Mittwoch, März 25, 2009

Tages Anzeiger Magazin: Binswanger - Calvins Untergang

Tages Anzeiger Magazin:
Daniel Binswanger: Calvins Untergang

Die Kapitalwirtschaft wurde in der Schweiz quasi erfunden. Doch unser Geschäftsmodell hat sich überlebt.
20.03.2009 von Daniel Binswanger

Noch ist nicht absehbar, welche Einbussen das Schweizer Privatbanking erleiden wird. Feststehen dürfte lediglich, dass vom Abfluss schwarzer Gelder eine Stadt ganz besonders betroffen ist: die Finanzmetropole Genf. Dass der traditionsreichste Schweizer Bankenstandort hilflos von der Entwicklung der Finanzkrise eingeholt wird, zeugt von der Ironie der Geschichte. Schliesslich wurden gerade in Genf die sozialethischen Grundlagen für das Funktionieren der modernen Wirtschaft geschaffen.
Das behauptet jedenfalls Max Weber, der Gründungsvater der deutschen Soziologie, der in seiner klassischen Studie «Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus» die These aufstellte, ......


Tages Anzeiger Magazin:
Daniel Binswanger: Calvins Untergang

Die Kapitalwirtschaft wurde in der Schweiz quasi erfunden. Doch unser Geschäftsmodell hat sich überlebt.
20.03.2009 von Daniel Binswanger

Noch ist nicht absehbar, welche Einbussen das Schweizer Privatbanking erleiden wird. Feststehen dürfte lediglich, dass vom Abfluss schwarzer Gelder eine Stadt ganz besonders betroffen ist: die Finanzmetropole Genf. Dass der traditionsreichste Schweizer Bankenstandort hilflos von der Entwicklung der Finanzkrise eingeholt wird, zeugt von der Ironie der Geschichte. Schliesslich wurden gerade in Genf die sozialethischen Grundlagen für das Funktionieren der modernen Wirtschaft geschaffen.
Das behauptet jedenfalls Max Weber, der Gründungsvater der deutschen Soziologie, der in seiner klassischen Studie «Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus» die These aufstellte, dass «protestantische Sekten» — und unter diesen ganz besonders der Genfer Reformator Calvin — die Geisteshaltung erst geschaffen haben, welche die Entstehung der modernen Wirtschaft ermöglicht. Die Historiker debattieren zwar darüber, wie weit der Einfluss der reformierten Theologie konkret gegangen sei, aber es bleibt unbestreitbar, dass Calvin eine elegante Lösung für zwei Grundwidersprüche der modernen Wirtschaftsordnung geboten hat.
Erstens funktioniert kapitalistische Wertschöpfung nur dann, wenn das Gewinnstreben der Marktteilnehmer ins Unendliche geht. Nur wenn die Superreichen um jeden Preis noch reicher werden wollen, werden sie ihre Milliarden produktiv investieren und den Wirtschaftskreislauf am Laufen halten — auch wenn sie niemals imstande sind, das zusätzlich eingenommene Geld je wieder auszugeben. Akkumulation als Selbstzweck ist der eherne Imperativ der heutigen Kapitalwirtschaft — bis hin zu seiner zerstörerischen Übersteigerung im Investmentbanking, wo eine Kapitalrendite von 25 Prozent als untere Benchmark betrachtet wurde.
Zweitens führt die moderne Konkurrenzwirtschaft unweigerlich zu Ungleichheit. Zwar haben die Entwicklung der modernen Arbeitsmärkte und die Umverteilung durch den Sozialstaat in der industrialisierten Welt dazu geführt, dass auch die untersten Einkommensschichten weitgehend für ihre Grundbedürfnisse aufkommen können. Die relativen Einkommensunterschiede haben sich aber verschärft. Die anonymen Marktkräfte erzeugen wenige Gewinner — und dafür die grossen Massen der Verlierer. Max Weber beschreibt deshalb die Industriegesellschaft als «Weltherrschaft der Unbrüderlichkeit».
Für beide Schwierigkeiten unserer Weltordnung liefert Calvins Gnadentheologie eine Rechtfertigung. Erstens, sagt Calvin, wird die göttliche Gnade nur einem engen Kreis von Auserwählten zuteil — mit Chancengleichheit, Leistungsbereitschaft oder sonst einem rationalen Kriterium hat sie gar nichts zu tun. Dass die grosse Masse der Menschheit der Verdammnis bescheidener Einkommen anheimfällt, ist schlicht eine theologische Notwendigkeit. Zweitens aber ist auch die Auserwähltheit des prosperierenden Christen niemals gesichert — ob er der Gnade teilhaftig wird, offenbart sich erst im Jenseits. Die Heilsungewissheit ist absolut. Deshalb kann der Erdenbürger sich nicht begnügen, reich zu sein, er muss immer noch begüterter werden, um seine Heilschancen wenigstens so weit als möglich zu erhöhen. Die Kapitalakkumulation dient nicht dem weltlichen Lustgewinn, sie ist eine Form der religiösen Askese. Nur aus dieser Perspektive macht es Sinn, mehr Geld aufzuhäufen, als man jemals hienieden verzehren könnte.
Auf solchen Grundlagen entwickelte sich das Berufsethos der modernen Wirtschaft. Die Theologie ist inzwischen irrelevant geworden — geblieben ist das Kapital. Geblieben sind der Zwang zur Akkumulation und die Weltherrschaft der Unbrüderlichkeit. Durch den Wegfall ihrer sittlichen Rechtfertigung haben sich beide in den letzten Jahrzehnten massiv verschärft.
Jetzt beklagt man plötzlich den Untergang der althelvetischen Bankier-Kultur, ihrer Diskretion und Bescheidenheit, in der noch ein Element von religiöser Askese erhalten blieb. Doch die alten Geldhäuser wurden verdrängt von den Glücksrittern des schnellen Geldes. Das Polo-Turnier hat den Gottesdienst ersetzt, der Lamborghini das Standesethos. Die Verweltlichung ist ein normaler historischer Prozess. Doch die Schweiz wird einen besonders hohen Preis dafür bezahlen. Das Geschäftsmodell der protestantischen Stammlande hat sich überlebt.

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