14. Mai 2010, Neue Zürcher Zeitung
«Wir gehen nicht zurück»
Bischkeks Vororte als Spiegel gesellschaftlicher Umbrüche in Kirgistan
Beim Umsturz in Kirgistan haben junge Leute aus den Vororten der Hauptstadt eine wichtige Rolle gespielt. Viele sind auf der Suche nach Arbeit hierhingezogen. Die neue Regierung steht vor der Herausforderung, ihnen eine Perspektive zu geben.
Bernd Steimann und Susan Thieme
Vier Wochen nach den Strassenschlachten in Bischkek scheint weiterhin unklar, wer genau Präsident Kurmanbek Bakijew in die Flucht geschlagen und den Umsturz in Kirgistan herbeigeführt hat. Unter anderem wurde berichtet, dass es sich bei den Aufständischen vor allem um ungebildete, arbeitslose Zugezogene vom Land aus den Vororten Bischkeks gehandelt habe. Laut Augenzeugen haben sich den Protesten jedoch unterschiedlichste Bevölkerungsschichten angeschlossen.
Ein Unruheherd
«Ich war von Anfang an mit dabei, rannte und kämpfte. Rings um mich her kamen Leute ums Leben», erzählt etwa Kuban Aschyrkulow. Der Ingenieur, der früher für die OSZE gearbeitet hat und heute einen......
14. Mai 2010, Neue Zürcher Zeitung
«Wir gehen nicht zurück»
Bischkeks Vororte als Spiegel gesellschaftlicher Umbrüche in Kirgistan
Beim Umsturz in Kirgistan haben junge Leute aus den Vororten der Hauptstadt eine wichtige Rolle gespielt. Viele sind auf der Suche nach Arbeit hierhingezogen. Die neue Regierung steht vor der Herausforderung, ihnen eine Perspektive zu geben.
Bernd Steimann und Susan Thieme
Vier Wochen nach den Strassenschlachten in Bischkek scheint weiterhin unklar, wer genau Präsident Kurmanbek Bakijew in die Flucht geschlagen und den Umsturz in Kirgistan herbeigeführt hat. Unter anderem wurde berichtet, dass es sich bei den Aufständischen vor allem um ungebildete, arbeitslose Zugezogene vom Land aus den Vororten Bischkeks gehandelt habe. Laut Augenzeugen haben sich den Protesten jedoch unterschiedlichste Bevölkerungsschichten angeschlossen.
Ein Unruheherd
«Ich war von Anfang an mit dabei, rannte und kämpfte. Rings um mich her kamen Leute ums Leben», erzählt etwa Kuban Aschyrkulow. Der Ingenieur, der früher für die OSZE gearbeitet hat und heute einen kirgisischen Wirtschaftsverband leitet, verwahrt sich gegen die Vermutung, am 7. April habe sich lediglich der arbeitslose Mob den Frust von der Seele geprügelt. «Tatsächlich kämpften zu Beginn vor allem Leute aus den Vororten mit der Polizei», berichtet er. Dann aber seien innert kürzester Zeit Tausende von Menschen ins Zentrum geströmt, die via Mobiltelefon vom Aufstand erfahren hätten, zuerst Bewohner der Kernstadt, dann aber auch immer mehr Leute aus weiter entfernten Dörfern. Aufgefallen ist Aschyrkulow vor allem, dass es mehrheitlich junge Leute waren, die an vorderster Front kämpften und die Sicherheitskräfte schliesslich in die Flucht schlugen.
Die Ereignisse vom 7. April mögen damit als regelrechter Volksaufstand gelten. Dennoch lässt sich nicht von der Hand weisen, dass Bischkeks rasch wachsende Vororte zu einem Unruheherd geworden sind, der nicht nur massgeblich zum Sturz der Regierung Bakijew beigetragen hat, sondern auch die Interimsregierung bereits wieder vor Probleme stellt. Dies belegen auch die jüngsten, gewalttätigen Auseinandersetzungen um Bauland in mehreren Vororten der Stadt.
