Sonntag, Dezember 17, 2006

Reich Länder und arme Länder - die Unterschiede sind möglicherweise kulturell mitbeinflusst

Arme und reiche Länder sind nicht gleichmäßig oder willkürlich über den Erdball verstreut, sondern bilden meist geographische Einheiten: Armes Land grenzt an armes Land, reiches an reiches. So unterschiedlich zum Beispiel die schwarzafrikanischen oder Subsaharastaaten Afrikas auch sein mögen, sie sind doch fast ausnahmslos arm und schlecht regiert.
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Siegfried Kohlhammer
Kulturelle Grundlagen wirtschaftlichen Erfolgs

Afrika ist der ärmste Kontinent, die meisten Länder sind heute ärmer als vor fünfundzwanzig Jahren. Alle Versuche, Afrika von außen zu helfen, waren weitgehend erfolglos: Afrika ist der Kontinent mit der höchsten Entwicklungshilfe pro Kopf der Bevölkerung im Jahr: 31 Dollar gegenüber durchschnittlich 11 Dollar in der gesamten Dritten Welt – insgesamt circa 300 Milliarden Dollar seit der Entkolonialisierung Schwarzafrikas, 580 Milliarden gar errechnete die südafrikanische Brenthurst Foundation.

Eine weitere wirtschaftlich-geographische Einheit, die zweitärmste, bilden die islamischen Länder von Marokko bis zum Iran, von Pakistan bis Indonesien. Wirtschaftlich reiche Regionen sind die Länder Ostasiens wie Taiwan, Südkorea, Japan und zunehmend Chinas Küstenregionen oder die Länder West- und Mitteleuropas: Deren nordamerikanische und ozeanische Ableger Australien und Neuseeland liegen freilich aus historischen Gründen – Kolonialismus, Emigration – geographisch weit voneinander entfernt. Eine weitere Einheit bilden die lateinamerikanischen Länder. Man könnte daraus den Schluß ziehen, daß Geographie und Klima über die wirtschaftliche Entwicklung entscheiden. So spricht etwa der französische Wirtschaftswissenschaftler Daniel Cohen 2004 von der »Bedeutung der Geographie«. Durch nichts lasse sich das wirtschaftliche Wachstum eines Landes besser voraussagen als durch die Wachstumsrate seiner unmittelbaren Nachbarn.

Geographie und Klima spielen sicher eine Rolle, entscheidend sind sie aber nicht, und sie sind es um so weniger, je mehr die Wirtschaftstätigkeit sich von ihren natürlichen Grundlagen und agrarischen Ursprüngen entfernt. Rußland und Kanada sind unter diesem Aspekt sehr ähnlich – in der wirtschaftlichen Entwicklung unterscheiden sich die beiden erheblich. Singapur oder Malaysia sind beide mit den tropischen Ländern Schwarzafrikas hinsichtlich Klima und geographischen Voraussetzungen vergleichbar, nicht aber in ihrem wirtschaftlichen Entwicklungsstand. Entwickelte reiche Länder finden sich inzwischen in den Tropen wie in den Subtropen, im hohen Norden wie bei den Antipoden: Laut Weltbank beträgt das jährliche Pro-Kopf-Einkommen in US-Dollar in Singapur 24 000, in Japan 37 000, in Island 39 000 und Australien 27 000. Man vergleiche diese Zahlen mit folgenden: Burundi 90 Dollar, Liberia 110, Äthiopien 110, Kongo 120.

Nun könnte man meinen, daß diese Unterschiede auf einem Mangel an Kapital für Investitionen in Maschinen und moderne Technologie beruhten. Die folgenden Beispiele sprechen dagegen: Nigeria wie Hongkong erhöhten im Zeitraum 1960 bis 1985 ihre Investitionen in Maschinen etc. pro Arbeiter um über 250 Prozent. Die Produktivität der nigerianischen Arbeiter wuchs dabei um 12 Prozent, die Hongkongs um 328 Prozent; im selben Zeitraum erhöhten Gambia und Japan die genannten Investitionen gar um 500 Prozent – die Produktivität pro Arbeiter wuchs in Japan um 260 Prozent, in Gambia um 2 Prozent. Algerien investierte circa 100 Milliarden Dollar in seine Industrialisierung – eine konkurrenzfähige algerische Industrie gibt es auch heute noch nicht. Die Produktivität der Menschen in unterschiedlichen Regionen der Welt ist offenbar sehr unterschiedlich, und der geographische Ort ist keine ausreichende Erklärung dafür. Die Bevölkerung der islamischen Länder macht zum Beispiel circa 20 Prozent der Weltbevölkerung aus, produziert aber nur einen Anteil von 6 Prozent am Weltprodukt.

Das jährliche Pro-Kopf-Einkommen beträgt im Jahre 2004 im Mittleren Osten und Nordafrika 2000 Dollar, in Schwarzafrika 600. Im Fall der lateinamerikanischen Länder sind es 3600 Dollar, in den Euroländern 28 000. Ägypten und Ghana hatten zu Beginn der sechziger Jahre das gleiche Pro-Kopf-Einkommen wie Südkorea und Taiwan; die einen sind arme Entwicklungsländer geblieben, die anderen bedeutende Industrieländer geworden. Die wirtschaftliche Leistung des Nahen Ostens hat wie in Afrika in den letzten fünfundzwanzig Jahren nachgelassen, wenn auch nicht im selben Maße. Extrapoliert man jedoch die Einnahmen aus dem Erdöl, nähern sich die Wirtschaftsdaten dieser Region denen Schwarzafrikas an.

