Sonntag, Mai 02, 2010

«Multitasking ist Körperverletzung»

Tages Anzeiger Magazin
«Multitasking ist Körperverletzung»

Der Mensch ist nicht fähig, mehrere Aufgaben gleichzeitig zu erledigen. Wenn er es trotzdem versucht, dann arbeitet er langsamer und ungenauer.
30.04.2010 von Mathias Plüss

Ein perfekter Manager muss das gewesen sein: «Zu schreiben oder zu lesen, gleichzeitig zu diktieren und anzuhören war er (…) gewohnt», berichtet der Naturforscher Plinius der Ältere. «Briefe aber soll er in so wichtigen Angelegenheiten vier auf einmal seinen Schreibern diktiert haben oder, wenn er nichts anderes zu tun hatte, sieben zugleich.» Sieben zugleich! Geschlafen habe er unterwegs in der Sänfte oder im Wagen, damit er keine Zeit verlöre, und noch im Reiten habe er gleichzeitig zwei Briefe diktieren können, behauptet auch sein Biograf Plutarch.

Dieser perfekte Manager hiess Julius Cäsar. Du bist wie Julius Cäsar! lautet noch heute eine russische Redewendung, und sie bedeutet: Du bist ein Multitasker; du schaffst es, verschiedene Dinge gleichzeitig zu tun. Cäsar ist für diese Fähigkeit allseits bewundert worden — für Plutarch war sie die Essenz seiner Geistesstärke, mit der er jeden anderen überragt habe. Nur dass er selbst während der Spielvorführungen Aktenstudium betrieb, kam beim Volk nicht gut an.

Auch Napoleon, der Cäsar verehrte, soll ein begnadeter Multitasker gewesen sein. Einen Brief habe der schreiben können, während er einen zweiten.....

Tages Anzeiger Magazin
«Multitasking ist Körperverletzung»

Der Mensch ist nicht fähig, mehrere Aufgaben gleichzeitig zu erledigen. Wenn er es trotzdem versucht, dann arbeitet er langsamer und ungenauer.
30.04.2010 von Mathias Plüss

Ein perfekter Manager muss das gewesen sein: «Zu schreiben oder zu lesen, gleichzeitig zu diktieren und anzuhören war er (…) gewohnt», berichtet der Naturforscher Plinius der Ältere. «Briefe aber soll er in so wichtigen Angelegenheiten vier auf einmal seinen Schreibern diktiert haben oder, wenn er nichts anderes zu tun hatte, sieben zugleich.» Sieben zugleich! Geschlafen habe er unterwegs in der Sänfte oder im Wagen, damit er keine Zeit verlöre, und noch im Reiten habe er gleichzeitig zwei Briefe diktieren können, behauptet auch sein Biograf Plutarch.

Dieser perfekte Manager hiess Julius Cäsar. Du bist wie Julius Cäsar! lautet noch heute eine russische Redewendung, und sie bedeutet: Du bist ein Multitasker; du schaffst es, verschiedene Dinge gleichzeitig zu tun. Cäsar ist für diese Fähigkeit allseits bewundert worden — für Plutarch war sie die Essenz seiner Geistesstärke, mit der er jeden anderen überragt habe. Nur dass er selbst während der Spielvorführungen Aktenstudium betrieb, kam beim Volk nicht gut an.

Auch Napoleon, der Cäsar verehrte, soll ein begnadeter Multitasker gewesen sein. Einen Brief habe der schreiben können, während er einen zweiten las und einen dritten diktierte. Würde er heute leben, so wäre er womöglich imstande, beim Telefonieren ein E-Mail zu schreiben und dazu ein SMS zu lesen, ohne sein Gehirn zu verrenken. Der Durchschnittsmensch kann es nicht, und die Klage derjenigen, die mit dem gleichzeitigen Bespielen mehrerer Plattformen überfordert sind, wird stets lauter. Der FAZ-Herausgeber Frank Schirrmacher hat ein Buch dazu geschrieben («Payback»), in dem er behauptet, Multitasking sei «Körperverletzung». Und als ob iPod und iPhone, Computer und Laptop nicht genügten, kommt nun mit dem iPad (ein Compüterchen für den Stubentisch) ein weiteres Gerät hinzu, von dem niemand sagen kann, wozu man es braucht, und von dem jeder glaubt, er müsse es haben. Die Zumutungen des Multitasking werden zunehmen.

