Montag, Mai 03, 2010

Flug über verbotenes Land

30. April 2010, Neue Zürcher Zeitung
Flug über verbotenes Land
Vor 50 Jahren erschütterte die U-2-Spionage-Krise die Welt – Chruschtschew liess Eisenhower am Gipfel von Paris abblitzen

Vor genau 50 Jahren, am 1. Mai 1960, wurde ein amerikanisches Spionageflugzeug über dem Ural abgeschossen. Damit begann die sogenannte U-2-Krise, die das Verhältnis zwischen den beiden Supermächten einer heiklen Belastungsprobe unterstellte.

Jürg Dedial

Am 1. Mai 1960, in aller Frühe, hob von einer Piste in Peshawar in Pakistan ein dunkelgraues, unmarkiertes Flugzeug ab und verschwand bald im Dunst der Dämmerung. Der Pilot, der 31-jährige Amerikaner Francis Gary Powers, nahm mit der Maschine Kurs nach Norden. Sein Ziel war die norwegische Nato-Basis von Bodö, wo die Landung nach rund neun Stunden Flugzeit vorgesehen war. Der in eine Art Raumanzug gekleidete Pilot flog in geheimer Mission. Es gab keine Sprechfunk-Verbindung. Nur einmal, nach etwa anderthalb Stunden Flugzeit, klickte er zweimal ein kurzes Morsezeichen. Dies war für die Kommandostelle in Peshawar das Signal, dass er seinen eigentlichen Einsatz begonnen hatte und sich abmeldete. Gegen 8 Uhr überquerte er die sowjetische Grenze in....


30. April 2010, Neue Zürcher Zeitung
Flug über verbotenes Land
Vor 50 Jahren erschütterte die U-2-Spionage-Krise die Welt – Chruschtschew liess Eisenhower am Gipfel von Paris abblitzen

Vor genau 50 Jahren, am 1. Mai 1960, wurde ein amerikanisches Spionageflugzeug über dem Ural abgeschossen. Damit begann die sogenannte U-2-Krise, die das Verhältnis zwischen den beiden Supermächten einer heiklen Belastungsprobe unterstellte.

Jürg Dedial

Am 1. Mai 1960, in aller Frühe, hob von einer Piste in Peshawar in Pakistan ein dunkelgraues, unmarkiertes Flugzeug ab und verschwand bald im Dunst der Dämmerung. Der Pilot, der 31-jährige Amerikaner Francis Gary Powers, nahm mit der Maschine Kurs nach Norden. Sein Ziel war die norwegische Nato-Basis von Bodö, wo die Landung nach rund neun Stunden Flugzeit vorgesehen war. Der in eine Art Raumanzug gekleidete Pilot flog in geheimer Mission. Es gab keine Sprechfunk-Verbindung. Nur einmal, nach etwa anderthalb Stunden Flugzeit, klickte er zweimal ein kurzes Morsezeichen. Dies war für die Kommandostelle in Peshawar das Signal, dass er seinen eigentlichen Einsatz begonnen hatte und sich abmeldete. Gegen 8 Uhr überquerte er die sowjetische Grenze in Tadschikistan. Er drang jetzt in Feindesland ein, dessen Geheimnisse er zu erkunden hatte.

Im Sold der CIA

Powers' Maschine war eine U-2, ein Aufklärungsflugzeug der CIA, und der Pilot, ein ehemaliger Luftwaffenoffizier, stand im Sold des Geheimdienstes. Er hatte die Aufgabe, strategische Einrichtungen und Produktionsstätten in der Sowjetunion zu fotografieren, Radarstellungen zu erkunden, Raketenabschussrampen festzustellen – kurz: alle Daten zu sammeln, die zur Einschätzung der sowjetischen Militärmacht dienen konnten.

Es war ein ungeheuer gewagtes Spiel der Vereinigten Staaten im Ringen um Vorteile im Kalten Krieg. Während Amerika ein offenes Land war, in welchem sich sowjetische Spionage mit grossen Erfolgschancen betreiben liess, gab es für die Amerikaner praktisch keine Möglichkeit, direkt an Informationen über die Rüstungsanstrengungen der Sowjetunion zu gelangen. Gerade die Industriegebiete im Ural und in Westsibirien waren verbotenes Land. Da die Zeit der Spionagesatelliten noch nicht angebrochen war, gab es nur einen Weg: Überflüge mit Aufklärungsflugzeugen.