Eine andere Erklärung für diese Ungleichheit bietet das politische System und eine entsprechende Wirtschaftspolitik: Das frühere West- und Ostdeutschland waren sich geographisch-klimatisch sehr ähnlich, wirtschaftlich aber nicht; krasser ist auch heute noch der wirtschaftliche Unterschied zwischen Südkorea und Nordkorea, und der entscheidende Grund ist in beiden Fällen ganz sicher das politisch bedingte Wirtschaftssystem. China entwickelte sich sprunghaft, sobald es zumindest im Bereich der Wirtschaft den Kommunismus teilweise abschaffte. Noch vor etwa zehn Jahren hatten die 36 Millionen Chinesen außerhalb des kommunistischen China mehr Reichtum produziert als die 1,2 Milliarden in der Volksrepublik. Aber offensichtlich garantiert auch die Einführung einer kapitalistischen Marktwirtschaft keine Entwicklung: Die meisten islamischen und afrikanischen Staaten sind – zumindest verfassungsmäßig-rechtlich – kapitalistische Marktwirtschaften. Geholfen hat das wenig. Auch stoßen wir häufig auf das Phänomen, daß verschiedene ethnische oder religiöse Gruppen in einem Lande wirtschaftlich unterschiedlich erfolgreich sind.

Autoritärer bis diktatorischer Regierungsstil und Mangel an Demokratie sind oft für die schlechte wirtschaftliche Situation in Afrika oder den islamischen Ländern verantwortlich gemacht worden. Aber es gibt zahlreiche Länder, die eine erstaunliche wirtschaftliche Entwicklung unter autoritären Regierungen geschafft haben: Südkorea zum Beispiel oder Taiwan, Singapur oder Chile. Und es gibt gute Gründe für die These, daß Demokratie zwar auf erfolgreiche Entwicklungsdiktaturen folgen kann (siehe Südkorea oder Taiwan), Demokratie aber keine notwendige, ja nicht einmal eine günstige Voraussetzung für wirtschaftliche Entwicklung ist, vor allem nicht in ethnisch heterogenen Gesellschaften, und das sind ja die Mehrzahl der Entwicklungsländer. Zweifellos haben die schlechten Regierungen mit ihrer haarsträubenden Korruption, ihrem Nepotismus, der Bereicherung der Eliten durch die Plünderung des Staates und die Erpressung der privaten Wirtschaft und der damit einhergehenden Rechtsunsicherheit, mit dem Verfall der Infrastruktur und dem Ausbleiben von Investitionen verheerende Folgen für die wirtschaftliche Entwicklung der betroffenen Länder, und insofern ließe sich sagen, daß bad governance eine entscheidende Ursache für ausbleibende Entwicklung und Armut sei.

So wird aber die Frage nach den Ursachen nur verschoben, denn was erklärt die kontinuierlich schlechte Regierung in der Region? Warum wird von den Regierenden fast überall und fast immer wieder eine entwicklungshemmende Politik verfolgt, obwohl deren Mängel doch offensichtlich sind und zum Himmel schreien? Die afrikanischen und islamischen Länder hatten gewiß keinen Mangel an Diktatoren und Tyrannen: Warum ist keiner von ihnen zum Entwicklungsdiktator geworden, warum sind alle Hoffnungen immer wieder enttäuscht worden? (Malaysias autoritärer Mahatir und Indonesiens Diktator Suharto scheinen ein Gegenargument zu bieten, aber die wirtschaftlichen Erfolge dieser beiden Länder sind wesentlich den chinesischen und indischen Einwanderern zuzuschreiben.)

Die Erklärung, die sich aufdrängt, ist der Unterschied der Kulturen. Es gibt anscheinend Kulturen und Kulturkreise, die schlechtere oder günstigere Voraussetzungen für wirtschaftliche Entwicklung und good governance bieten. Die eingangs unter wirtschaftlichen Gesichtspunkten skizzierten Einheiten wie »afrikanische« oder »islamische Länder« entsprechen zugleich ungefähr den Grenzen der Weltkulturen. »Kultur« sei hier verstanden als etwas bewußt oder unbewußt Erlerntes, als ein unsystematisches und wandelbares – wenn auch oft erstaunlich langlebiges – Ganzes von Angewohnheiten und Anschauungen, Werten und Abneigungen, Denkweisen und Annahmen über die Welt. Kultur beinhaltet also ein Weltbild, »das bestimmte Arten der Wahrnehmung gestattet (oder begünstigt), andere verhindert (oder erschwert), die Individuen mit spezifischen Eigenschaften ausstattet, während es ihnen andere vorenthält und die Aufmerksamkeit der Menschen auf bestimmte Sachverhalte lenkt und von anderen abzieht« – so der Soziologe und Entwicklungsexperte Uwe Simson.(1)

Deutliche Unterschiede im Wohlstand verschiedener Kulturen findet man nicht nur zwischen den Ländern, sondern häufig auch innerhalb eines Landes: der oft erstaunlich große Unterschied des wirtschaftlichen Erfolgs ethnischer Gruppen, die schon immer oder seit langer Zeit in ein und demselben Land lebten – zum Beispiel die Juden in Deutschland, den USA und zahlreichen anderen Ländern, die Deutschen im zaristischen Rußland oder Osteuropa, die Armenier und Griechen im Osmanischen Reich, die Parsen, Dschainas und Sikhs in Indien, die Ibos in Nigeria, die Basken oder Katalanen in Spanien, die Protestanten in Frankreich usw . . .