Menschen können erstaunlich viele Dinge gleichzeitig tun. Sie können beim Spazieren plaudern und dazu ein Tiramisu verdauen, ohne die Atmung einzustellen. Sie können über einem Text brüten, dabei die Fingernägel malträtieren und den Chef zum Teufel wünschen. Manche Pianisten vermögen ein unbekanntes Stück vom Blatt zu spielen und gleichzeitig ein Gespräch zu führen. Bei «Wetten, dass…?» ist mal eine Frau aufgetreten, die auf ihrer Schreibmaschine in Weltrekordtempo einen Text abtippte, während sie mit dem Moderator über ein ganz anderes Thema redete.
Voraussetzung dafür ist allerdings, dass uns nur eine dieser parallelen Tätigkeiten Konzentration abverlangt. Die menschliche Aufmerksamkeit gleicht einem Scheinwerfer, der stets nur einen einzigen Schauplatz beleuchten kann. Nur dann vermögen wir zwei Dinge gleichzeitig zu tun, wenn eines davon automatisch abläuft. Das kann, bei entsprechender Übung, auch eine relativ komplexe Tätigkeit sein: beim Pianisten etwa das Blattlesen, bei der Schreibmaschinenfrau das Abtippen.
Das Autofahren ist ein anschauliches Beispiel. Auto fahren geht fast automatisch, wenn man es einmal gelernt hat. Und das ist das Fatale. Denn es verführt uns dazu, Dinge zu tun, die wir beim Autofahren nicht tun sollten. Wenn dann plötzlich eine brenzlige Situation auftaucht, dauert es ein paar Zehntelsekunden, bis unser Aufmerksamkeits-Scheinwerfer richtig eingestellt ist. Und diese Zehntelsekunden entscheiden oft darüber, ob es zu einem Unfall kommt oder nicht. Telefonieren beim Fahren vergrössert das Unfallrisiko um das Drei- bis Vierfache, SMS-Schreiben gar um das 23-fache!

Ein paar instruktive Details: Es spielt für das Risiko keine Rolle, ob man zum Telefonieren eine Freisprechanlage benutzt oder nicht. Es ist ja das Gespräch, das die Aufmerksamkeit absorbiert, und nicht das Halten des Handys. Essen oder Musik hören ist viel weniger gefährlich als Telefonieren, denn man braucht dazu nicht die gleiche Konzentration wie für ein Gespräch (womöglich noch bei schlechtem Empfang). Und: Auch ein Gespräch mit dem Beifahrer ist weit weniger problematisch als ein Telefonat. Denn der Beifahrer hört bei schwierigen Manövern intuitiv mit Sprechen auf — ganz im Gegensatz zum Gesprächspartner am Telefon.

All diese Beobachtungen lassen nur einen Schluss zu: Echtes Multitasking gibt es gar nicht. Im Bewusstsein sei stets nur Raum für ein einziges Thema, sagte der Münchner Psychologe Ernst Pöppel in der Zeitschrift «Psychologie Heute». «Ein reines Multitasking, dass man gleichzeitig zwei oder drei verschiedene Dinge mit derselben Konzentration erledigt, ist für das Gehirn nicht möglich.» Wer zu multitasken glaubt, der zappt in Wahrheit hin und her. Er ist drei Sekunden beim Gesprächspartner am Telefon, dann zwei Sekunden beim SMS, das er gerade liest, und dann vielleicht fünf Sekunden bei dem E-Mail, das er schreiben will. Das kann funktionieren, wenn man viel Talent dazu und Übung darin hat — effizient ist es sicher nicht. Zahlreiche Studien belegen: Selbst bei einfachsten Aufgaben ist der Zapper langsamer und macht mehr Fehler als derjenige, der eins ums andere erledigt. «Man verliert am meisten Zeit damit, dass man Zeit gewinnen will», hat der amerikanische Schriftsteller John Steinbeck einmal gesagt. Genau dies trifft beim menschlichen Multitasken zu.

