Dienstag, März 24, 2009

NZZ: Leben in der Steuerwüste (Deutschland)

NZZ Online
21. März 2009, Leben in der «Steuerwüste»
Endloses Ringen zwischen Fiskus und Bürgern in Deutschland
Ist die Schweiz eine Steueroase, so müsste wohl Deutschland als Steuerwüste angesehen werden.

Die Attacken des deutschen Finanzministers Steinbrück auf die Schweiz lenken den Blick unwillkürlich auf die «Steuerwüste» Deutschland. Hohe Belastungen führen zu Leistungsverweigerung, Schattenwirtschaft, Abwanderung sowie scharfen Kontrollen durchs Finanzamt.


Von unseren Wirtschaftskorrespondenten Peter Rásonyi und Christoph Eisenring

NZZ Online
21. März 2009, Leben in der «Steuerwüste»
Endloses Ringen zwischen Fiskus und Bürgern in Deutschland
Ist die Schweiz eine Steueroase, so müsste wohl Deutschland als Steuerwüste angesehen werden.

Die Attacken des deutschen Finanzministers Steinbrück auf die Schweiz lenken den Blick unwillkürlich auf die «Steuerwüste» Deutschland. Hohe Belastungen führen zu Leistungsverweigerung, Schattenwirtschaft, Abwanderung sowie scharfen Kontrollen durchs Finanzamt.

Von unseren Wirtschaftskorrespondenten Peter Rásonyi und Christoph Eisenring

pra. Berlin, 20. März

Die kraftmeierischen Sprüche des deutschen Finanzministers Peer Steinbrück über Peitschen, Indianer und die Kavallerie haben in der Schweiz die Gemüter erhitzt und auch in Berlin Kritik ausgelöst. Der FDP-Vorsitzende Guido Westerwelle bezeichnete am Donnerstag im Bundestag den undiplomatischen Umgang des Finanzministers mit dem kleinen Nachbarland als Unverschämtheit und erklärte, für den normalen Bürger sei in der Regel weniger die Steueroase als vielmehr die Wüste drum herum das Problem. Damit sprach der Oppositionspolitiker an, was von kaum jemandem bezweifelt wird: Das komplizierte deutsche Steuersystem gilt als Standortnachteil und Ärgernis für Bürger und Unternehmen.

«1000 legale Steuertricks»

Von der verbreiteten Unzufriedenheit zeugen viele Beobachtungen. Wer beispielsweise in einer Grossbuchhandlung in Berlin die Abteilung für Wirtschaftsbücher aufsucht, stösst auf eine riesige Auslage mit Steuerberatungsliteratur. Auf mindestens fünf Quadratmetern Verkaufsfläche werden 25 verschiedene, dicke Bücher und 10 elektronische Programme angeboten mit Titeln wie «1000 ganz legale Steuertricks», «Steueroasen 2009», «Steuer-Spar-Erklärung» oder schlicht «Sparbuch». Das Interesse an Steuertipps ist offenkundig gross. Das liegt zum einen an der Unbarmherzigkeit des Steuer- und Abgabensystems, das schon von einem durchschnittlichen Arbeitseinkommen weniger als die Hälfte für den Bürger übrig lässt.

Zum andern ist das permanent vom Gesetzgeber modifizierte System so kompliziert und undurchsichtig – allein die Aufzählung der von Ende 2005 bis Ende 2008 erlassenen Steuergesetz-Änderungen umfasst 16 Seiten –, dass Abzugsmöglichkeiten und Schlupflöcher ohne fachkundige Unterstützung kaum zu finden sind. Dabei ist auch das Finanzamt keine grosse Hilfe. Zwar sind die Beamten zu Auskünften verpflichtet, doch sind sie in der Regel ziemlich einsilbig und dürfen dafür auch noch eine Gebühr von mindestens 100 € je Stunde verlangen.

Angesichts dieser Widrigkeiten war die öffentliche Resonanz gross, als der damals führende Finanzpolitiker der CDU, Friedrich Merz, vor fünf Jahren das Projekt der «Bierdeckel-Steuer» popularisierte: ein Steuersystem, das so einfach sei, dass die Steuererklärung auf einem Bierdeckel angefertigt werden könne. Der Bierdeckel blieb indes im Wirtshaus, für die Steuererklärung eines Arbeitnehmer-Haushalts müssen immer noch gut und gerne 20 Seiten abgegeben werden, und Merz hat sich längst frustriert von seinen politischen Spitzenämtern zurückgezogen. Trotz ihrer Machtfülle in beiden Parlamentskammern hat sich die Koalition von SPD und Union nicht an eine Reform der Einkommenssteuer gewagt.