Kaum weniger selten ist das Phänomen von wirtschaftlich unterdurchschnittlich erfolgreichen Gruppen: den Sinti und Roma etwa, oder den Indianern und Schwarzen in den USA, den Sizilianern und Kalabresen in Italien. Bis in die sechziger Jahre hinein waren die aus Frankreich stammenden Bewohner der kanadischen Provinz Quebec wirtschaftlich weit hinter den anderen Provinzen zurück. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts war das durchschnittliche Einkommen eines deutschen Juden dreimal so hoch wie das seiner christlichen Mitbürger. Obwohl nur 5 Prozent der Bewohner Berlins damals Juden waren, kamen sie für 31 Prozent der Einkommensteuer der Stadt auf. In den USA sind die Juden heute die Gruppe mit dem höchsten Durchschnittseinkommen, 1969 war es um 80 Prozent höher als das der anderen Amerikaner. Auffällig hier wie dort war und ist die außergewöhnliche Lern- und Bildungsbereitschaft der Juden, was sich in ihrem weit überproportionalen Anteil im sekundären und tertiären Ausbildungsbereich sowie an den Wissenschaftlern vieler Sparten zeigt. Mit weniger als einem Prozent der Weltbevölkerung stellen die Juden 16 Prozent aller Nobelpreisträger.

Wie die Beispiele ahnen lassen, hat das mit Rasse nichts zu tun. Bei den amerikanischen Schwarzen etwa gibt es deutliche Unterschiede zwischen denjenigen, deren Vorfahren im 19. Jahrhundert Sklaven waren oder Freie. Die Kultur der Sklavenhaltergesellschaft wirkte sich in ihrer negativen Einstellung gegenüber Arbeit und Schule auch auf die weiße Bevölkerung der Südstaaten und deren unterdurchschnittliche schulische und wirtschaftliche Leistungen aus.

Fast alle Staaten, die mehrere ethnisch verschiedene Gruppen von Einwanderern aufgenommen haben, kennen das Phänomen des unterschiedlichen wirtschaftlichen Erfolgs dieser Gruppen. Die ungelernten chinesischen Arbeiter auf den Kautschukplantagen des kolonialen Malaysia waren doppelt so produktiv wie die einheimischen Arbeiter und verdienten auch mehr als das Doppelte; hundert Jahre später berichtet die französische Zeitung Libération aus Gabun, daß dort chinesische Arbeiter und Ingenieure die großen Bauprojekte der Regierung realisieren. Die etwa 100 chinesischen Arbeiter, die aus China herantransportiert werden und untergebracht werden müssen, was zusätzliche Kosten verursacht, erhalten einen mehr als doppelt so hohen Lohn wie die etwa 50 afrikanischen Arbeiter. Warum? Weil sie dreimal so schnell und außerdem zuverlässiger arbeiten, erklärt eine Chinesin. Eine europäische Architektin vor Ort bestätigt das: »Sie sind superschnell! Wir haben ihnen einmal einen Auftrag erteilt, den sie in weniger als acht Tagen erledigt haben. Unser europäisches Team hätte dafür dreimal so lange gebraucht.«

Die Chinesen gehören zu den wirtschaftlich erfolgreichsten Einwanderern auf der Welt – in Indonesien wie in den USA, in Singapur wie in Jamaika, einzig die indischen, japanischen und koreanischen Einwanderer können da mithalten. Sie haben gewöhnlich ein erheblich höheres Einkommen als die anderen Bevölkerungsteile. In Indonesien, wo sie weniger als 5 Prozent der Bevölkerung stellen, verfügen sie über etwa 70 Prozent des privaten Kapitals und besitzen 150 der 200 größten Unternehmen. In den USA hatten chinesisch-amerikanische Familien bereits 1969 ein 12 Prozent höheres Einkommen als die amerikanische Durchschnittsfamilie, 1990 war es 60 Prozent höher als das anderer amerikanischer Familien.

In Malaysia ist das chinesische Durchschnittseinkommen doppelt so hoch, in Jamaika dreimal so hoch. Und doch waren die Chinesen als arme und ungelernte, meist analphabetische Arbeiter in diese Länder gekommen. Aber schon die zweite Generation konnte auf der Grundlage der harten Arbeit und Sparsamkeit ihrer Eltern und ihrer eigenen schulischen Leistungen den Status der ungelernten Arbeiter verlassen und dann Händler oder Unternehmer werden und in freie Berufe aufsteigen. 1911 waren noch 50 Prozent aller Chinesen in Malaysia Arbeiter, zwanzig Jahre später nur noch 11 Prozent. In Thailand, Indonesien, Malaysia waren wesentlich sie es, die die wirtschaftliche Entwicklung dieser Länder voranbrachten. Die Thais und Malayen waren kaum mehr als Zuschauer dabei, schreibt Thomas Sowell. Und diese Erfolge wurden gegen die Feindseligkeit und den sich gelegentlich in Pogromen entladenden Haß der Mehrheitsgesellschaft erreicht, gegen staatliche und soziale Diskriminierung!

Am Beispiel der Inder und Japaner läßt sich ebenfalls der positive Einfluß der mitgebrachten Kultur der Einwanderer zeigen, positiv auch für die Wirtschaft der Gastländer. In den USA übertraf 1969 das Familieneinkommen der japanischstämmigen Amerikaner den Landesdurchschnitt um 32 Prozent, 1990 waren es dann 45 Prozent. Damit gingen – wie bei den Chinesen – zunehmende Integration und gesellschaftliche Akzeptanz einher sowie eine wachsende Zahl von Mischehen. 1980 sprachen drei Viertel aller japanischen Amerikaner nur noch Englisch. In Kanada können die japanischen Einwanderer ähnliche Erfolge vorweisen – in beiden Fällen gegen anfangs erhebliche und dann durch den Weltkrieg noch gesteigerte antijapanische Ressentiments.

In Uganda machten die indischen Einwanderer kaum mehr als ein Prozent der Bevölkerung aus, waren aber für 35 bis 50 Prozent der nationalen Produktion verantwortlich. Ihre Vertreibung durch Idi Amin, 1972, war eine ökonomische Katastrophe. In Kenia waren und sind sie von vergleichbarer wirtschaftlicher Bedeutung. In beiden Ländern war ihr Durchschnittseinkommen um ein Mehrfaches höher als das der Afrikaner. Die Inder in Ostafrika waren wirtschaftlich auch erfolgreicher als die dortigen Europäer.

