatte keine andere Wahl, als heftig zu reagieren. Nicht nur das Datum des 1. Mai, an welchem der Flug stattfand, sondern auch die Tatsache, dass die Amerikaner zuvor während acht Monaten die Flüge praktisch eingestellt hatten, um für das Gipfeltreffen von Paris vom 15. bis 16. Mai eine gute Atmosphäre zu schaffen, erzürnte die Russen masslos. Es war ihnen klar, dass sich die Amerikaner für den Gipfel zwischen Eisenhower und Chruschtschew eine Trumpfkarte mit den letzten Erkenntnissen über die sowjetischen Rüstungsanstrengungen hatten verschaffen wollen. Dies hätte Chruschtschew erheblich benachteiligt. Dass sie dies ausgerechnet am 1. Mai, dem kommunistischen Feiertag, versuchten, war ein doppelter Affront.

Der Gipfel scheitert


Zwar gab das Weisse Haus noch am 7. Mai in einem peinlichen Rückzug zu, man habe mit den U-2-Flügen Spionage betrieben. Diese Missionen seien aber unabdingbar für die Sicherheit der Nation gewesen, erklärte man. Von einer Entschuldigung war keine Rede. Dies wiederum gab Chruschtschew die Steilvorlage, um am 16. Mai mit viel Lärm den Pariser Gipfel abzubrechen und das west-östliche Klima einem markanten Temperatursturz auszusetzen. Nach dem Verlust eines der bestgehüteten Geheimnisse hatten die Amerikaner nun auch noch die Schmach dieser diplomatischen Kalamität zu ertragen.

Dabei stand ihnen das Schlimmste noch bevor. Am 17. August begann in Moskau der Schauprozess gegen Powers, bei dem es weniger um den bedauernswerten Piloten ging als um die Aussenpolitik der USA. Es war alles auf eine beissende Systemkritik angelegt, was die Anklage denn auch gebührend herausstrich. Nicht uninteressant, besonders aus amerikanischer Sicht, war natürlich die Frage, was Powers in seinen Verhören alles preisgegeben haben könnte. Der Angeklagte beschrieb diese Befragungen und die harschen Haftbedingungen in seiner Autobiografie («Operation Overflight») ausführlich und kam immer wieder auf die insistierenden Fragen der Verhörexperten zu den Leistungen der U-2, besonders der Flughöhe, zurück. Nach seiner Schilderung gelang es ihm, diese Fakten zu verschleiern. Es steht fest, dass er anständig behandelt und keinerlei Folter oder Hirnwäsche unterzogen wurde, wie das amerikanische Leseheft «Readers' Digest» damals behauptete.

Gegen Abel ausgetauscht


Powers wurde am 19. August zu drei Jahren Gefängnis und sieben Jahren Zwangsarbeit verurteilt. Er kam in die Haftanstalt von Wladimir, östlich von Moskau, und seine Haftbedingungen waren streng, aber nicht zerstörerisch. Den seltenen Kontakten mit seiner Frau konnte er entnehmen, dass in Washington an einer vorzeitigen Freilassung gearbeitet wurde. Aus ihm zugänglichen Presseberichten aus der Heimat musste er aber auch erkennen, dass in den USA eine Kontroverse über sein angeblich unpatriotisches Verhalten – weil er die U-2 nicht zerstört und sich nicht umgebracht hatte – geführt wurde. Es war ihm schon in sowjetischer Haft klar, dass er nicht als Held in seine Heimat zurückkehren würde.

So geschah es denn auch. Zwar wurde Francis Gary Powers am 10. Februar 1962 auf der berühmten Glienicker Brücke in Berlin gegen den sowjetischen Meisterspion Rudolf Abel ausgetauscht. Aber eine triumphale Heimkehr gab es nicht. Er wurde von der CIA isoliert und ausführlich befragt. An eine weitere Beschäftigung als Pilot des Geheimdienstes war nicht mehr zu denken. Powers fand bei Lockheed eine Stelle als Testflieger, ehe er 1970 dann für eine private Helikopterfirma tätig wurde. In dieser Funktion stürzte er 1977 in Los Angeles ab. Die Dankbarkeit seiner Heimat äusserte sich darin, dass er auf dem Friedhof von Arlington in Virginia beigesetzt wurde. Eine postume Ehrung erfuhr Powers erst vor genau zehn Jahren, am 1. Mai 2000, dem 40. Jahrestag seines Schicksalsfluges über die Sowjetunion. Seine Angehörigen erhielten im Rahmen einer kurzen Feier mehrere Medaillen überreicht.