Optimieren, Abtauchen, Auswandern

Die Hoffnung auf den grossen Befreiungsschlag ist mittlerweile verflogen. Die Bürger konzentrieren sich stattdessen aufs Jammern, Optimieren, Abtauchen oder Ausreisen. Die erste Option ist weit verbreitet, aber nicht sehr einträglich, die zweite anspruchsvoll, weil dafür dicke, trockene Wälzer gelesen oder teure Steuerberater beschäftigt werden müssen. Der häufigste Ausweg ist das Abtauchen in die Schattenwirtschaft. Die häusliche Schwarzarbeit für Putzkräfte, Kinderbetreuung, in wachsendem Masse auch für die Altenpflege, ist ganz normal. Auch in der gewerblichen Wirtschaft ist sie weit verbreitet. Mit einem Umfang, der auf 14,7% des Bruttoinlandprodukts geschätzt wird, liegt die Schattenwirtschaft Deutschlands etwa im Mittelfeld der Industrieländer, damit ist sie aber fast doppelt so hoch wie in der Schweiz.

Der letzte Schritt, die Auswanderung, nimmt von Jahr zu Jahr zu, auch wenn ein Wanderungssaldo deutscher Bürger von 54 000 Personen bei einer Bevölkerung von 82 Mio. Einwohnern noch nicht dramatisch ist. Eines der beliebtesten Ziele ist die Schweiz, die vom Zuzug gut ausgebildeter Arbeitskräfte – gut die Hälfte sind Akademiker – und guter Steuerzahler profitiert.

Die gesamte Belastung durch Steuern und Abgaben ist in Deutschland zwar gemäss Daten der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) gar nicht besonders hoch; der Anteil am Bruttoinlandprodukt lag 2006 mit 35,7% sogar leicht unter dem OECD-Durchschnitt. Aber bei der Belastung der Arbeitseinkommen durch Steuern und Abgaben gehört Deutschland zu den absoluten Spitzenreitern. Mit 52,2% vom durchschnittlichen Arbeitsentgelt (inkl. Arbeitgeberbeitrag) war die Abgabenlast 2006 nach Belgien und Ungarn am dritthöchsten von allen westlichen Industrieländern. In der Schweiz waren es 29,6%, wobei allerdings in Deutschland auch Krankenkassenbeiträge im Umfang von rund 15% des Einkommens enthalten sind.

Geringe Arbeitsanreize

Selbst ein halber Durchschnittslohn wird in Deutschland noch mit der enorm hohen Quote von 45% belastet; im Hochsteuerland Frankreich sind es lediglich 30%. Die starke Grenzbelastung kleiner und mittlerer Einkommen folgt aus der Kombination von hohen Sozialabgaben (rund 40% inkl. Arbeitgeber) und einer ungewöhnlich steilen Steuerprogression. Abgesehen von der nicht sehr bedeutsamen Reichensteuer (ab 250 000 €) greift der Spitzensatz von 42% (plus 2,31% Solidaritätszuschlag) schon ab einem durchaus mittelständischen Jahreseinkommen von 52 552 €. Zudem nimmt die Progression im unteren Einkommensbereich wegen des sogenannten Mittelstandsbauchs im Steuertarif extrem steil zu (vgl. Grafik). Das führt dazu, dass Mehrarbeit oder Zusatzanstrengungen unattraktiv erscheinen können, die Arbeitsanreize sind gering.

Dabei wirkt der Sozialstaat durchaus mächtig. Die Umverteilung der Markteinkommen durch Einkommenssteuer und Sozialversicherungen erfolgt in der erwünschten Weise. Die untersten 30% (nach Einkommen) der Haushalte kassieren, die oberen 50% finanzieren, und zwar mit steigendem Einkommen immer mehr, wie eine Untersuchung des Instituts der deutschen Wirtschaft von 2007 zeigt (vgl. Grafiken). Bei der Steuer ist die Umverteilung gar noch deutlicher; die untersten knapp 50% der Einkommen zahlen laut dem Finanzministerium gar keine Einkommenssteuer, die obersten 10% erbringen die Hälfte des Aufkommens.