Die U-2 war eine hochspezialisierte Plattform für Kameras und Sensoren. Sie sah aus wie ein strahlgetriebenes Segelflugzeug, war sehr leicht gebaut, mit extremer Spannweite und einem starken Triebwerk, was sie zu transkontinentalen Reichweiten und Einsatzflughöhen von weit über 20 000 Metern befähigte – eine damals unglaubliche Leistung. Aber sie war auch schwierig zu fliegen und nur von sehr erfahrenen Piloten zu beherrschen. Der legendäre Lockheed-Konstrukteur «Kelly» Johnson hatte sie 1955 gebaut, weil die Geheimdienste unbedingt die Möglichkeit haben wollten, hinter die Kulissen des sowjetischen Machtbereichs zu blicken.

Machtlose Luftabwehr

Mit der U-2 war dies ab 1956 möglich geworden. Offiziell als Wetterflugzeug in Grossbritannien, der Türkei, in Pakistan oder Japan eingesetzt, flog sie in Wirklichkeit über China und die Sowjetunion, und zwar so hoch, dass die jeweilige Luftabwehr kein Gegenmittel gegen sie hatte. Die U-2-Piloten registrierten zwar jeweils die Erfassung durch sowjetische Radarstationen. Aber weder die Jagdflugzeuge noch die Flabmissile erreichten sie. Es muss für die Moskauer Führung fast unerträglich gewesen sein, immer wieder Meldungen von Überflügen zu erhalten. Die Amerikaner wussten genau, dass die Gegenseite nicht an die Öffentlichkeit gehen konnte, ohne sich zu blamieren. Beide waren also zum Schweigen über die Spionageflüge verdammt. Es war ein Duell, das der absurden Dialektik des Kalten Krieges folgte. An diesem 1. Mai freilich sollte sich das gründlich ändern.

Um 10 Uhr 30 war Powers in Sichtweite des Urals gelangt. Er hatte zuvor die sowjetischen Raketenabschussrampen von Tiuratam in Kasachstan überflogen und fotografiert. Und er hatte jeden Radarkontakt genau registriert. Seine weiteren Ziele waren nun die Industriemetropolen Swerdlowsk und Kirow, und nach einem Überflug der Häfen von Archangelsk und Murmansk und weiterer Flottenbasen hätte er am Abend sein Ziel Bodö erreichen sollen.

Eine folgenschwere Explosion


Just als er mit einer leichten Linkskurve Swerdlowsk umfliegen wollte, wurde die U-2 von einer gewaltigen Explosion erfasst und durchgeschüttelt. Eine von 14 abgefeuerten SA-2-Raketen war nahe genug gekommen, um die U-2 zu beschädigen. Sie liess sich nicht mehr steuern. Es misslang Powers, den Selbstzerstörungsmechanismus zu betätigen, aber er konnte aussteigen und mit dem Fallschirm zur Erde gleiten, wo er auf einem Acker von Bauern in Empfang genommen wurde. Bald war er in Polizeigewahrsam. Damit hatte die sogenannte U-2-Krise begonnen, einer der Höhepunkte des Kalten Kriegs.

Nikitas grosser Triumph

Während Powers von Swerdlowsk nach Moskau gebracht wurde, liefen in Washington die Drähte heiss. Man wusste nichts von Powers' Schicksal, ausser dass er als vermisst galt. Vor allem rechnete niemand damit, dass der U-2-Pilot noch lebte. Ein Absturz aus 20 000 Metern Höhe war kaum zu überstehen, und falls er lebend in die Hände der Gegenseite gefallen sein sollte, hätte man erwartet, dass er sich umbringe. Dazu hatte man ihm eine vergiftete Injektionsnadel mitgegeben.

So versteifte man sich nach der ersten sowjetischen Abschussmeldung auf die Version, der Pilot sei auf einer Wetter-Mission wegen Problemen mit der Sauerstoffversorgung im Norden der Türkei verschwunden und seither verschollen. Die Nasa bemalte eigens eine U-2 mit ihren Insignien, um sie vor der Presse als ziviles Wetterflugzeug darzustellen. In Amerika mochten Millionen diese Show glauben. In Moskau hingegen bereitete man sich auf die Demaskierung der Lüge vor, eine Chance, die man sich nicht nehmen liess.

Es war Ministerpräsident Nikita Chruschtschew selbst, der am 7. Mai vor die Öffentlichkeit trat und von den Details des Abschusses der U-2 berichtete. Er konnte Trümmerteile und bereits entwickelte Spionagebilder präsentieren sowie Utensilien wie die Giftnadel, diverse Banknotenbündel oder Golduhren und Schmuckstücke vorzeigen, die Powers auf sich getragen hatte. Ironisch fragte er, ob der Wetterpilot damit die Frauen auf dem Mars hätte bezirzen wollen. In Wirklichkeit, donnerte er dann los, seien die Militaristen im Pentagon unfähig, ihre Kriegstreiberei einzustellen, und er drohte den USA mit der Zerstörung ihrer U-2-Stützpunkte. Was man damals im Westen nicht wusste, war, dass ein Spion in Bodö den Russen jeweils die genauen Details der Flüge nach Norwegen mitgeteilt hatte. Sie waren zweifellos über die gesamten U-2-Aktivitäten bestens im Bilde.