Doch manchmal kann man es sich eben nicht aussuchen. Wenn uns etwa ein Anruf aus der aktuellen Tätigkeit herausreisst, so brauchen wir, wenn wir nicht zufällig Napoleon oder Cäsar heissen, zehn bis fünfzehn Minuten, bis wir uns wieder voll konzentrieren können. Da ein normaler Büromitarbeiter heute im Schnitt etwa alle zehn Minuten von einem Signal von aussen gestört wird, kann man sich ausrechnen, wie viel Zeit da noch für wirklich konzentrierte Arbeit bleibt. Laut einer Studie gehen wegen solcher Unterbrechungen bei amerikanischen Managern jährlich 28 Milliarden Arbeitsstunden verloren, was 588 Milliarden Dollar kostet.
Was lässt sich dagegen tun? Theoretisch vieles. Die meisten Tipps bringen aber nicht viel, da sie Selbstkontrolle erfordern, und gerade daran mangelt es ja jenen, die sich wie Kinder von jedem Reiz ablenken lassen. Wie soll man denn Selbstkontrolle verlangen von jemandem, der — kein seltener Fall — jedes eintreffende SMS sofort liest, während man eigentlich mit ihm redet?
Trotzdem wollen wir hier auf einen Kniff hinweisen, der sich vielleicht einfacher umsetzen lässt. Dazu muss man sich erst einmal die enormen Vorteile der schriftlichen Kommunikation bewusst machen. Wer schreibt, belästigt mit seiner Botschaft keine Aussenstehenden und überlässt die Wahl des Lesezeitpunkts dem Empfänger. Das Störpotenzial von mündlicher Kommunikation ist viel grösser, weil es direkt in die Freiheit des Angesprochenen und dessen Umgebung eingreift. Wenn man sich nun aber jedes SMS und jedes E-Mail mit einem akustischen Signal anzeigen lässt, dann verschiebt man diese an sich so sinnvollen Kommunikationsformen gleichsam in den mündlichen Bereich, und alle Vorteile des Schriftlichen gehen flöten. Summ — und fünfzehn Minuten Konzentration sind futsch. Pling — und die Gedankenkette ist gerissen, auch diejenige des Nachbarn. Der simple Ratschlag lautet daher, all diese lästigen Tönchen und Vibratiönchen ein für alle Mal abzustellen.

Doch einfache Einsichten haben es in der Arbeitswelt schwer. Von vielen Leuten ist zu hören, sie könnten im Büro gar nicht mehr richtig arbeiten und erledigten das wirklich Wichtige zu Hause. Trotzdem ist der Trend zum unmenschlichen und ineffizienten Grossraumbüro ungebrochen. Die Leute, die uns dieses aufbürden (und selber meist in einem komfortablen Einzelbüro sitzen), übersehen dabei, dass auch Cäsar und Napoleon nur deshalb so effizient sein konnten, weil sie auch in ihrem Arbeitsumfeld die Alleinherrscher waren. Dies ist nicht nur weit entfernt von der Realität des Durchschnittsangestellten, es ist auch nicht wirklich erstrebenswert. Womöglich war es dieselbe Mischung aus Egoismus, Machtgier und Kontrollwahn, die Cäsar und Napoleon im Alltag zum manischen Multitasking trieb und in der Politik zu Eroberungsfeldzügen mit vielen Hunderttausend Toten.

Die wirklich Kreativen hingegen, die so viel für das Wohl der Menschheit getan haben, sind oft das genaue Gegenteil von Multitaskern. Wissenschaftler und Künstler verstehen es meisterhaft, sich auf eine einzige Sache zu konzentrieren und alles andere auszuschalten. Um kreativ zu sein, braucht es nicht immer mehr Gerätchen, ständige Erreichbarkeit und permanente Kommunikation, sondern vielmehr Ruhe, Freiräume und Rückzugsorte.

Mathias Plüss ist redaktioneller Mitarbeiter des «Magazins». Ab sofort schreibt er regelmässig über Wissensthemen.

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