In der letzten seiner zahlreichen Reden zu Lob und Preis der Immigration erklärte der Generalsekretär der Vereinten Nationen, daß die Einwanderer nicht nur sich selbst, sondern auch den Einwanderungsländern genützt hätten: »zumindest in den besten Fällen«. In der Tat. Gibt es doch auch andere Fälle. Die Türken in Deutschland tragen nach Angaben des Zentrums für Türkeistudien 2,2 Prozent zum deutschen Bruttosozialprodukt bei, ihr Anteil an der Bevölkerung beträgt 2,6 Prozent. Das muß nicht heißen, daß sie dem Land nicht nützen – sie tun es nur weniger als andere Einwanderergruppen. Problematisch wird es ökonomisch betrachtet erst dann, wenn eine Einwanderergruppe mehr Kosten verursacht, als sie Nutzen bringt.

Wenn wie in England 61 Prozent der dort lebenden Bangladeschis und 40 Prozent der Pakistanis arbeitslos sind oder nicht am Arbeitsleben teilnehmen, kann man vermuten, daß dies der Fall ist. (Die durchschnittliche Arbeitslosigkeit unter den ethnischen Minoritäten beträgt 41 Prozent.) Mehr als vier Fünftel der Familieneinkommen der dortigen Pakistaner und Bangladeschis sind um mehr als die Hälfte niedriger als der nationale Durchschnitt. Das Einkommen der Inder dagegen liegt noch über dem der weißen Engländer. Übrigens hatten 48 Prozent der Pakistanis und 60 Prozent der Bangladeschis entweder keine Schulbildung oder eine auf dem niedrigsten Schulabschlußniveau. Ein Vergleich mit anderen Einwanderergruppen zeigt, daß die Muslime generell geringere schulische Leistungen aufweisen als andere Gruppen, vor allem die Chinesen und Inder. (Für die EU insgesamt gilt, daß 87 Prozent der Einwanderer eine schlechte oder gar keine Schulausbildung vorweisen können; die »bildungsfernsten« Einwanderer finden sich in Deutschland.)

Die Beschäftigungsquote in Schweden beträgt 74 Prozent. Aber bei den türkischen Immigranten sind es nur 42 Prozent, 31 bei den Libanesen, bei den Irakern 21 und den Somalis 12 Prozent. Das heißt 58 Prozent der Türken und 88 Prozent der Somalis stehen in keinem vertraglich geregelten Arbeitsverhältnis. Sicherlich nicht die von Kofi Annan beschworenen »besten Fälle«. Der durchschnittliche Pro-Kopf-Beitrag der Immigranten in Dänemark, von denen 80 Prozent aus islamischen Ländern stammen, zu Steuern und Bruttosozialprodukt liegt 41 Prozent unter dem der Dänen.

In den USA finden sich deutliche Unterschiede im wirtschaftlichen Erfolg verschiedener Einwanderergruppen: Setzt man auf der Grundlage der Zahlen von 1970 den US-Durchschnitt mit 100 an, dann ergeben sich für die japanischen Amerikaner 132, die chinesischen 112, die mexikanischen Amerikaner aber nur 76. 1999 lebten 22,8 Prozent der lateinamerikanischen Immigranten in Armut – gegenüber 7,7 Prozent der weißen Amerikaner. Ob die mexikanischen Immigranten den Staat mehr kosten, als sie ihm an Steuern zukommen lassen, ist umstritten. Lawrence Harrison faßt die Ergebnisse so zusammen: »Das Steueraufkommen der meisten Immigranten deckt nicht die Kosten für die von ihnen in Anspruch genommenen Leistungen, vor allem dann nicht, wenn man den Ausbildungsbereich berücksichtigt.« Der abnehmenden beruflichen Qualifikation der Einwanderer entspreche eine zunehmende Inanspruchnahme des Sozialstaats. Wie im Fall der muslimischen Immigranten in Europa weisen die mexikanischen Einwanderer unterdurchschnittliche Schulbildung und schulische Leistungen auf. »Schule und Universität standen nie im Mittelpunkt der Ziele und Werte der mexikanischen Amerikaner«, heißt es bei Sowell.

Die geringen wirtschaftlichen oder Integrationserfolge mancher Einwanderergruppen werden häufig auf deren Diskriminierung zurückgeführt: auf die Xenophobie, die Vorurteile, den Rassismus der Gastgesellschaft. All das hat es gegeben, gibt es noch und sollte es nicht geben, gegenüber niemandem, woher er auch kommt. Aber eine negative Einstellung der Gastgesellschaft kann keine hinreichende Erklärung für den mangelnden Erfolg sein, weil sie sich im Fall der Erfolgreichen ebenso, ja oft als noch stärker negativ nachweisen läßt. Erfolg und Mißerfolg der Einwanderer hängt weniger davon ab, wie man auf sie im Gastland reagiert, sondern davon, wie sie auf das neue Land reagieren, wie sie dort agieren. Und das hängt wesentlich von ihrer Kultur ab. Rassismus und Diskriminierung bieten also, wie das Beispiel der Chinesen und Japaner und Juden zeigt, keinen überzeugenden Grund für den wirtschaftlichen Mißerfolg von Immigrantengruppen – es sei denn in extremen Fällen staatlichen Zwangs bis hin zur Vertreibung.

Die Geschichte hat in Jahrhunderten weltweiter Migration gleichsam ein Experiment durchgeführt, um den Beweis dafür zu liefern, daß Menschen gleicher Kultur in ganz unterschiedlichen Ländern ähnlich erfolgreich waren und daß Menschen unterschiedlicher Kulturen in demselben Land, unter denselben äußeren Bedingungen und bei gleichen wirtschaftlichen Voraussetzungen nicht gleich reagieren und reüssieren. Was sie mitbrachten, waren nicht das Klima und die geographische Beschaffenheit ihrer Herkunftsländer noch deren Politik und Wirtschaftssystem, sondern ihre Kultur.

