Sonntag, März 15, 2009

Tages Anzeiger: Wolfgang Sofsky - Amok, der Rausch absoluter Macht

Tages Anzeiger 13.03.2009
Amok, der Rausch absoluter Macht
Von Wolfgang Sofsky.
Wie wird einer zum Amokläufer? Gibt es ein Standardprofil des Täters? Sind Massaker zu verhindern? Wolfgang Sofsky, der bekannte Soziologe, hat Antworten.


Der Göttinger Soziologe und Publizist Wolfgang Sofsky (1952) schreibt über Krieg und Gewalt und das Spannungsverhältnis zwischen Freiheit und Sicherheit. Zu seinen Publikationen gehören «Zeiten des Schreckens – Amok Terror Krieg» (2008), «Das Prinzip Sicherheit» (2005) oder «Verteidigung des Privaten» (2007).

Tages Anzeiger 13.03.2009
Amok, der Rausch absoluter Macht
Von Wolfgang Sofsky.
Wie wird einer zum Amokläufer? Gibt es ein Standardprofil des Täters? Sind Massaker zu verhindern? Wolfgang Sofsky, der bekannte Soziologe, hat Antworten.

Der Göttinger Soziologe und Publizist Wolfgang Sofsky (1952) schreibt über Krieg und Gewalt und das Spannungsverhältnis zwischen Freiheit und Sicherheit. Zu seinen Publikationen gehören «Zeiten des Schreckens – Amok Terror Krieg» (2008), «Das Prinzip Sicherheit» (2005) oder «Verteidigung des Privaten» (2007).

Ein Jugendlicher schlüpft in einen Kampfanzug, stürmt mit der Beretta seines Vaters in seine frühere Schule und exekutiert mit gezielten Kopfschüssen neun Schüler und drei Lehrerinnen. Auf der Flucht schiesst er drei Passanten nieder, bevor ihn die Polizei in die Enge treibt und er sich schliesslich selbst tötet. Wenige Stunden davor hatte in Geneva County im Südosten Alabamas ein 30-jähriger Mann sein Elternhaus in Brand gesteckt, alle Angehörigen erschossen und auf der Flucht eine Familie niedergemäht, die auf ihrer Veranda sass. Nach einem Feuergefecht mit der Polizei rettete er sich in ein nahes Gebäude und tötete sich selbst.

Treuherziges Wunschdenken

Die beiden jüngsten Amoktaten lösen - wie immer - Entsetzen, Ratlosigkeit und prompte Versuche der Selbstberuhigung aus. Ohne Vorzeichen bricht der Amok in den Alltag ein. Von einer Minute zur anderen herrscht das Chaos. Sofort rätselt man über Gründe und Ursachen. Doch können Gemütszustände, die in einer Gesellschaft gang und gäbe sind, unmöglich die Einzigartigkeit der Untat erklären. Die Zahl der Frustrierten, Gemobbten oder Depressiven, der Waffennarren, Killerspieler oder Weltverächter, der Behörden-, Schul-, oder Familiengeschädigten geht in die Millionen. Amoktäter indes sind eine rare Spezies - ohne besondere Eigenschaften.

Es gibt kein Standardprofil des Amoktäters. Keineswegs kommt er aus der schlechten Gesellschaft der Irren, Kran-ken und Erfolglosen. Manche sind Aussenseiter, andere dagegen sozial integriert. Auch einen Standardtatort sucht man vergebens. Amokläufe finden nicht nur in Schulen statt, sondern auch in Restaurants, Bürogebäuden, Universitäten, Einkaufszentren, Parlamenten.

Dennoch erfindet man aus einer Handvoll Merkmale sofort eine sinnhafte Geschichte. Besonders bewährt hat sich die Umkehrung ins Gegenteil, wonach der Mörder ein Opfer misslicher Umstände gewesen sein müsse, ein eingeschüchterter Einzelgänger mit einer verborgenen Zweitidentität des Lebensmüden und Missachteten. Als sei der Amok nur eine Reaktion ohne eigenes Zutun. Wie viele Menschen sind schwermütig und denken nicht im Traum daran, auch nur den Arm zu heben? Indem man jedoch den Täter zum Opfer umtauft, bewahrt man sein empfindsames Weltbild samt der Illusion, etwas ausrichten zu können. Die Idee, mit Schulreformen, Waffenkontrollen, Medienzensur oder psychologischer Dauerbeihilfe liesse sich auch nur ein einziges Massaker vereiteln, ist nichts als treuherziges Wunschdenken. Amokläufe konfrontieren die Gesellschaft mit ihrer Ohnmacht. Die Zerstörungskraft des Individuums ist nahezu unbegrenzt.

