Mittwoch, Mai 05, 2010

Das heutige Hellas: Ein Rätsel

Tages Anzeiger Online
Das heutige Hellas: Ein Rätsel
Von Thomas Widmer

Griechenland ist, weil schwer überschuldet, momentan täglich in den Schlagzeilen. Griechenland? Beginnt man über das Land nachzudenken, stellt man fest: Es ist eine Leerstelle im Kopf. Dazu passt, dass kürzlich ein Freund beim Bier blödelte: «Was haben die dort unten in den letzten hundert Jahren eigentlich geleistet – ausser Souvlaki-Spiesschen gegrillt?»

Das ist natürlich ungerecht. Aber es ist so: Zu Griechenland fällt den meisten wenig ein. Im Allgemeinen sind es Ferienimpressionen. Das Moussaka war ölig, der Weisswein so stark....


Tages Anzeiger Online
Das heutige Hellas: Ein Rätsel
Von Thomas Widmer

Griechenland ist, weil schwer überschuldet, momentan täglich in den Schlagzeilen. Griechenland? Beginnt man über das Land nachzudenken, stellt man fest: Es ist eine Leerstelle im Kopf. Dazu passt, dass kürzlich ein Freund beim Bier blödelte: «Was haben die dort unten in den letzten hundert Jahren eigentlich geleistet – ausser Souvlaki-Spiesschen gegrillt?»

Das ist natürlich ungerecht. Aber es ist so: Zu Griechenland fällt den meisten wenig ein. Im Allgemeinen sind es Ferienimpressionen. Das Moussaka war ölig, der Weisswein so stark geharzt, dass der Gaumen resignierte. In den Bars dudelte Bouzouki-Sound. Den Fetakäse fand man aber fein, das cremige Honigjoghurt ebenfalls.

Hat uns Griechenland nicht mehr zu geben? Wie wäre es wieder einmal mit einem relevanten Romancier? Einem prickelnden Philosophen? Griechenland war in den letzten Jahren selten Inspiration. Okay, der Fussball-EM-Sieg 2004 machte uns Eindruck. Aber – auf intellektueller Ebene – was aus Griechenland bewegt uns da?

Dabei wurde Europa in Griechenland erfunden. Europas Geist, seine Seele, sein Intellekt: undenkbar ohne die Grosstheoretiker Aristoteles und Platon, ohne den weisen Sokrates, ohne die Stücke des Sophokles, ohne Homers Epen. Und was wären wir ohne altgriechische Urmythen und Saftgeschichten – wie die von der Jungfrau Ariadne und ihrem Helden Theseus im Labyrinth des Stierwesens Minotaurus.

«Nennt mir zehn berühmte lebende Griechen!», ruft man spieleshalber in eine Freundesrunde. Grübeln. Der langatmige Filmer Angelopoulos wird genannt. Der prägnante Krimischreiber Markaris. Der Reeder Onassis (er ist tot, gilt nicht). Die Sangesgrössen Nana Mouskouri, Demis Roussos und Vicky Leandros (allerdings eine halbe Deutsche). Der Fussballer Charisteos? Oder heisst er Charisteas?

Und, ah ja, Mikis Theodorakis! Der Komponist. Lebt der noch?

Schon gar nicht fällt einem ein gegenwärtiger Grieche und eine Griechin ein, den oder die man vergöttern oder vehement ablehnen könnte. Die Politik gibt nichts her. An ihren Clanstrukturen prallt man schlicht ab – welcher Papandreou, pardon, regiert jetzt gerade? Prinzipiell ist Griechenlands Öffentlichkeit für den Fremden unkenntlich, im Unterschied etwa zu Italien. Dieses bringt immer wieder weltanschauliche Idole hervor, früher zum Beispiel einen Pier Paolo Pasolini, heute den streitbaren Anticamorra-Aktivisten Roberto Saviano.

Am Schluss bleiben bloss die Klischees. Athen leidet unter dem Smog, das weiss jeder. Und griechische Reedereien haben den Weltmeeren schon manche Ölspur eingetragen. Liegt die Absenz von Grösse, die Abwesenheit des Markanten darin begründet, dass Griechenland jahrhundertelang Provinz am Rand des Osmanenreiches war, ausgebeutetes Untertanenland? Aber es hat sich doch im heroischen Kampf befreit!

Das heutige Griechenland ist Europas Rätsel. Lange war das ja auch gar kein Problem: Man flog nach Kreta, Chios, Korfu in den Urlaub, und danach vergass man das Land wieder. Nur jetzt, durch die Schuldenkrise, ist alles anders geworden. Man erblickt eine Nation, die jenseits ihres sympathisch mediterranen Alltags kaum gesamteuropäische Präsenz hat. Verarmt in jeder Hinsicht steht dieses Griechenland im Rampenlicht.

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