Bei einer Podiumsdiskussion Anfang Juni 2006 über Einwanderung und Integration erklärte Innenminister Schäuble, wir müßten uns klarmachen, daß Migration in erster Linie nicht Bedrohung, sondern Bereicherung sei. Das Annansche »zumindest in den besten Fällen« ließ er aus. Nach dem Zweiten Weltkrieg, fuhr Schäuble fort, habe man ja auch die aus dem Osten geflohenen Neubürger erfolgreich integriert. Es stellt schon eine haarsträubende Naivität dar, anzunehmen, daß die aus den Ostgebieten geflohenen oder vertriebenen Deutschen – also Menschen derselben Nation, derselben Sprache, Kultur, Religion mit den gleichen Ausbildungsvoraussetzungen und beruflichen Fähigkeiten – kein geringeres Integrationsproblem darstellten als Menschen, auf die all das nicht zutrifft. »Farbenblindheit« im Umgang mit Menschen im allgemeinen und Immigranten im besonderen ist sicher eine Tugend, »Kulturblindheit« ist es nicht.

Die Mehrzahl der in Deutschland lebenden außereuropäischen Einwanderer sind Muslime, kommen aus der islamischen Welt und teilen einige der für diese Kulturen spezifischen Merkmale. Hinzu kommt, daß die meisten von ihnen nicht der Mittel-, sondern der Unterschicht entstammen, speziell der konservativen ländlichen Unterschicht. An ihrem Beispiel sollen einige der kulturellen Faktoren aufgezeigt werden, die wirtschaftlichen und Integrationserfolg oder Mißerfolg beeinflussen können.(2)

Zu den Schlüsselindikatoren für gelingende Integration gehören Mischehen (das gilt natürlich für die Einwanderer wie die sie aufnehmende Gesellschaft). Im Fall der Muslime stehen dem nun einige Faktoren entgegen: Zunächst erlaubt der Islam nur den muslimischen Männern, eine nichtmuslimische Partnerin zu heiraten; den Musliminnen ist die Heirat mit einem Nichtmuslim untersagt. Damit ist ein Großteil der Immigranten von dieser Form der Integration ausgeschlossen. Gewiß werden sich nicht alle an dieses Gebot halten, aber nicht nur der religiöse, sondern auch der familiäre Druck weist in diese Richtung. Die konservativen Muslime erwarten, daß die Frau zu Hause bleibt und keiner anderen Arbeit als der Hausarbeit nachgeht. Damit ist die Beschäftigungsquote der Muslime von vornherein reduziert, auch wenn es viele Ausnahmen gibt. Das bedeutet aber auch ein geringeres Familieneinkommen: Das Familieneinkommen der Chinesen in den USA war unter anderem deshalb so überdurchschnittlich hoch, weil die Frauen meist berufstätig waren. Mit der Begrenzung auf das eigene Heim ist den Frauen zugleich einer der wichtigsten Integrationsorte versperrt: der deutsche Arbeitsplatz. Die Erziehung der Kinder erfolgt traditionellerweise durch die Frau, je geringer die Integration der Frau, desto geringer sind gemeinhin die Integrationschancen der Kinder.

Die Überwachung und Kontrolle der Frauen als Träger der Ehre des Mannes und der Familie, die inferiore Stellung der Frau im Islam und den islamischen Kulturen differieren erheblich von der in Deutschland geltenden Rolle der Frau. Daraus können sich Friktionen ergeben, sowohl was die Geltung deutschen Rechts und den Schulunterricht anbelangt, wie auch Friktionen, was das Verhältnis der Muslime zu den auf Gleichberechtigung pochenden deutschen Frauen anbelangt: am Arbeitsplatz, als Vorgesetzte, in der Freizeit – und was das Verhältnis zu den deutschen Männern anbelangt, die als ehrlos verachtet werden können, weil sie es an der gebotenen Ungleichbehandlung und Kontrolle der Frau fehlen lassen.

Eine vom kulturellen Hintergrund nahegelegte Haltung ist auch die Verachtung der Deutschen als schweinefleischessender und alkoholtrinkender, sexuell haltloser Ungläubiger. Das gilt auch für die Abscheu vor der Unreinheit der Ungläubigen; ein extremes, aber nicht untypisches Beispiel dafür sind die für Muslime und Nichtmuslime getrennten Waschbecken in einer französischen Schule oder die Forderung, getrennte Umkleideräume für muslimische und nichtmuslimische Jungen einzurichten; oder die Weigerung, zur Begrüßung die Hände zu schütteln oder überhaupt zu grüßen oder irgendeinen näheren Umgang mit Ungläubigen zu haben.

Daß Muslime und nichtmuslimische Deutsche gleichberechtigt sein sollen, kollidiert mit einem der Grundprinzipien des Islam: Der Islam herrscht, er wird nicht beherrscht. »Überall dort, wo Muslime leben, beansprucht der Islam unbedingte Geltung für sich«, heißt es bei Bassam Tibi. In den islamischen Ländern war es Tradition, daß die Ungläubigen einzig in der Rolle unterworfener Schutzbefohlener geduldet werden, nicht als Gleiche. Ein Nichtmuslim sollte niemals einem Muslim Befehle erteilen dürfen.

Einen entscheidenden negativen Faktor bei der Integration – und weiterhin im wirtschaftlichen Handeln – bedeutet der Familiarismus der konservativen muslimischen Einwanderer: Das Wohl der Familie und der Nutzen für die Familie sind die obersten Werte, denen sich alle anderen gesellschaftlichen Werte, Gesetze und Regeln unterzuordnen haben. Das fördert Nepotismus, Korruption und generell die Mißachtung der meritokratischen Prinzipien und der egalitären Gesetze, wie sie die Mehrheitsgesellschaft vertritt.