Diese Probleme sind nicht neu. Durch Landflucht ist das einst beschauliche Bischkek seit den frühen neunziger Jahren zu einer Grossstadt mit 1,5 Millionen Einwohnern herangewachsen. An ihren Rändern sind mehr als 30 neue Siedlungen mit bis zu 7000 Haushalten entstanden. Diesen planlos wuchernden Neubaugebieten, den sogenannten «nowostroiki», mangelt es meist an Infrastruktur, und der Lebensstandard ist entsprechend tief. Dennoch ziehen immer mehr Menschen aus allen sozialen Schichten und Landesgegenden nach Bischkek. Während viele nur die obligatorische Schule besucht haben, bringen andere ein Universitätsdiplom oder langjährige Berufserfahrung mit. Gemein ist ihnen allen, dass sie auf dem Land für sich und ihre Familie kein Auskommen mehr finden. Viele träumen davon, in Bischkek irgendwann ein eigenes Haus zu bauen.
Verarmte Landbevölkerung
Einer, der das bereits geschafft hat, ist Maksat Kubatbekow. Nachdem der ehemalige Ingenieur mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion 1991 seine Anstellung verloren hatte, beschloss er, sein Glück in Russland zu versuchen. Er verkaufte all sein Vieh und liess Frau und Kinder vorerst in seinem Heimatdorf Ylaitalaa im Süden Kirgistans zurück. «Als ich nach Russland ging, realisierte ich, dass ich vom Staat nichts mehr erwarten kann», erzählt er rückblickend. Diese Einsicht teilte er damals mit Tausenden von Landsleuten.
Dank gesicherten Anstellungen, subventionierten Lebensmitteln und kostenloser Gesundheitsversorgung hatte das Sowjetsystem der ländlichen Bevölkerung bis 1991 ein Leben auf zwar bescheidenem, aber erträglichem Niveau garantiert. Mit der Unabhängigkeit Kirgistans brach eine äusserst schwierige Zeit an, die für viele Familien bis heute andauert. In einem für Zentralasien beispiellosen Reformprogramm wurde der gesamte Agrarsektor der jungen Republik innert weniger Jahre privatisiert.
Land, Vieh und Maschinen der ehemaligen Kollektivbetriebe wurden an die Bevölkerung verteilt. Schon 1995 gab es in Kirgistan Hunderttausende neuer, aber kaum konkurrenzfähiger landwirtschaftlicher Familienbetriebe. Die Folge waren wiederholte Missernten, kollabierende Tierbestände und ein sprunghafter Anstieg der Armut auf dem Lande. Nach Schätzungen der Uno leben heute noch immer etwa 40 Prozent der kirgisischen Bevölkerung unter der Armutsgrenze.
Wachsende Ungleichheit
Die anhaltende Not, teilweise massive Steuerbelastungen und die verbreitete Korruption im Staatsapparat führen auch dazu, dass es im ländlichen Raum noch immer kaum private Unternehmen gibt. Stattdessen verfügt Kirgistan über eine Schattenwirtschaft, deren Umfang der kirgisische Wirtschafts- und Politikexperte Nur Omarow für 2009 auf 1,65 Milliarden Euro schätzt. Das entspricht etwa der Höhe des kirgisischen Staatshaushalts.
Hinzu kommt, dass sich der Graben zwischen Besitzenden und Mittellosen seit der Unabhängigkeit auch auf lokaler Ebene vertieft hat. Unter anderem hat die oft unkontrollierte Privatisierung der Landwirtschaft dazu geführt, dass viele der ehemals leitenden Angestellten der Kollektivbetriebe heute die besten Ländereien und die gesündesten Tiere besitzen. In einem Land, dessen Bevölkerung vorwiegend von Viehzucht und Ackerbau lebt, wiegen solche Ungleichheiten schwer und führen schliesslich zu neuen Abhängigkeiten zwischen Arm und Reich.