Kein spontaner Ausbruch

Die Tatmotive sind meist von bestürzender Banalität. Berufliche Niederlagen, verschmähte Liebe, enttäuschter Gel-tungsdrang, Neidanfälle oder simpler Alltagsärger können Menschen so in Rage versetzen, dass sie die Barriere überspringen. Ein ablehnender Bescheid, ein falsches Wort, ein verächtlicher Blick - und der innere Sprengsatz zündet. Um die Verhältnismässigkeit der Mittel kümmert sich der Amok nie. Immer übertrifft die Tat Anlass und Grund. Am 20. Dezember 1995 zog in einem New Yorker Schuhgeschäft ein junger Mann die Pistole, weil ihm die Schuhe zu teuer waren und die Verkäuferin nicht mit sich handeln liess. Fünf Tote waren das Ergebnis dieses Unmutsanfalls. Weil ihm ein Kredit verweigert worden war, erschoss am 30. Juli 2002 ein Angestellter des Bildungsministeriums in Beirut neun Kollegen. Mit einer Kalaschnikow und zwei Pistolen eröffnete er in den Büros das Feuer. Als ihm die Munition ausging, lief er die Treppe hinunter, zündete sich eine Zigarette an und mischte sich unter die Passanten.

Trotz seiner Seltenheit kennt der Amok wiederkehrende Elemente. Meist geht dem Massaker eine innere Verwandlung voraus. Die Inkubationszeit kann Monate, Tage oder auch nur Stunden währen. Der Amok ist kein spontaner Ausbruch. Der Täter bewaffnet sich und zieht sich in seine Innenwelt zurück, sitzt stumm in seiner Kammer, auf der Parkbank oder der Zuschauertribüne und brütet vor sich hin. Die Imagination künftiger Omnipotenz will ausgekostet werden. Die beiden Halbwüchsigen, die am 20. April 1999 in Littleton zwölf Mitschüler und einen Lehrer regelrecht exekutierten, nahmen sich für die Vorlust ein ganzes Jahr Zeit. In den Wochen vor dem Überfall drehten sie in den Kellern ihrer Elternhäuser fünf Videofilme, um sich ihren Tag des Jüngsten Gerichts auszumalen. In der Abgeschiedenheit überkommen den Mörder Fantasien der Vernichtung. Die Bilder verdichten sich zu einer fixen Idee, die sich einbohrt ins Gehirn. Im Freiraum der Fantasie gilt kein Tabu und keine Zensur. Die Gedanken überspringen alle Barrieren. Wer den Amok verhindern will, der müsste nicht nur jedem auffälligen und unauffälligen Zeitgenossen einen Bewacher zur Seite stellen, sondern ihm auch die Vorstellungskraft aus dem Hirn brennen.

Ekstatischer Tanz der Vernichtung

Kurz vor der Tat behelfen sich manche Täter noch mit einer äusseren Metamorphose. Der Amokschütze von Erfurt streifte sich auf der Schultoilette das schwarze Kostüm japanischer Ninja-Krieger über und zog sich eine Sturmmaske übers Gesicht. Im Augenblick der Verwandlung wurde er nicht nur anders, er wurde ein anderer. Die Maskerade diente ihm nicht zur Tarnung, sondern zur Entgrenzung seiner selbst. Sie verlieh ihm die Macht zu namenlosem Schrecken.

Vollendet ist die Verwandlung jedoch erst in der physischen Aktion. Erst die Tat bringt den Amoktäter hervor. Nach dem ersten Mord öffnet sich die Wüstenei absoluter Freiheit. Plötzlich ist der Täter Herr über Leben und Tod. Nichts steht ihm mehr im Wege. Mit ungeahnter «Selbstsicherheit», ja Souveränität bewegt er sich. Was von aussen wie blinde Vernichtungswut aussieht, ist in Wahrheit ein Zustand absoluter Geistesgegenwart. Der Mörder ist hellwach. Mancher streckt mit zügiger Gelassenheit ein Opfer nach dem anderen nieder, andere feuern begeistert um sich. Über 60 Patronen soll der Schütze von Winnenden verpulvert haben. Der Amok ist ein ekstatischer Tanz der Vernichtung. Der Bewegungsrausch entfesselt Energien, von denen der Täter nicht einmal ahnte, dass er sie hat.

Der erste Schuss öffnet dem Zufall Tür und Tor

Häufig beginnen Amokläufe mit Racheakten gegen verhasste Verwandte, Nebenbuhler oder Kollegen. Doch öffnet der erste Schuss dem Zufall Tür und Tor. Vom tödlichen Familiendrama unterscheidet sich der Amok durch seine Wahllosigkeit. Der Zorn eskaliert zur Wut. Sie nimmt auch Fremde ins Visier, die zufällig am falschen Ort sind. Der Täter macht keinen Unterschied. Von den Opfern will er nichts. Ihr Tod ist völlig sinnlos. Was den Täter treibt, ist der Rausch absoluter Macht. Er tötet allein um des Tötens willen. Im Triumph befreit er sich von sich selbst. Indem er ganz eins mit sich selbst wird, verliert er sich selbst.

Der Amok ist kein erweiterter Selbstmord. Nicht Verzweiflung, sondern Wut lenkt die Tat. Im Zustand des Exzesses verfolgt niemand Suizidpläne. Manche haben zwar ihr Leben satt, andere jedoch halten sich alle Optionen offen. Dass manche Sturmläufe mit dem Tod des Mörders enden, liegt auch nicht an einem plötzlichen Anflug von Reue. Amokläufer sind nicht ihre eigenen Henker. Sie sterben bei der Rückkehr aus dem anderen Zustand, wenn sie von der Normalität wieder eingeholt werden. (Tages-Anzeiger)

Erstellt: 13.03.2009, 08:25 Uhr

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