Samstag, März 14, 2009

Tages Anzeiger - «Wir würden eine feudale Oberschicht erhalten»

Tages Anzeiger
«Wir würden eine feudale Oberschicht erhalten»
Von Timm Eugster. 11.03.2009

Mit Hans Kissling, einst Zürcher Kantonsstatistiker, hat die Linke einen Verbündeten im Kampf für eine nationale Erbschaftssteuer. Im Interview mit Tagesanzeiger.ch/Newsnetz argumentiert er jedoch auf liberaler Linie.

Herr Kissling, Sie fordern eine nationale Erbschaftssteuer ab einer Million Franken – wie SP-Fraktionschefin Ursula Wyss. Hat sie bei Ihnen abgeschrieben?

Sie hat mein Buch gelesen und ist offenbar zur Überzeugung gelangt, dass eine Million Franken pro Erbe eine vernünftige Grenze ist, ab der man eine nationale Erbschaftssteuer einführen sollte. Die Zahl ist nicht zufällig: So werden normale Einfamilienhausbesitzer nicht tangiert. 97 Prozent der Erben würden nicht behelligt.


Tages Anzeiger
«Wir würden eine feudale Oberschicht erhalten»
Von Timm Eugster. 11.03.2009

Mit Hans Kissling, einst Zürcher Kantonsstatistiker, hat die Linke einen Verbündeten im Kampf für eine nationale Erbschaftssteuer. Im Interview mit Tagesanzeiger.ch/Newsnetz argumentiert er jedoch auf liberaler Linie.

Herr Kissling, Sie fordern eine nationale Erbschaftssteuer ab einer Million Franken – wie SP-Fraktionschefin Ursula Wyss. Hat sie bei Ihnen abgeschrieben?
Sie hat mein Buch gelesen und ist offenbar zur Überzeugung gelangt, dass eine Million Franken pro Erbe eine vernünftige Grenze ist, ab der man eine nationale Erbschaftssteuer einführen sollte. Die Zahl ist nicht zufällig: So werden normale Einfamilienhausbesitzer nicht tangiert. 97 Prozent der Erben würden nicht behelligt.

Wie sind Sie eigentlich dazu gekommen, als pensionierter Zürcher Kantonsstatistiker ein Buch mit dem Titel «Reichtum ohne Leistung» zu schreiben und für eine nationale Erbschaftssteuer zu kämpfen?
Zürich ist einer der wenigen Kantone mit einer sehr detaillierten Steuerstatistik. Wir haben regelmässig nachweisen können, wie stark die Ungleichheit bei der Vermögensverteilung seit 1991 gestiegen ist – doch zu meinem Ärger hat sich niemand dafür interessiert. Dies, obwohl die Schweiz international spitze ist punkto Ungleichheit. Innerhalb der Schweiz dürfte Zürich im Durchschnitt liegen, während die Vermögen in Basel-Stadt noch etwas ungleicher verteilt sind. Am krassesten ist die Situation in Steueroasen wie Nidwalden, Zug oder Schwyz. Nach meiner Pensionierung habe ich mich daran gemacht, die Zahlen so aufzubereiten, dass sie einfach zu verstehen sind – und auf einmal war das Echo gross.

Was erregt am meisten Aufsehen?
Dass die drei reichsten Zürcher gleich viel Vermögen besitzen wie 56 Prozent der Bevölkerung. Oder dass das reichste Prozent der Zürcher Bevölkerung ihre Vermögen zwischen 1991 und 2003 um ganze 70 Prozent steigern konnte.

Mit der Finanzkrise sind jetzt wohl auch die Reichen nicht mehr so reich.
Der Börsenindex SMI war 2003 auf der gleichen Höhe wie jetzt wieder. Das heisst, meine Zahlen sind erst jetzt wieder topaktuell geworden – dazwischen sind die Reichen noch wesentlich vermögender gewesen.

Sie haben berechnet, dass in den kommenden 30 Jahren 1,5 Billionen Franken weitervererbt werden. Wie kann man sich das konkret vorstellen?
1,5 Billionen sind 1,5 Millionen Millionen. Jetzt werden die ganz grossen Vermögen vererbt, die in der Schweiz seit den 1970er-Jahren gebildet worden sind. Dazu ein anschauliches Beispiel aus Zürich: Ein 97-Jähriger hat acht Milliarden Franken und zwei rund 50-jährige Söhne. Sie werden bald je vier Milliarden erben oder haben einen Teil bereits in Form von Schenkungen erhalten . Mit ihrem Erbe könnten beide Söhne sämtliche Einfamilienhäuser und Wohnungen in Appenzell Innerrhoden kaufen. Das meine ich, wenn ich von einer Feudalisierung spreche: Solche geerbten Vermögen sind vergleichbar mit jenen mittelalterlicher Fürsten.