«Für Leute mit wenigen Tieren ist es sehr schwierig», meint etwa Kalkan Turganbajew, ein Bauer aus Kyzyl-Tuu, einem Dorf im Südosten des Landes. «Unseren Nachbarn wurden die Kinderzulagen gestrichen, und nun verkaufen sie ihre letzten Ziegen. Bald werden sie sich bei reicheren Leuten verdingen müssen.» Ähnliche Abhängigkeiten entstehen durch das Verleihen von Geld. Weil sich die Ärmsten auch Kleinkredite kaum leisten können, leihen sie oft kleine Summen von reicheren Nachbarn, um Lebensmittel und Schulmaterial zu kaufen. Nicht selten wird diese Schuld durch Fronarbeit abbezahlt.
Wege der Migration
Um dieser Armutsspirale und der allgemeinen Perspektivlosigkeit auf dem Land zu entkommen, versuchen viele ihr Glück anderswo. Wer es sich leisten kann, schickt wenigstens ein Familienmitglied in die Hauptstadt oder weiter nach Kasachstan und Russland, wo bessere Löhne bezahlt werden. Die Migration verläuft dabei fast immer über persönliche Netzwerke. Verwandte werden nachgezogen, oder der Nachbar weiss eine gute Adresse. Auch Maksat Kubatbekows Familie gelangte auf diese Weise schliesslich nach Bischkek. Nachdem er in Russland mit dem Handel von Textilien genug verdient hatte, kehrte Kubatbekow 1994 nach Kirgistan zurück – jedoch nicht in sein Heimatdorf Ylaitalaa. Stattdessen kaufte er sich ein Haus am Rand von Bischkek und einen Marktstand im grössten Basar der Stadt. Bald darauf folgte seine Frau Gunara, eine arbeitslose Buchhalterin, mit den zwei Kindern.
Eine ähnliche Geschichte erzählt Satyrbek Osmonow. Auch er hat Ylaitalaa vor einigen Jahren verlassen. Mit dem Diplom einer technischen Hochschule, aber ohne berufliche Perspektive, begann er erst in Russland, dann in Kasachstan Handel zu treiben. Dabei war ihm stets klar, dass er irgendwann nach Kirgistan zurückkehren würde, allerdings nicht mehr zurück ins Dorf. «Meine jüngere Schwester und ich haben bereits zwei Häuser in Bischkek gekauft», erzählt der junge Mann, der von sich sagt, in Kasachstan ein etablierter Unternehmer zu sein. «Wir gehen nicht zurück, solange es im Dorf keine Einkommensmöglichkeiten gibt.» Dennoch schicken die beiden Geschwister weiterhin Geld nach Hause. Der Druck, für die Familie auf dem Land zu sorgen, hält an – trotz oder vielleicht gerade wegen der gegenwärtigen politischen und ökonomischen Unsicherheiten.
Laut Schätzungen arbeiten mittlerweile 10 bis 20 Prozent der kirgisischen Bevölkerung im Ausland, das sind etwa 30 Prozent aller Erwerbstätigen. 2008 entsprachen ihre Geldüberweisungen in die Heimat einem Drittel des kirgisischen Bruttoinlandprodukts. Inzwischen hat die Wirtschaftskrise zwar zu einem Rückgang der Überweisungen geführt, doch sind längst nicht alle Arbeitskräfte in ihre Dörfer zurückgekehrt. Das trifft die ländlichen Regionen besonders hart und offenbart mehr denn je die Kehrseite der Migration. Zwar sichert die Auswanderung das Überleben eines Grossteils der ländlichen Bevölkerung und führt zu einer engen Verflechtung von Stadt und Land. Gleichzeitig aber schwächt sie den ländlichen Raum, weil in den Dörfern vor allem alte Leute und ihre Enkelkinder zurückbleiben.
