Donnerstag, Mai 20, 2010

New Orleans erfindet sich neu

18. Mai 2010, Neue Zürcher Zeitung
New Orleans erfindet sich neu
Die Verwüstung der Stadt durch den Wirbelsturm «Katrina» ist auch eine Chance

Von der Ölpest am nahen Golf von Mexiko ist New Orleans vorläufig nicht betroffen. Aber die Stadt kämpft noch immer mit den Folgen des Hurrikans «Katrina». Vorausschauende Köpfe wollen diese Katastrophe als Chance für eine Neugestaltung nutzen.

Beat Ammann, New Orleans

Als Ende August 2005 der Wirbelsturm «Katrina» an New Orleans vorbeizog, verwüstete er nicht eine blühende Stadt, sondern eine im Niedergang. Seit dem Höchststand 1960, als New Orleans knapp 630 000 Einwohnerinnen und Einwohner zählte, sank deren Anzahl bis 2000 auf etwa 485 000. Laut Schätzungen sind es derzeit gut 350 000 Personen; viele Evakuierte sind nicht zurückgekehrt. Die von Hochwasser am wenigsten bedrohten und daher von Wohlhabenden bewohnten Viertel sind kaum weniger bevölkert als vor dem Sturm, in dessen Gefolge etwa 1800 Personen ums Leben kamen.

Eliminiertes Kleingewerbe

Manche Stadtviertel haben sogar Bewohner hinzugewonnen, solche, die sich mehr Sicherheit leisten können. Eine der am heftigsten überfluteten Zonen, der sogenannte Lower 9th Ward, hat erst rund ein Fünftel so viele Anwohner wie vor «Katrina». Zwar sind entlang der Hauptstrasse und in deren Nähe manche Gebäude bewohnt, doch erscheint die Gegend dahinter ausgestorben. Nicht nur der lokale Walmart – ein gigantischer Supermarkt – wurde zerstört, sondern auch das Kleingewerbe. Die Wiedereröffnung des Walmart an.....


18. Mai 2010, Neue Zürcher Zeitung
New Orleans erfindet sich neu
Die Verwüstung der Stadt durch den Wirbelsturm «Katrina» ist auch eine Chance

Von der Ölpest am nahen Golf von Mexiko ist New Orleans vorläufig nicht betroffen. Aber die Stadt kämpft noch immer mit den Folgen des Hurrikans «Katrina». Vorausschauende Köpfe wollen diese Katastrophe als Chance für eine Neugestaltung nutzen.

Beat Ammann, New Orleans

Als Ende August 2005 der Wirbelsturm «Katrina» an New Orleans vorbeizog, verwüstete er nicht eine blühende Stadt, sondern eine im Niedergang. Seit dem Höchststand 1960, als New Orleans knapp 630 000 Einwohnerinnen und Einwohner zählte, sank deren Anzahl bis 2000 auf etwa 485 000. Laut Schätzungen sind es derzeit gut 350 000 Personen; viele Evakuierte sind nicht zurückgekehrt. Die von Hochwasser am wenigsten bedrohten und daher von Wohlhabenden bewohnten Viertel sind kaum weniger bevölkert als vor dem Sturm, in dessen Gefolge etwa 1800 Personen ums Leben kamen.

Eliminiertes Kleingewerbe

Manche Stadtviertel haben sogar Bewohner hinzugewonnen, solche, die sich mehr Sicherheit leisten können. Eine der am heftigsten überfluteten Zonen, der sogenannte Lower 9th Ward, hat erst rund ein Fünftel so viele Anwohner wie vor «Katrina». Zwar sind entlang der Hauptstrasse und in deren Nähe manche Gebäude bewohnt, doch erscheint die Gegend dahinter ausgestorben. Nicht nur der lokale Walmart – ein gigantischer Supermarkt – wurde zerstört, sondern auch das Kleingewerbe. Die Wiedereröffnung des Walmart an einem anderen, weniger überschwemmungsgefährdeten Ort stellte für die Ansässigen einen erleichtert zur Kenntnis genommenen Etappensieg dar – ein Stück Normalität war zurückgewonnen. Ähnliches gilt für die Aufnahme des Betriebs einer neuen Tankstelle im Lower 9th Ward, mit angeschlossenem Schönheitssalon, oder die Wiederherstellung des Gebäudes der Nationalgarde.