Die Krise weitete sich schnell aus. Die Sowjetunion hatte keine andere Wahl, als heftig zu reagieren. Nicht nur das Datum des 1. Mai, an welchem der Flug stattfand, sondern auch die Tatsache, dass die Amerikaner zuvor während acht Monaten die Flüge praktisch eingestellt hatten, um für das Gipfeltreffen von Paris vom 15. bis 16. Mai eine gute Atmosphäre zu schaffen, erzürnte die Russen masslos. Es war ihnen klar, dass sich die Amerikaner für den Gipfel zwischen Eisenhower und Chruschtschew eine Trumpfkarte mit den letzten Erkenntnissen über die sowjetischen Rüstungsanstrengungen hatten verschaffen wollen. Dies hätte Chruschtschew erheblich benachteiligt. Dass sie dies ausgerechnet am 1. Mai, dem kommunistischen Feiertag, versuchten, war ein doppelter Affront.

Der Gipfel scheitert


Zwar gab das Weisse Haus noch am 7. Mai in einem peinlichen Rückzug zu, man habe mit den U-2-Flügen Spionage betrieben. Diese Missionen seien aber unabdingbar für die Sicherheit der Nation gewesen, erklärte man. Von einer Entschuldigung war keine Rede. Dies wiederum gab Chruschtschew die Steilvorlage, um am 16. Mai mit viel Lärm den Pariser Gipfel abzubrechen und das west-östliche Klima einem markanten Temperatursturz auszusetzen. Nach dem Verlust eines der bestgehüteten Geheimnisse hatten die Amerikaner nun auch noch die Schmach dieser diplomatischen Kalamität zu ertragen.

Dabei stand ihnen das Schlimmste noch bevor. Am 17. August begann in Moskau der Schauprozess gegen Powers, bei dem es weniger um den bedauernswerten Piloten ging als um die Aussenpolitik der USA. Es war alles auf eine beissende Systemkritik angelegt, was die Anklage denn auch gebührend herausstrich. Nicht uninteressant, besonders aus amerikanischer Sicht, war natürlich die Frage, was Powers in seinen Verhören alles preisgegeben haben könnte. Der Angeklagte beschrieb diese Befragungen und die harschen Haftbedingungen in seiner Autobiografie («Operation Overflight») ausführlich und kam immer wieder auf die insistierenden Fragen der Verhörexperten zu den Leistungen der U-2, besonders der Flughöhe, zurück. Nach seiner Schilderung gelang es ihm, diese Fakten zu verschleiern. Es steht fest, dass er anständig behandelt und keinerlei Folter oder Hirnwäsche unterzogen wurde, wie das amerikanische Leseheft «Readers' Digest» damals behauptete.

Gegen Abel ausgetauscht


Powers wurde am 19. August zu drei Jahren Gefängnis und sieben Jahren Zwangsarbeit verurteilt. Er kam in die Haftanstalt von Wladimir, östlich von Moskau, und seine Haftbedingungen waren streng, aber nicht zerstörerisch. Den seltenen Kontakten mit seiner Frau konnte er entnehmen, dass in Washington an einer vorzeitigen Freilassung gearbeitet wurde. Aus ihm zugänglichen Presseberichten aus der Heimat musste er aber auch erkennen, dass in den USA eine Kontroverse über sein angeblich unpatriotisches Verhalten – weil er die U-2 nicht zerstört und sich nicht umgebracht hatte – geführt wurde. Es war ihm schon in sowjetischer Haft klar, dass er nicht als Held in seine Heimat zurückkehren würde.

So geschah es denn auch. Zwar wurde Francis Gary Powers am 10. Februar 1962 auf der berühmten Glienicker Brücke in Berlin gegen den sowjetischen Meisterspion Rudolf Abel ausgetauscht. Aber eine triumphale Heimkehr gab es nicht. Er wurde von der CIA isoliert und ausführlich befragt. An eine weitere Beschäftigung als Pilot des Geheimdienstes war nicht mehr zu denken. Powers fand bei Lockheed eine Stelle als Testflieger, ehe er 1970 dann für eine private Helikopterfirma tätig wurde. In dieser Funktion stürzte er 1977 in Los Angeles ab. Die Dankbarkeit seiner Heimat äusserte sich darin, dass er auf dem Friedhof von Arlington in Virginia beigesetzt wurde. Eine postume Ehrung erfuhr Powers erst vor genau zehn Jahren, am 1. Mai 2000, dem 40. Jahrestag seines Schicksalsfluges über die Sowjetunion. Seine Angehörigen erhielten im Rahmen einer kurzen Feier mehrere Medaillen überreicht.

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