Die Gesetze und die Polizei des Aufnahmelandes werden nicht als gemeinsamer Schutz aller gesehen, sondern als Eingriffe und Übergriffe von außen. Familiarismus schafft so eine Doppelmoral, isoliert sozial und verhindert das für Integration wie Wirtschaftsaktivitäten wichtige Vertrauen. Wenn Vertrauen nicht über den Rand der Familie oder Sippe hinausreicht, wird Kooperation mit anderen erschwert. Mißtrauen und Verschwörungsdenken dominieren im Verhältnis nach außen. Ökonomisches Handeln ist zu einem wesentlichen Teil Kooperieren mit familienfremden anderen, und je mehr ich diesen Fremden vertraue und vertrauen kann, desto reibungsloser und erfolgreicher wird mein ökonomisches Handeln sein. Kulturen wie die islamischen oder lateinamerikanischen, in denen, aus welchen Gründen auch immer, der Radius des Vertrauens sehr gering ist, sind wirtschaftlich benachteiligt.(3)Zugleich ist der Familiarismus die Primärform des antiindividualistischen Kollektivismus. Individualismus aber ist eines der bestimmenden Prinzipien moderner westlicher Gesellschaften.

Ein weiterer entscheidender kultureller Faktor ist die Lernbereitschaft einer Kultur, ihre Rezeptivität anderen Kulturen gegenüber. Die traditionelle islamische Gesellschaft versteht sich als die beste aller Gemeinschaften, sie hat von anderen Kulturen nichts mehr zu lernen. Diese kulturelle Arroganz stellt ein wichtiges Integrationshindernis dar und hat auch negative wirtschaftliche Folgen. Zwar haben auch die traditionellen muslimischen Familien oft eine positive Einstellung zu Schule und Lernen, aber dabei geht es um die orthodoxen, approbierten Inhalte, die die eigene Kultur und Religion vermitteln und bestätigen, geht es um den Koran, die Prophetenworte und um islamische Gelehrtheit, um die ruhmreiche arabische oder türkische Geschichte.

Das bietet das deutsche Schulsystem aber nicht, sondern es fördert eigenständiges kritisches Denken, »Hinterfragen«, innovative Kreativität. Die in der deutschen Schule erfolgreichen muslimischen Kinder, Mädchen vor allem, stellen so eher eine Bedrohung der Kohäsion der Familie dar, eine Bedrohung der Autorität und Kontrollmacht des Patriarchen. Der anhaltende schulische Mißerfolg türkischer und arabischer Kinder in Deutschland kann allein durch die Mängel des deutschen Bildungssystems nicht ausreichend erklärt werden: Andere Immigrantengruppen, zum Beispiel die Vietnamesen, sind viel erfolgreicher. Die Armut unter den Immigranten nehme deutlich zu, wird Anfang des Jahres berichtet. »Vor allem Bürger aus der Türkei seien häufig arm . . . 23 Prozent der Zuwanderer lebten 2003 in Armut«, der Bundesdurchschnitt lag 2003 bei 13,5 Prozent. Laut Datenreport des Integrationsbeauftragten sind 37,9 Prozent der Ausländer in Berlin arbeitslos, gegenüber 17,4 Prozent der Deutschen. Fast 15 Prozent der Ausländer über 65 Jahre beziehen Sozialhilfe, aber nur 1,5 Prozent der Deutschen. 12,2 Pro- zent der ausländischen Schüler machen Abitur, aber 33,4 Prozent der deutschen.

Man kann das Problem der unterschiedlichen Eignung von Kulturen für wirtschaftliche Entwicklung und Integration vielleicht dadurch entdramatisieren, daß man auf ein analoges Verhältnis verweist: das der Sprachen zueinander. Auch wenn wir davon ausgehen, daß alle Sprachen gleichwertig und ihren Zwecken angemessen sind, ist doch auch wahr, daß es für das Erlernen einer bestimmten Sprache unterschiedlich günstige Ausgangssprachen gibt: Der deutsche oder holländische Muttersprachler hat es unendlich viel leichter, Englisch zu lernen, als ein Chinese oder Thailänder, eben weil Chinesisch oder Thai sich vom Englischen so viel mehr unterscheiden als das Deutsche oder Holländische. Will ich also Englisch lernen oder Chinesisch, werde ich die spezifischen Probleme, die sich dafür aus meiner Muttersprache ergeben, beachten müssen. Analog gibt es Kulturen, die den angestrebten Zielen wirtschaftliche Entwicklung oder Integration näher oder ferner stehen, die die Erreichung dieser Ziele schwieriger machen.

Die These, daß Kultur ein wichtiger Faktor bei der Integration von Einwanderern ist, bei ihrem wirtschaftlichen Erfolg oder Mißerfolg und bei der wirtschaftlichen wie politischen Entwicklung der Nationen, scheint ein plausibler und empirisch ausreichend belegter Gedanke zu sein. Wie kommt es, daß der Kulturalismus – so wird diese These von ihren Gegnern genannt – einerseits so lange vernachlässigt wurde und andererseits so polemisch kritisiert wird? Uwe Simson: »Erstaunlich ist jedenfalls, wie lange die auf der Hand liegende Erkenntnis, daß die Verschiedenheit der Kulturen sich auch auf ihre wirtschaftliche >performance< erstreckt, von Ideologen bestritten beziehungsweise außer acht gelassen werden konnte.«

Nach dem Zweiten Weltkrieg dominierten hier zwei Denkweisen: der Kulturrelativismus und die universalistischen Wirtschaftswissenschaften. Die Grundlage für den Kulturrelativismus bildet der Grundsatz: »Alle Kulturen sind von gleichem Wert und erfüllen im großen und ganzen überall dieselben Aufgaben.« Dies war seit dem Zweiten Weltkrieg das dominierende Paradigma, das auch offiziell – zum Beispiel durch die Unesco – gefördert wurde. Kultur löste Klima und Rasse als Erklärungsmuster für die Unterschiede unter den Völkern ab, aber unter der Bedingung der Gleichwertigkeit aller Kulturen, woraus dann notwendig zu folgen schien, daß alle Kulturen auch allen wichtigen Zielen gleichermaßen gut dienen konnten – also etwa Zielen wie der Abschaffung des Hungers, dem Schutz vor Krankheiten und willkürlicher Gewalt, kurzum: den in der Uno-Menschenrechtserklärung festgehaltenen Postulaten.