Doch handelt es sich erst um vereinzelte Lichtblicke. Die Stadt hat sich jüngst einen Masterplan verschrieben. Dieser versucht, die von «Katrina» bewirkten Umschichtungen sozialer Natur sowie die physischen Zerstörungen zu einer umfassenden Modernisierung der Stadt zu nutzen. Der Begleittext zum Plan stellt nüchtern fest, die Anzahl der Lebensmittelläden pro Anwohner sei gesunken. Dies verrät einen Strukturwandel, verursacht durch die Eliminierung des Kleingewerbes, das die meisten Arbeitsplätze hervorbringt. Deswegen sind die Verdienstmöglichkeiten zurzeit beschränkt. Ohne Aussicht auf Arbeit werden viele Evakuierte nicht zurückkehren. Manche haben sich fern der Heimat, etwa in Houston (Texas), Atlanta (Georgia) oder noch viel weiter weg, ein neues Leben aufgebaut und wollen nicht wieder umziehen.

Fehlende Dynamik

Nicht, dass New Orleans vor «Katrina» wirtschaftlich eine dynamische Stadt gewesen wäre. Man erlebte einen Erdölboom, der in den achtziger Jahren endete. Seither sei nicht viel passiert, stellt der Masterplan fest. Laut dessen analytischem Kapitel lebt ein für Amerika ungewöhnlich hoher Anteil der Einwohnerschaft seit Generationen hier. Dies erklärt jene einzigartige Kultur, für die die Stadt weltberühmt ist. Es ist aber auch die höfliche Umschreibung dessen, was andere Leute – eher weisser Hautfarbe – als eine Ursache der Stagnation empfanden: ein zu gutes Angebot staatlicher Unterstützung, weswegen manche Sozialhilfeempfänger keinen Anreiz verspürt hätten, sich vom amtlich dargebotenen Tropf zu lösen.

Es besteht, so ist oft zu hören, verbreitetes Anspruchsdenken. Kenner fügen hinzu, dieses Denken sei keineswegs mit einer generellen Untätigkeit einhergegangen. Vielmehr habe eine – nicht nur kriminelle – Schwarzwirtschaft existiert, die zwar vielen Leuten ein Auskommen, aber kaum soziale Mobilität bot.

Ablehnung gegen Zuwanderer

Der Politikwissenschafter John Kiefer, der an der University of New Orleans lehrt, sieht die Herausforderung darin, Kleinbetriebe – alte und neue – in die Stadt zu bringen. New Orleans habe immer eine zu grosse von Sozialhilfe abhängige Anwohnerschaft gehabt. Louisiana habe von allen Gliedstaaten der Vereinigten Staaten die niedrigste Rate geografischer Mobilität. Grosszügige Sozialhilfe habe New Orleans aus den falschen Gründen attraktiv gemacht, da es leicht gewesen sei, etwa in den Genuss einer Sozialwohnung zu kommen. Laut Kiefer müsste man in erster Linie in höhere Bildung und in Fabriken investieren. Der Masterplan sei in dieser Hinsicht säumig.

Sozialhilfeempfänger sind überwiegend schwarz und leben oder lebten in den weniger günstig gelegenen, überschwemmungsgefährdeten Vierteln. Die Umgestaltung der Stadt – sollte sie gelingen – könnte dazu führen, dass sie im Vergleich zum Zustand vor dem Sturm, was die Einwohnerschaft betrifft, älter wird, weisser, reicher und höher gebildet. Für die einen ist dies unvermeidlich, damit die angestrebte Modernisierung in Gang komme, andere sehen diese Umschichtung als das Ergebnis einer gezielten Verdrängung von Schwarzen und Armen.

Bereits sind mehr als zehn Prozent der Einwohnerschaft Personen, die sich nach «Katrina» neu hier angesiedelt haben. Es sind nicht Sozialhilfeempfänger, sondern oft gut ausgebildete Fachleute, die Chancen wittern, die es anderswo nicht gibt. Eine solche Zugewanderte, die Politologin Liz Stein, berichtet, nicht selten bekomme sie die Ablehnung Alteingesessener zu spüren. Man gebe ihr zu verstehen, dass Neulinge wie sie als ein Hebel der Weissen und Reichen empfunden würden, die Stadt ihres bisherigen Charakters zu berauben.