Während die Alten noch auf eine Rückkehr ihrer Kinder hoffen, lösen sich diese früher oder später von ihrem Herkunftsort und suchen ihre Zukunft in der Stadt. Auch die Familie Kubatbekow ist in dieser Frage gespalten. Während die Eltern inzwischen über eine Rückkehr nach Ylaitalaa nachdenken, wollen ihre Kinder in Bischkek bleiben. «Ich würde gerne zurück, wir haben ja noch Tiere und ein Haus dort», sagt Gunara. «Aber natürlich gehe ich erst, wenn die Kinder verheiratet sind.»
Veränderte Stadtstruktur
Doch wenn die junge Generation wegbleibt, fehlt dem ländlichen Raum die langfristige wirtschaftliche Perspektive. Dies wiederum veranlasst noch mehr Menschen, in die Stadt zu ziehen. Bereits hat die Uno auf einen zunehmenden Mangel an Lehrpersonen und fallende Bildungsstandards auf dem Land aufmerksam gemacht. Auch ist nicht absehbar, wer sich in Zukunft um die Alten in den Dörfern kümmern soll.
Das Geld, welches nicht in die Dörfer fliesst, wird darum vorwiegend in Bauland am Rande Bischkeks investiert. Nicht immer geschieht dies auf legalem Weg. Bereits in den frühen neunziger Jahren entstanden durch erste Landbesetzungen neue Vororte. 2005 beschleunigte sich diese Entwicklung, als während der «Tulpenrevolution» Tausende von Menschen aus dem Süden nach Bischkek kamen. Viele von ihnen gingen danach jedoch nicht mehr zurück und besetzten stattdessen Land vor den Toren der Stadt. Der Regierung Bakijew gelang es nicht, diese Aneignungen zu verhindern und die Situation in den Vororten zu kontrollieren.
Diese planlose Ansiedlung hat die Stadtstruktur stark verändert. Die Zugezogenen sind sichtbarer Teil der Stadtbevölkerung geworden, sie dominieren die grossen Basare der Stadt und bieten Dienstleistungen aller Art an. Viele kombinieren dabei Arbeit und Ausbildung. Nargisa, die mittlerweile 16-jährige Tochter der Kubatbekows, arbeitet zwar die Hälfte der Woche am Marktstand ihrer Eltern, geht daneben aber zur Schule und hofft auf ein Studium an einer medizinischen Fachschule. Ihr Bruder Rustam studiert bereits, verbringt seine Sommerferien aber auf kasachischen Baustellen, um der Familie unter die Arme zu greifen. Viele der Zugezogenen bleiben damit zumindest teilweise im informellen Sektor tätig, wo die Löhne in der Regel schlecht sind. Die Lebensumstände in den Vororten bleiben deshalb oft prekär. Das mag mit dazu beitragen, dass die vorwiegend jungen Menschen aus den «nowostroiki» oft als Last wahrgenommen werden.
Genau hier scheint eine der grossen Herausforderungen der neuen Regierung zu liegen. Ob als Zwischenstation auf dem Weg ins Ausland oder als neue Heimat der Zurückkehrenden: Die Vororte Bischkeks versammeln ein enormes, von der Politik bisher aber oft verkanntes wirtschaftliches Potenzial und stehen für eine inzwischen äusserst enge Verflechtung von Stadt und Land. Zudem sind sie Heimat vieler junger Menschen, die ihr Leben nicht auf russischen Baustellen und kasachischen Märkten, sondern in Kirgistan verbringen wollen. «Alles hängt davon ab, ob sich die Jungen in Zukunft von der Politik ernst genommen fühlen», meint auch Kuban Aschyrkulow, der miterlebt hat, wie zornige junge Erwachsene am 7. April unter Lebensgefahr den Zaun des Regierungsgebäudes niedergerissen haben. Gelingt dies nicht, scheinen weitere Unruhen unausweichlich.
Bernd Steimann und Susan Thieme arbeiten am Geografischen Institut der Universität Zürich und beschäftigen sich im Rahmen des Nationalen Forschungsschwerpunktes Nord-Süd mit ländlicher Entwicklung und Migration in Kirgistan.
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