Viele Ökonomen fordern mit Blick auf Arbeitsanreize und Wachstum, dass der sogenannte Mittelstandsbauch im Steuertarif dringend abgetragen wird. Doch wie die Steuerausfälle kompensieren? Die oberen Einkommen tragen ohnehin schon die Hauptlast, bei den unteren ist kaum etwas zu holen, weil dann Sozialgeldbezug und Schwarzarbeit lukrativer sein könnten. Steuersenkungen auf Pump sind auch keine gute Lösung, nachdem Deutschland in der Finanzkrise wieder tief in die alte Schuldenwirtschaft gestürzt ist. Und da die grosse Mehrheit der Deutschen einen starken Staat wünscht, der sich um alle möglichen Lebens- und Arbeitsbereiche regulierend, finanzierend, absichernd und umverteilend kümmert, ist auch eine Reduktion der Staatsausgaben nicht zu erwarten. Es zeichnen sich deshalb für die nächsten Jahre kaum nennenswerte Entlastungen ab, abgesehen von einer vom Bundesverfassungsgericht geforderten stärkeren Abzugsfähigkeit der Krankenkassenbeiträge ab 2010.

Gleichheit und Kontrolle

Vieles spricht dafür, dass die Mehrheit der Bevölkerung die gegenwärtigen Belastungen akzeptiert hat, teils aus Gewöhnung und Resignation, teils aus der Überzeugung, dass ein starker und fürsorglicher Staat ausreichend finanziert werden muss. Wenn die Lasten schon so hoch sind, ist es aber vielen Bürgern ein fundamentales Bedürfnis, dass jeder seinen Teil mitträgt. Hier liegt vieles im Argen. Das Vertrauen der Bürger in die Gerechtigkeit des Steuersystems ist trotz den statistisch nachgewiesenen hohen Umverteilungseffekten gering. Zwar ist die Steuermoral gemäss einer Untersuchung des Instituts für Angewandte Wirtschaftsforschung Tübingen von 2005 ähnlich hoch wie in vielen anderen westeuropäischen Staaten (aber viel niedriger als in der Schweiz), doch die Erwartung, dass die «anderen» Steuerzahler sich nicht korrekt verhalten, ist in Deutschland mit Dänemark und Österreich am höchsten.

Das dürfte viel mit dem durch ständige Lobbyarbeit immer dichter werdenden Gestrüpp des Steuersystems zu tun haben. Auf der einen Seite spürt die grosse Mehrheit der Arbeitnehmer die unerbittliche Hand des Fiskus: Die Einkommenssteuer wird monatlich direkt vom Lohn abgezogen, Sparzinsen werden gleich auf der Bank besteuert, selbst kleinste Vorteile am Arbeitsplatz wie ein etwas grösseres Geburtstagsgeschenk oder ein etwas üppigeres Weihnachtsessen müssen auf komplizierten Formularen vermerkt und voll versteuert werden.

Auf der anderen Seite schwelt stetig der Verdacht, dass die «anderen», die «Reichen», die «Privilegierten», sich Vorteile verschaffen und die schwere Last der Staatsfinanzierung nicht gebührend mittragen. Der im letzten Jahr durch den Kauf gestohlener Kundendaten aus der liechtensteinischen Bankgruppe LGT aufgeflogene Fall Zumwinkel hatte deshalb eine enorme politische Bedeutung, weil er in geradezu idealtypischer Weise das Vorurteil zu bestätigen schien, wonach «die Reichen» sich der gerechten Besteuerung durch Tricks – in diesem Fall die Nutzung der «Steueroase» Liechtenstein – entziehen. Da half es auch nichts, dass der frühere Postchef den überwiegenden Teil seiner Einkünfte stets korrekt versteuert hatte.

Der Fiskus blickt ins Bankkonto

Eine gleichmässige Besteuerung erfordert im Kontext der Unübersichtlichkeit und des permanenten Verdachts scharfe Kontrollen. Deshalb akzeptiert die Mehrheit der Bevölkerung bereitwillig die ausufernden Kompetenzen des Fiskus, selbst wenn er tief in die Privatsphäre eindringt. Obschon der Datenschutz in anderen Bereichen, etwa im Kampf gegen Terrorismus oder am Arbeitsplatz, vehement verteidigt wird, überlässt man dem Fiskus klaglos Einblick in alle möglichen Lebensbereiche, auch in das Bankkonto (vgl. untenstehenden Artikel).

Das Bedürfnis nach «gerechter» Besteuerung überwiegt. Deswegen kann sich Finanzminister Steinbrück sicher sein, dass seine rüden Attacken auf benachbarte «Steueroasen» wie Liechtenstein und die Schweiz zwar nicht im Stil, aber in der Sache die Zustimmung breiter Bevölkerungskreise finden. Es würde deshalb nicht erstaunen, wenn die Blockade bald fallen würde, welche die CDU derzeit noch gegen einen von Steinbrück im Januar vorgelegten Gesetzesentwurf mit Sanktionen gegen «Steueroasen» wie die Schweiz aufrechterhält.

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