Die Kulturanthropologie oder Ethnologie wurde zur Leitwissenschaft dieses Paradigmas, und wie ein Botaniker keine nützlichen oder schädlichen Pflanzen kennt, so waren auch die Kulturen vor Gott und den Ethnologen alle gleich: gleichen Werts. Aber während es der Agrarwissenschaft gestattet war, aus ihrer Nutzenperspektive heraus Pflanzen als nützlich oder schädlich einzustufen, war es im Bereich der Kulturen nicht möglich, pragmatisch nach deren größerer oder geringerer Eignung für wirtschaftliche Entwicklung oder Menschenrechte zu fragen. Zu sehr schien das der kolonialistischen und rassistischen Verachtung fremder Kulturen zu ähneln. Und wenn alle Kulturen gleichwertig und gleichermaßen funktional sind, ist es unsinnig, in der jeweiligen Kultur eine Erklärung für unterschiedliche wirtschaftliche Entwicklung zu suchen.

Die Ethnologie vertrat einen Kulturrelativismus, den man eigentlich besser einen Kulturabsolutismus nennen sollte, da er die Kulturen voneinander isolierte und in ihrem Geltungsanspruch verabsolutierte. Wahr und falsch, gut und schlecht, schön und häßlich, reich und arm, krank und gesund – alles war relativ zur Kultur einer Gesellschaft und nur innerhalb ihrer selbst zu beurteilen, nicht nach allgemeinen, universalen Maßstäben, die es für die Kulturrelativisten prinzipiell nicht geben konnte.

Das Spannungsverhältnis zwischen Kulturrelativismus und allgemeinen, universalen Werten und Rechten war schon früh zutage getreten, etwa in der Opposition gegen die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte der Vereinten Nationen 1948 von seiten der Amerikanischen Anthropologischen Gesellschaft, und zwar mit der Begründung, damit zwinge der Westen der übrigen Welt seine Werte auf. Offenbar funktionierten die verschiedenen Kulturen im Hinblick auf die allgemeinen Menschenrechte nicht gleich, sondern verschieden. Dieses Problem aber wurde lange nicht weiter beachtet oder diskutiert, man ging von einer prinzipiellen Vereinbarkeit der relativistischen und der universalistischen Position aus. Bewahrung und Schutz von Kulturen war konsequenterweise das zentrale Anliegen der Kulturrelativisten und Multikulturalisten, nicht Veränderung. Mit der konservierenden Einstellung gegenüber fremden Kulturen ging oft deren romantische Verklärung einher, eine westliche Tradition, die seit etwa dreihundert Jahren existiert. Westliche Wunschphantasien der von gesellschaftlichen Zwängen freien, nichtmaterialistischen, sinnenfrohen, im Einklang mit der Natur lebenden glücklichen fremden Kulturen erschwerten zusätzlich eine realistische Einschätzung anderer Kulturen (und der eigenen noch dazu).

Dagegen entstanden dann ab den neunziger Jahren Forschungsprojekte und wissenschaftliche Werke, die Zweifel weckten an der vorausgesetzten funktionalen Gleichheit und Gleichwertigkeit aller Kulturen – offenbar gab es Kulturen, die menschliche Grundbedürfnisse wie Nahrung, Gesundheit, Sicherheit vor willkürlicher Gewalt, Schutz des Eigentums besser befriedigten als andere, gab es Sick Societies, kranke Gesellschaften, um den provozierenden Titel des grundlegenden Werks des Ethnologen Robert B. Edgerton zu zitieren. Ein anderer Autor, der Wirtschaftshistoriker David Landes, sprach gar im Hinblick auf wirtschaftliche Entwicklung von »toxischen« Kulturen. Im Unterschied zur Ethnologie und Kulturanthropologie waren in den Sozialwissenschaften kulturalistische Ansätze bewahrt und weiterentwickelt worden. Das lag an dem langen Schatten Max Webers und seines Hauptwerks, Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus, das man als die Gründungsurkunde des wissenschaftlichen Kulturalismus betrachten kann.

Das zweite gegen den Kulturalismus wirkende Paradigma waren die modernen Wirtschaftswissenschaften. Dort hatten sich in den sechziger Jahren die sogenannten Formalisten durchgesetzt: Die Methoden der Wirtschaftswissenschaften sind ihnen zufolge kulturell neutral und universell gültig. Zugrunde liegt das auf alle Menschen zutreffende Modell des Homo oeconomicus (beziehungsweise der Rational Choice Theory), der nutzenmaximierend und kostenminimierend auf die gleichen wirtschaftlichen Anreize überall wesentlich gleich reagiert. So schreibt der Wirtschaftswissenschaftler William Easterly in seiner Kritik des Kulturalisten Lawrence E. Harrison, es spreche doch sehr viel für die Ansicht, »daß die Menschen überall gleich sind und auf die richtigen ökonomischen Gelegenheiten und Anreize reagieren werden«. Die Ökonomen bestritten nicht, daß der Mensch mehr ist als nur Homo oeconomicus, aber das spielte für die Wirtschaft keine Rolle. Wirtschaftliche Fragen waren mit dem Instrumentarium der Wirtschaftswissenschaften lösbar – wie denn sonst?

