Die Spekulities um den Hintergrund des Todes von Alexander Litwinenko dreht momentan 007 die Luft ab. Werden wir jemals mehr wissen? Die Nzz am Sonntag ist pessimistisch.
3. Dezember 2006, NZZ am Sonntag
Die Giftmischer von «Londongrad»
Auch zehn Tage nach seinem Tod sorgt der frühere russische Agent Alexander Litwinenko für Schlagzeilen. Die radioaktiven Spuren seines dubiosen Freundeskreises bestimmen die Fahndung der britischen Polizei.
Martin Alioth, Dublin
Drei Pathologen in gelben Strahlenschutz-Anzügen haben am Freitag in London die Leiche von Alexander Litwinenko obduziert. Der ehemalige russische Agent war vor zehn Tagen in einem Londoner Spital an den Folgen radioaktiver Verstrahlung gestorben. Neben dem britischen Amtsarzt waren ein von den Hinterbliebenen ernannter Spezialist und ein unabhängiger Facharzt anwesend; so soll künftiger Legendenbildung vorgebeugt werden.
Noch während die Organe für Laboruntersuchungen entnommen wurden, kam die Nachricht, dass das seltene, toxische Isotop Polonium-210 auch im Körper von Mario Scaramella «in signifikanter Dosis» gefunden worden sei. Ein erwachsenes Familienmitglied Litwinenkos wies ebenfalls schwache Spuren auf. Seither stehen die Reporter britischer Medien vor einer rosafarbenen Bretterwand in Piccadilly Schlange: Die Sushi-Bar «Itsu» ist als potenzieller Schauplatz eines Verbrechens abgesperrt, da Litwinenko und Scaramella sich dort am 1. November zu einer Besprechung trafen.
Mordkomplott in der Bar
Scaramella, ein selbsternannter Experte für nukleare Abfälle und die Machinationen des sowjetischen Geheimdienstes, hatte ein Schreiben mitgebracht, in dem finstere Gestalten aus dem Dunstkreis des russischen Geheimdienstes bezichtigt wurden, sie wollten in London und Rom die Feinde Russlands eliminieren. Ein hinkender Judo-Experte mit Kenntnissen der portugiesischen Sprache wurde als gedungener Mörder genannt. Auf der Liste standen nicht bloss die beiden Herren in der Sushi-Bar, sondern auch ein italienischer Abgeordneter und Boris Beresowski, der schwerreiche russische Oligarch im Londoner Exil.
Der 44-jährige Litwinenko nahm das Komplott nicht ernst. Wenige Stunden später fühlte er sich unwohl, zwei Tage darauf diagnostizierten Ärzte eine Gastroenteritis. Es sollte nicht die letzte Fehldiagnose bleiben. Bald schon galt das ebenfalls radioaktive Schwermetall Thallium als Ursache, erst kurz vor seinem Tod fanden die Ärzte endlich Polonium-210 im Urin Litwinenkos. Die Alphastrahlen des synthetisch hergestellten Halbmetalls hatten seine Zellenstruktur zerstört. Laut unbestätigten Berichten fanden die Pathologen indessen nicht nur Polonium, sondern auch Thallium in der Leiche.
In einer postum verlesenen Anklage beschuldigte Litwinenko direkt den russischen Präsidenten Wladimir Putin des Mordes. Litwinenko hatte Putin früher schon bezichtigt, Sprengstoffanschläge in Russland als Vorwand für den zweiten Tschetschenien-Krieg angeordnet zu haben. Er beschimpfte ihn auch als Kinderschänder, behauptete, der KGB habe Usama bin Ladins Stellvertreter ausgebildet, und Italiens Ministerpräsident Romano Prodi sei KGB-Agent gewesen.
Zwei Londoner Akademiker, denen Litwinenko unlängst anvertraut hatte, er sei selbst im FSB für Morde zuständig gewesen, kamen zum Schluss, der einstige Agent sei «nicht fähig, seine eigenen Motive oder Taten zu analysieren». Sie hielten ihn für «einen gewöhnlichen Sowjet-Soldaten», der weit über seine Fähigkeiten hinaus befördert worden war, «in eine Welt, die ihn brutal missbrauchte».
Litwinenko hatte einen Gönner in London, den Oligarchen Boris Beresowski, einen begnadeten Manipulator, den Litwinenko nach eigenen Angaben einst hätte ermorden sollen. Er diente Beresowski später als Leibwächter, ebenso wie Andrei Lugowoi, ebenfalls ein KGB-Veteran.
Dieser Lugowoi taucht in der Fahndung nach den mutmasslichen Mördern Litwinenkos gleich mehrfach auf: In Begleitung zweier weiterer Russen traf Lugowoi seinen ehemaligen Kollegen im Londoner Millennium-Hotel, gleich nach dessen Rendez-vous in der Sushi-Bar. Diejenigen Linienmaschinen von British Airways, in welchen Lugowoi gereist war, wurden für Strahlentests zeitweilig aus dem Verkehr gezogen. Ferner war Lugowoi einst Leibwächter des ehemaligen russischen Ministerpräsidenten Jegor Gaidar, der letzte Woche während eines Seminars in Irland mit Vergiftungserscheinungen zusammenbrach.
An zwölf Orten in London sowie in zwei Flugzeugen wurden radioaktive Spuren entdeckt. Die Flugzeuge waren vor dem 1. November aus Moskau eingeflogen; die britische Terrorabwehr fahndet nach den Quellen des Poloniums und sucht sie in Moskau. Im Millennium-Hotel sollen derart beträchtliche Spuren gefunden worden sein, dass eine sekundäre Verunreinigung, etwa durch Schweiss von Litwinenko, unwahrscheinlich sei. Auch bei Scaramella wird eine indirekte Kontamination vorläufig ausgeschlossen.
Wem nützt es?
Wenn die Suche nach den Tätern nach Moskau führt, bleibt doch der Verdacht, dass Londoner Kontakte beteiligt waren. Reiche Russen haben arabische Ölscheichs und Wertschriftenhändler aus der Londoner City als Käufer teurer Londoner Villen abgelöst. Ein Drittel aller russischen Milliardäre soll sich inzwischen in London niedergelassen haben, das seither gelegentlich spöttisch «Londongrad» genannt wird. Sie spielen gerne Polo und gehen auf die Jagd, bevor sie sich in ihre festungsartig geschützten Refugien in Belgravia, Chelsea, Knightsbridge und Kensington zurückziehen.
Nicht alle Exil-Russen in London haben eine reine Weste. Die Briten haben noch nie einen Russen ausgeliefert. Doch Mitte November unterzeichneten sie mit der russischen Staatsanwaltschaft ein Zusatzprotokoll: Künftig soll Moskau seine Auslieferungsanträge in enger Zusammenarbeit mit den britischen Behörden zusammenstellen. Boris Beresowski dürfte weit oben auf ihrer Liste stehen.
Wem nützt Litwinenkos qualvoller Tod? Raub-Kapitalisten, ein wenig straff geführter Geheimdienst und kriminelle Interessen verknäueln sich zur Traumbesetzung für einen Thriller. Anders als in der Literatur allerdings werden die Fäden womöglich am Schluss nicht entwirrt. Litwinenko mag seine Geheimnisse mit ins Grab nehmen - in einem plombierten Sarg, schreiben die britischen Behörden vor.
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