Klar ist, dass niemand das New Orleans vom Vorabend «Katrinas» zurückhaben will, eine Stadt, die einem Sturm erlag, der bei weitem nicht der stärkste anzunehmende war. Die Stadt ist ein Labor für Initiativen aller Art geworden. Kiefer vergleicht New Orleans nach «Katrina» mit Haiti nach dem Erdbeben vom Januar. Die Stadt sei vor der Katastrophe wegen lokal hochkonzentrierter Armut und geringer sozialer Mobilität dysfunktional gewesen. Nun bestehe Gelegenheit, sie zu verbessern.

Der nächste Sturm

In den subtropisch üppigen Wohnvierteln der sogenannten Uptown – um ein paar entscheidende Fuss höher gelegen – und im Garden District wirkt das Leben normal und gutbürgerlich. Im Lower 9th Ward hingegen, in geringerem Masse auch in Gentilly nahe dem Lake Pontchartrain, sind die Probleme für Eingeweihte leicht sichtbar. Zu den Eingeweihten zählt Juana Ibáñez, eine Mitarbeiterin am Geografischen Institut der University of New Orleans.

Da sie hier geboren und aufgewachsen ist, kennt sie die Stadt. Und sie lernte «Katrina» kennen. Ihr Haus stand drei Wochen lang im Wasser. Sie kennt die von Giftstoffen verseuchte Brühe, den Dreck, den fast ein Jahr anhaltenden Gestank, das provisorische, über drei Jahre dauernde Leben in einem vom Staat zur Verfügung gestellten Wohnwagen, den Papierkrieg um Schadenersatz und um Subventionen für das Anheben des Hauses auf Stelzen, drei Fuss über dem «zu erwartenden schlimmsten Hochwasser» – denn der nächste Sturm kommt bestimmt.

Ibáñez weiss die Zeichen zu lesen, und sie kennt die dazugehörigen Geschichten, die die Leere zu füllen vermögen, die sich seit «Katrina» oft dort erstreckt, wo früher Tausende lebten und arbeiteten. Wuchert auf einer der stets rechteckigen Parzellen Dickicht, gehört sie vermutlich jemandem unbekannten Aufenthalts. Wächst Gras, das gemäht wird, hat die öffentliche Hand das Land übernommen. Viele seit der Evakuation abwesende Besitzer haben die Grundstücksteuern nicht bezahlt und melden sich daher nicht. Anderswo gibt es Leute, die behaupten, Eigentümer zu sein, doch sagt das Grundbuch etwas anderes. In schwarzen Grossfamilien, erzählt Ibáñez, wird Besitz oft ohne Verträge und Unterschriften vererbt oder übertragen. Für die Mitglieder der Familie ist alles klar und unumstritten, doch nun müsste man einen Anwalt beiziehen, der die Abfolge von Besitzern dokumentiert und ins offizielle System einspeist. Aber wer kann sich einen Anwalt leisten, wenn man im Sturm Haus und Hab und Gut verloren hat?

Andere haben als ordentliche Besitzer Subventionen beansprucht, zum Beispiel, um Türen und Fenster eines Hauses mit Läden zu versehen, die einem Sturm widerstehen. Vielleicht haben sie das Geld aber für andere Zwecke ausgegeben. Was nun? Wieder andere verzichteten auf jene Subventionen, mit denen der Staat das Niederreissen eines schwerbeschädigten Gebäudes fördert. Gewisse Versicherungen bezahlen für Verluste wegen entgangenen Verdienstes, aber nur, solange das Geschäftslokal, in dem einst Verdienst erwirtschaftet wurde, in unbrauchbarem Zustand existiert. Daher versuchen Besitzer die Ruine so lange wie möglich als Versicherungsfall stehen zu lassen.

Alle Freiwilligen sind weiss

Man erkennt, wie komplex die Bewältigung eines Ereignisses wie «Katrina» ist. Ibáñez möchte der ganzen Welt danken, denn aus der ganzen Welt komme Hilfe. Nicht nur Berühmte wie Brad Pitt bauten hier Häuser und unterstützten Schulen, sondern viele minder Bekannte und namenlose junge Freiwillige, die für einen temporär gedachten Einsatz herkämen und sich danach oft gleich niederliessen. Allerdings sei auffällig, dass alle Freiwilligen weisser Hautfarbe seien und alle, die Lohnarbeit leisteten, Latinos. In der Tat ist der Anteil der Latinos an der Bevölkerung seit dem Sturm gestiegen, jener der Schwarzen hingegen ist gesunken, laut Ibáñez von drei Vierteln vor «Katrina» auf drei Fünftel.

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