Die These vom Einfluß der Kultur auf das wirtschaftliche Handeln ist für diese Ökonomen zu wenig auf präzise Ursache-Wirkung-Verhältnisse hin überprüfbar, also nicht den statistisch-mathematischen und strengen empirischen Verfahren zugänglich, die vielen als Grundlage ihrer Wissenschaft gilt. (Das löbliche Beharren auf wissenschaftlichen Standards wird aber dann fragwürdig, wenn es die Behandlung relevanter zum Gegenstand gehörender Fragen blockiert. Es gibt unterschiedliche Grade der Wissenschaftlichkeit, nicht nur die Alternative zwischen wissenschaftlich und unwissenschaftlich, und es ist vernünftiger, eine wichtige Frage mit dem zur Verfügung stehenden Grade von Wissenschaftlichkeit anzugehen, als sie zu ignorieren oder die Antworten der Beliebigkeit anheimzugeben.) Das Nicht-Wirtschaftliche taucht nur negativ, als Hindernis der Wirtschaft auf – läßt man die Wirtschaft nur in Ruhe, werden alle prosperieren. Wirtschaftliches Wachstum wird als das Normale unterstellt, erklärungsbedürftig ist nur der Mißerfolg eines Landes. Der wird in der Regel als Resultat politischen Eingreifens in den Wirtschaftsprozeß gesehen.

Sei es, weil die Realität selber den beiden genannten Theorien zunehmend widersprach, sei es, weil man sich der von jeher bestehenden Widersprüche zunehmend bewußt wurde, spätestens mit den neunziger Jahren wurden kulturalistische Positionen immer häufiger vorgetragen, diskutiert und auch akzeptiert, und man sprach bereits von einer »kulturalistischen Wende«. Lawrence E. Harrison veröffentlichte 1985 sein bahnbrechendes Werk Underdevelopment Is a State of Mind; Harrison ist Entwicklungsexperte und begann als jugendlicher Idealist bei Kennedys »Allianz für den Fortschritt« in Lateinamerika. Es waren seine jahrzehntelangen Erfahrungen in der Entwicklungsarbeit und Entwicklungspolitik, die ihn eher widerwillig zu seinen kulturalistischen Positionen getrieben haben. Mit Who Prospers? versuchte er 1992 zu klären, welche Auswirkungen kulturelle Werte auf wirtschaftliche und politische Entwicklung haben. Im Jahre 2000 gab er dann zusammen mit Samuel P. Huntington den programmatischen Band Culture Matters heraus, der auch ins Deutsche übersetzt worden ist.(4) 2006 veröffentlichte er The Central Liberal Truth, worin er untersucht, wie Politik eine Kultur positiv verändern kann.

1997 hielt der Wirtschaftshistoriker Peter Temin vor der amerikanischen Gesellschaft der Wirtschaftshistoriker die Rede »Ist es koscher, über Kultur zu reden?«, und er bejahte die Frage: Es war koscher! 1998 erschien David Landes’ Wohlstand und Armut der Nationen, worin der Wirtschaftshistoriker eine entschieden kulturalistische Haltung einnahm. Von Landes stammt auch die kulturalistische Parole »Max Weber hatte recht«. Ein anderer bedeutender Wirtschaftshistoriker – wirtschaftshistorische Kenntnisse scheinen kulturalistische Positionen zu befördern –, hat vor kurzem eine sorgfältig abwägende Untersuchung und reservierte Unterstützung des Kulturalismus in der Ökonomie veröffentlicht.(5) Unbedingt genannt werden muß hier auch der amerikanische Wirtschaftswissenschaftler und Wirtschaftshistoriker Thomas Sowell, der in zahlreichen Werken den kulturalistischen Ansatz anhand einer Fülle von Datenmaterial demonstrierte.(6) Leider ist bislang keines seiner Werke ins Deutsche übersetzt worden.

Wenn wir Kulturen daraufhin untersuchen, wieweit sie Wohlstand und Wohlergehen der Menschen, Freiheit und Menschenrechte fördern oder hemmen, so können wir deutliche Unterschiede zwischen den Kulturen feststellen und sie unter diesem Aspekt bewerten. Ja wir müssen es tun, wenn wir an Veränderungen zum Besseren interessiert sind. Diese Veränderungen zum Besseren können von außen zwar »gefordert und gefördert« werden, im wesentlichen jedoch können sie nur von den betreffenden Kulturen selber geleistet, können nicht von außen auferlegt oder gar erzwungen werden.

Anmerkungen
1.
Uwe Simson, Kultur und Entwicklung. Zürich: Argonaut 1998.

2.
»Die Schwierigkeiten, die westliche, stark säkularisierte Gesellschaften wie die deutsche mit der Integration von Migranten haben, sind vor allem mit dem Islam respektive mit Menschen, die von ihm geprägt worden sind, verbunden – und umgekehrt. Warum soll man das verschweigen?« Wolfgang Günter Lerch in der FAZ vom 17. Juli 2006.

3.
Daten des World Value Survey zufolge lehnen 90 Prozent der irakischen Araber die Nachbarschaft von Fremden ab – bei den Schweden oder Kanadiern sind es 5 Prozent.

4.
Samuel P. Huntington / Lawrence E. Harrison (Hrsg.), Streit um Werte. Wie Kulturen den Fortschritt prägen. München: Goldmann 2004.

5.
Eric L. Jones, Cultures Merging. A Historical and Economic Critique of Culture. Princeton: Princeton University Press 2006.

6.
Wichtig ist vor allem Thomas Sowells Trilogie Race and Culture (1994), Migrations and Cultures (1996) und Conquests and Cultures (1998), alle bei Basic Books in New York.

© Merkur, Nr. 691, November 2006

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