Das Beispiel ist nicht sehr real. Wo sehen Sie die wirklichen Gefahren?
Eine steigende Ungleichheit bremst das Wirtschaftswachstum: Wenn vor allem die Reichen von einem zunehmenden Bruttosozialprodukt profitieren, bleibt unten und in der Mitte der Gesellschaft weniger – und das sind die Schichten, die mit ihrem Konsum die Wirtschaft ankurbeln.

Sie warnen auch vor Gefahren für die Demokratie.
Hätte 1992 nicht ein Milliardär und Politiker von der Zürcher Goldküste Millionen investiert, um den Beitritt der Schweiz zum EWR mit seiner Kampagne zu verhindern, wäre das knappe Resultat wohl auf die andere Seite gekippt und wir wären heute im EWR. Ein aktuelleres Beispiel stammt aus der Stadt Zürich: Ein reicher Erbe der Firma Merck wollte von der Stadt ein Grundstück an bester Lage in der Altstadt für seine 500-Quadratmeter-Villa samt Hallenbad. Die Bevölkerung wehrte sich, es kam zur Abstimmung: Da liess der Millionenerbe die Stadt mit Plakaten zupflastern, wie ökologisch seine Villa doch sei, und der Stadtrat warnte vor der Abwanderung eines guten Steuerzahlers – und so siegte er schliesslich in der Abstimmung knapp. Solche Beispiele werden uns zunehmend blühen, wenn wir es zulassen, dass wir eine feudale Oberschicht erhalten.

Die Demokratie kann Schranken setzen.
Mit dem Vorstoss von Ursula Wyss bietet sich tatsächlich eine der letzten Gelegenheiten, Gegensteuer zu geben. Wenn man jetzt die Erbschaftssteuer nicht durchbringt, ist das Thema wohl für Jahre vom Tisch.

Sie sind zum Kronzeugen der Linken geworden, die Reiche sowieso stärker besteuern wollen. Ist Ihnen wohl dabei?
Ich habe Verbündete bei den letzten echten Liberalen. Bei den Freisinnigen sind dies etwa alt Ständerätin Vreni Spoerry und der frühere Finanzminister Kaspar Villiger.

Die NZZ bezeichnet die Erbschaftssteuer als «klassenkämpferischen Angriff auf die bürgerliche Gesellschaft, die Familie und die Marktwirtschaft».
Klassenkämpferisch wäre, wenn man alle Reichen hoch besteuern würde. Ich habe nichts gegen die Reichen: Wenn einer im System einer fairen Marktwirtschaft so clever ist, dass er mit seiner Tätigkeit viel Geld verdient, soll er reich werden. Aber durch die massenhafte Vererbung grosser Vermögen verdienen nicht mehr jene am meisten, die am meisten leisten, sondern jene, die das Glück haben, viel zu erben. Diese Entwicklung ist ein schlechtes Signal an alle, die arbeiten in diesem Land. Ich habe damit viel mehr Mühe als mit den 40 Millionen, die Daniel Vasella verdient.

Trotzdem: Sie fordern neue Steuern.
Mit dem Ertrag einer nationalen Erbschaftssteuer könnten Bund und Kantone andere Steuern senken oder aufheben. Jetzt in der Krise könnten aber auch Ausfälle bei den übrigen Steuereinnahmen kompensiert werden.

Familienunternehmen wären gefährdet: Die Erben müssten einen Teil verkaufen, um ihre Steuern bezahlen zu können.
Das ist ein Problem, das ich sehr ernst nehme. Aber es ist lösbar. Bei grossen Publikumsgesellschaften könnten die Erben ein paar Aktien verkaufen, ohne dass dies das Unternehmen berührt. Bei mittelgrossen Familienunternehmen könnte der Staat durch eine Treuhandfirma Aktien kaufen und wieder dem Markt zuführen. Die Firma wäre dann nicht mehr zu 100 Prozent im Besitz der Familie, aber sie bliebe in der Mehrheit. Und die kleinen KMU sind praktisch alle aus dem Schneider, wenn die Steuer erst bei hohen Erbschaften einsetzt. Sollte noch ein Problem bleiben, kann man wie in Deutschland die Steuer erlassen, wenn das vererbte KMU mindestens zehn Jahre lang weiterbetrieben wird. (Basler Zeitung)

Erstellt: 11.03.2009, 10:39 Uhr

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